Von der Gleichheit zur Dummheit

Vergesst das Gerede um Pisa-Studien und chinesischen Erziehungswahn. Was wir brauchen, ist die Rückkehr zum Leistungsgedanken in den Schulen und Skepsis gegenüber pädagogischer Scharlatanerie. Ein Plädoyer für mehr Anstrengung, Fleiß und Disziplin in den Klassenzimmern

Das Volk der Dichter und Denker war einst auch ein Land der großen Pädagogen. Heute ist es eher ein Volk der pädagogischen Hitzewallungen. Eine x-beliebige Pisa-Studie, eine punktuelle OECD-Quotendiagnose oder das Buch einer stramm erziehenden sinoamerikanischen ?Tigermutter? reicht aus, um Politik, ?Bildungswissenschaften? sowie Medien in Aufregung zu versetzen. Maß und Mitte gibt es nicht mehr, es geht dann nur noch um angeblich grottenschlechte Testergebnisse, um angeblich zu wenig deutsche Abiturienten, angeblich zu viel oder zu wenig Leistungsdruck in den Bildungseinrichtungen. Garniert wird das Ganze in öffentlich-rechtlichen Kanälen von Talkrunden über ?Bildung?, durchaus besetzt mit Skandalrappern und Blödelentertainern. Braucht ein solches Land noch einen Pisa-Test? Nein, aber es braucht eine Besinnung auf das Prinzip Leistung. Die Deutschen haben hierzu ein mittlerweile reichlich schizophrenes Verhältnis. Lange Zeit galt der deutsche Michel als Inbegriff von Genauigkeit und Fleiß. Heute ist das anders. Während Sozialleistung, also kollektiv von anderen erbrachte Leistung, willkommen ist, geriet das Einfordern von Individualleistung unter den Generalverdacht des Sozialdarwinistischen. Leistung ? das sei Ellenbogengesellschaft. Schlimmer noch: Tugenden, zumal Sekundärtugenden, seien der Inbegriff des Faschistischen. So etwa Oskar Lafontaine 1982: ?Helmut Schmidt spricht von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. Das sind Sekundärtugenden, ganz präzise gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.? Sind die Deutschen deswegen heute in der Freizeit Hedonisten, in der Arbeitszeit Asketen? Es ist etwas dran. Der streitbare Soziologe Helmut Schoeck bekommt für seinen Buchtitel ?Die Arbeit tun die anderen? (1975) eine späte, jetzt obendrein global relevante Bestätigung. Hatte Schoeck mit den ?anderen? noch die Leistungsträger innerhalb der deutschen Gesellschaft gemeint, so müsste er heute anfügen: Die anderen, das sind immer häufiger die großen und kleinen Tiger im fernen Asien. So gesehen wären Pisa-Ergebnisse nicht nur Atteste für Schüler, sondern symptomatisch für jeweils eine ganze Nation. Die Diskreditierung von Leistung blieb in Deutschland gerade der Bildung nicht erspart. Wenn es hier um Leistung geht, wird es sehr, sehr ernst. Die Antifaschismuskeule ist dann immer in Reichweite. Beispiele? In einer ?Vorlage? entwirft eine SPD-Kommission 1986 ein Papier mit dem Titel ?Bildung in Freiheit, Gleichheit und Solidarität?. Darin heißt es: ?Wer Leistung fordert, muss ?nach Auschwitz? sagen, was er damit meint.? Diese Passage wird später gestrichen, aber erst mal steht sie da. Selbst der frühere Bundespräsident Roman Herzog blieb nicht verschont. Herzogs Plädoyer gegen schulische Kuschelecken und gegen eine Verbannung der Noten aus den Schulen (Berliner Rede von 1997) wusste ein Gewerkschaftsfunktionär wie folgt zu kommentieren: ?Hart wie Kruppstahl, flink wie Windhunde? Wir kennen diese Lektion.? Und auch nach der Jahrtausendwende ist der belastete und häufig bewusst deshalb verwendete Begriff ?Selektion? in aller progressiven Pädagogen Munde. Dabei sind derlei Antifasprüche nichts anderes als eine üble Instrumentalisierung millionenfachen Leides und Mordes in der NS-Zeit. Im Kern aber ist die Leistungsfeindlichkeit deutscher Pädagogik nicht nur das Ergebnis einer real oder vermeintlich notwendigen Reedukation, sondern auch einer Naturromantik. Der Vorläufer der Naturpädagogik war Rousseau, der sich angeblich den Leitspruch ?Zurück zur Natur? ausgedacht hat. In seinem Roman ?Émile? schleuderte er 1762 einen Bannstrahl gegen Kultur, Wissenschaft, Kunst und Literatur. Damit war der ?Edle Wilde? geboren und mit ihm die Antipädagogik. Dieser Rousseauismus wurde in Großbritannien im Jahr 1921 nahezu in Reinform mit der ?Summerhill?-Schule realisiert. Deren Begründer, Alexander Sutherland Neill, wurde in den siebziger und achtziger Jahren vor allem von deutschen ?Antipädagogen? nachgebetet: Erziehung sei ?Versklavung des Kindes?; die Schulpflicht sei nur ?wohlwollende Maske einer diktatorischen Grundeinstellung jungen Menschen gegenüber?. Derlei schier ekstatische Antipädagogik wirkt bis heute nach, sie übersieht freilich, dass sie trotzdem erzieherisch prägt. Denn man kann nicht nicht erziehen. Wer nämlich nicht erzieht, erzieht ein Kind zu einem orientierungs- und bindungslosen, mit seiner Pseudo-Autonomie überforderten Individuum. Fast alle Absolventen der Summerhill School sind im späteren Leben gescheitert. Für Sigmund Freud, den großen Erklärer des Triebhaften, bedeutet Enkulturation: Wo Es ist, muss Ich werden! Das heißt: Wo das Triebhafte und das Lustprinzip herrschen, müssen das Rationale und das Realitätsprinzip die Herrschaft übernehmen. In seiner Schrift ?Das Unbehagen in der Kultur? (1930) artikuliert Freud zwar das Unbehagen des Menschen an der Notwendigkeit des Triebaufschubs in der Kultur; zugleich aber wendet er sich gegen den Glauben, ?wir wären viel glücklicher, wenn wir sie (die Kultur) aufgeben und in primitive Verhältnisse zurückfinden würden?. Wichtig ist auch, dass die Psychoanalyse die Fähigkeit zum Triebverzicht und die Fähigkeit zur Sublimierung als Voraussetzung für jede kulturelle Leistung ansieht. All die (Anti-)Visionen der Antipädagogik wirken trotzdem weiter, weil wir heute zum Teil eine Erwachsenengeneration haben, die diese ?Pädagogik? erlebt hat. Es ist damit logisch, wenn der deutsche Nachwuchs-Michel in einer solchen Unkultur der Leistungsfeindlichkeit und des Lustprinzips nicht plötzlich wieder der personifizierte Fleiß sein will. In der Folge bekamen wir eine Erleichterungs- und Gefälligkeitspädagogik, die den globalen Mitbewerbern der Deutschen fremd ist, die sich vermutlich im stillen Kämmerlein die Hände reiben. Damit soll nicht suggeriert werden, dass wir uns im deutschen Erziehungs- und Bildungswesen einer Drill- und Dressurpädagogik chinesischer, japanischer, koreanischer Provenienz befleißigen sollten. Aber in typisch deutscher Radikalmanier, die das Attitüdenpendel stets ins Extreme ausschlagen lässt, ist man dem Leistungs- und Anstrengungsprinzip an den Kragen gegangen. Mittelbar finden die Diskriminierungen von Leistung jedenfalls in der politisch beziehungsweise administrativ verordneten Schulpraxis ihren Niederschlag ? mit der Egalisierung vermeintlich leichter und vermeintlich schwerer Schulfächer, mit der Abschaffung des Zählens von Fehlern in Prüfungsarbeiten, mit dem Verzicht auf Auswendiglernen und Kopfrechnen, mit der Abschaffung des Eignungsprinzips beim Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen, mit der Verwechslung von Studienberechtigung mit Studierbefähigung. Die bildungspolitische Schweigespirale hat solche Fakten nicht zum Gemeingut im öffentlichen Diskurs werden lassen und damit den Eindruck vermittelt, mit der Abschaffung etwa von Noten auch schlechte Schulleistungen abschaffen zu können. Dabei müsste doch der Naivste verstehen, dass man etwa Fieber nicht dadurch aus der Welt bannen kann, dass man Thermometer verbietet. Lesen Sie im zweiten Teil, warum Leistung zu den Grundfesten der Demokratie gehört, Ungleichheit gerecht sein kann und das Prinzip von Chancengleichheit falsch ist.

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