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Bernd Hartung

Inklusion - Politik mit dem Downbaby

Dagmar Schmidt ist Vollzeit-Politikerin, sitzt im SPD-Bundesvorstand und muss wie andere Frauen ihre Familie mit dem Beruf vereinbaren. Sie zog als erste Mutter eines Babys mit Downsyndrom in den Bundestag ein. Ein Jahr mit der Politikerin, die für Inklusion kämpft

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Als Dagmar Schmidt, frisch gewählt, im September 2013 den Bundestag betritt, die Broschüren und Steuerrechtsmäppchen für Neuparlamentarier entgegennimmt, da ist völlig unklar, was aus ihr werden wird. In welchem Ausschuss sie landet – unsicher. Ihr Büro – muss erst die FDP freiräumen. Ihr Schreibtisch – eine weiße Beistellkommode. Ihre politische Zukunft – vage.

Sie denkt an ihren Sohn Carl. Er ist sechs Monate alt. Das Chromosom 21 liegt bei ihm dreimal vor, er hat Trisomie 21, das Downsyndrom. Hinzu kommt, nicht ungewöhnlich für diesen Gendefekt, ein Herzfehler, er ist lebensgefährlich. An diesem Herbsttag in Berlin weiß Dagmar Schmidt nicht, ob ihr Sohn es schaffen wird.

Zwölf Monate später hat sie mehr erreicht, als viele andere Neulinge im Parlament in so kurzer Zeit erwarten können. Sie gehört dem Ausschuss für Arbeit und Soziales an, hier werden die Gründungsthemen der SPD verhandelt. Sie sitzt sogar im Bundesvorstand der Partei. Und Carls Zustand ist stabil, er ist jetzt anderthalb.

Passen ein Down-Kind und die Politik zusammen? Auch auf ihre wichtigste Frage hat Schmidt eine Antwort gefunden. Eine, die alle anderen löst: Das Down-Kind ist die Politik. Es ist ihr Antrieb, ihr Thema, auch ihr Vorteil. Ihr Sinn.

Politik aus existenziellen Erlebnissen
 

Dagmar Schmidt, 41 Jahre alt, ist Berufspolitikerin. Sie arbeitete sich von den Jusos nach oben. Neben dem Geschichtsstudium machte sie Parteiarbeit. Dann: Mitarbeiterin eines hessischen Landtagsabgeordneten, der SPD-Landesgeschäftsstelle, der Landtagsfraktion. Dann die Nominierung für die Bundestagswahl. Es ist die Art Laufbahn, die heute öfter vorkommt als früher. Aus ihr geht jener Typ von Politikern hervor, denen vorgeworfen wird, dass sie nur die Politik kennen, aber nicht das Leben. Über Dagmar Schmidt konnte man schon behaupten, dass ihre Erfahrungswelt eingeschränkt ist. Aber nun macht gerade sie Politik aus Erlebnissen heraus, teilweise aus existenziellen.

Das Paul-Löbe-Haus in Berlin, siebte Etage. Dagmar Schmidt hat ihr Büro in dem Bundestagsgebäude in ein halbes Kinderzimmer verwandelt. Im Obstkorb steht ein Glas Babybrei, an der Magnettafel hängt ein Foto von Carl. Auf dem Boden liegt ein Spielteppich, bedruckt mit Bäumen und Straßen. Daneben parken Holzautos und ein gelber Bagger. Sie hat den Teppich Mitte Dezember bei Ikea gekauft. Auch wenn das Spielzeug noch nichts für Carl ist: Auch Schmidts Mitarbeiter haben Kinder. Früher hat sie sich für die SPD mit dem Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf befasst, jetzt muss sie ihre Familie mit ihrem Beruf vereinbaren.

Sie engagiert eine Tagesmutter. Manchmal übernimmt ihre Mutter die Betreuung, manchmal Carls Vater, mit dem Schmidt aber nicht zusammenlebt. Einerseits hat es Dagmar Schmidt leichter als andere berufstätige Frauen: Als Abgeordnete kann sie sich ihre Arbeitszeit freier einteilen und sich Hilfe von außen finanziell leisten. Andererseits hat sie es schwerer: Als Mandatsträgerin hat sie, anders als reguläre Arbeitnehmerinnen, keinen Anspruch auf Elternzeit. Gewählt ist gewählt, einen Vertreter gibt es nicht. „Ich kann jeder Mutter nur empfehlen, Abgeordnete zu werden.“ Sie lässt den ironischen Satz eine Weile wirken. „Nee, Quatsch. Es ist anstrengend.“

Elternbedürfnisse als Botschaft
 

Die Erfahrung treibt sie an, etwas zu tun. Den Vorstoß der 32-Stunden-Woche, mit dem die Familienministerin Manuela Schwesig von der SPD die Union aufbringt, macht sich Dagmar Schmidt zu eigen. Eltern brauchen Flexibilität, sie erlebt das jetzt. Es ist ihre Botschaft geworden. In ihrem hessischen Wahlkreis Lahn-Dill hört sie sich die Sorgen von Kindergärtnerinnen an. Im März wird sie auch noch Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt Wetzlar, Trägerin vieler Kindertagesstätten.

Das Vereinbarkeitsthema trägt sie auch in die Fraktion, in der sie die eigenen Leute durchknetet. Mit einer Fraktionskollegin, die gerade einen Kugelbauch hat – die Kinderbeauftragte Susann Rüthrich – gründet sie Anfang April einen SPD-Gesprächskreis. Erst einmal geht es nur um Mandatsträger und Ehrenamtliche in der Politik. Schmidt sagt: „Wenn wir nicht einmal unseren eigenen Müttern und Vätern helfen können, wie sollen wir das dann für alle anderen tun?“

In den ersten Monaten im Bundestag liest Schmidt nicht nur die Unterlagen aus dem Sozialausschuss. Sie studiert Fachliteratur über die Behinderung ihres Sohnes, sie abonniert den Ohrenkuss, ein Magazin von Menschen mit Downsyndrom, das sich so nennt, weil das Gesagte nicht nur zum einen Ohr rein und zum anderen wieder rausgehen, sondern im Kopf bleiben soll.

Schmidt geht zu Runden mit Down-Eltern. Vorsorgeterminen, Frühförderung, Logopädie und Krankengymnastik. Sie ist eisern mit sich, sie will die Zeit ihrem Sohn schenken. Menschen mit Trisomie 21 brauchen für ihre Entwicklung Zeit. Bekommen sie diese, gelingt es später oft besser, sie vollständig teilhaben zu lassen: die Inklusion. 

Inklusion wird Schmidts zweites Thema. Bundesweit stoßen Schulen, die Inklusion ausprobieren möchten, auf Widerstand. Lehrer fühlen sich überfordert; Eltern fürchten, ihre Kinder könnten weniger lernen. Schmidt verlangt, auch über den Nutzen von Inklusion für nichtbehinderte Schüler nachzudenken: Im Umgang könnten diese viel von Menschen mit Behinderung lernen.

Im August steht sie in einer Halle der Dillenburger Werkstätten der „Lebenshilfe“. Es riecht nach Öl. Mit ihrer weißen Rüschenbluse und dem blauen Jackett wirkt die Abgeordnete etwas deplatziert. Der Werkstattleiter heißt Ralf Turk, ein zupackender Typ mit Brille und Halbglatze. Er vermittelt regelmäßig Mitarbeiter mit geistiger Behinderung an regionale Betriebe: ein Eckladen, eine Bäckerei, eine Landschaftsgärtnerei. Schmidt schreibt mit, Ralf Turk ist begeistert: Die SPD-Abgeordnete sei „eine Ausnahmeerscheinung“. Politiker würden kaum noch in seiner Werkstatt vorbeischauen, nicht mal im Wahlkampf.

Sie macht einen Praxistag. Das tun Politiker immer mal, sie wollen sich zeigen, sich im Leben der Menschen verorten, die sie besuchen. Bei Schmidt liegen die Dinge anders. Sie redet mit den Mitarbeitern, isst zu Mittag Hühnerfrikassee in der Kantine, sortiert Gabel und Messer in die Abwaschbehälter. Sie erzählt von Carl. Sie stellt die Frage nicht, die trotzdem im Raum steht: Wie wäre es, wenn ihr Sohn einmal hier arbeitet?

In den Werkstätten montieren Menschen mit überwiegend geistiger Behinderung Bauelemente für Industrieunternehmen. An normalen Tagen falzen sie rund 2000 dieser Teile, bis zu 25 Stunden in der Woche. Dafür erhalten sie durchschnittlich 230 Euro netto im Monat. Essen, Wohnung und Betreuung gibt es zusätzlich.

Schmidt ist das zu wenig: „Größere Anschaffungen oder mal ein Urlaub sind da nicht drin.“ Ralf Turk sagt: „Ich will nicht, dass mir dann die Hartz-IV-Empfänger hier die Scheibe einschlagen.“ – „Wer auf Menschen mit Behinderung auch noch neidisch ist, soll doch selbst ohne Helm Moped fahren und seine Gesundheit riskieren“, sagt Schmidt.

Carls Fuß als Klick-Hit


Bis zum Jahresende will das Arbeitsministerium ihrem Ausschuss einen Referentenentwurf zum Thema Inklusion vorlegen. Das sogenannte Bundesteilhabegesetz haben Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbart, bis 2017 soll es in Kraft treten.

Dagmar Schmidt findet nichts dabei, Carl zum Gegenstand ihrer Politik zu machen. „Der Blick erweitert sich und nimmt Einfluss auf die eigene Politik“, sagt sie. Sie habe dank Carl mit Dingen zu tun, mit denen sie sich sonst nicht beschäftigt hätte. „Und das ist gut.“

Wirkt sie dadurch authentischer, glaubwürdiger?

In jedem Fall zieht Betroffenheit Anteilnahme nach sich. Schmidt merkt das bei Facebook: „Wenn ich da poste: ‚Mindestlohn!‘, kriege ich so 15 Likes. Aber wenn ich auch nur ein Foto von Carls Fuß ins Netz stelle: ‚Like, Like, Like, Like, Like!‘, ‚toller Zeh‘, ‚süßer Fuß‘, da geht es ab!“

Erst als ihr Sohn im Mai 2013 geboren wurde, wusste sie, dass ihr Sohn ein Down-Kind ist und dass er ein schweres Herzleiden hat. Sie musste sich in eine Behinderung hineindenken. Sie musste immer wieder ins Krankenhaus. Am 21. Januar 2014 wurde Carl erstmals operiert, zehn Tage später ein zweites Mal. Schmidt harrte nachts an seinem Bett aus.

Ohne Spenden muss selbst gebastelt werden
 

An einem Dienstagnachmittag im Mai muss Carl zu einem Kontrolltermin in die Kinderkardiologie der Uniklinik Gießen. Es ist die Gelegenheit, auch ein politisches Thema zu besprechen, und zwar mit jenem Mann, dem Dagmar Schmidt vermutlich das Überleben ihres Sohnes zu verdanken hat: Dietmar Schranz. Der grau melierte Chefarzt der Kinderkardiologie hält einen sehr dünnen Schlauch in der Hand, einen Katheter. Sein Blick geht über den Brillenrand, man könnte ihn für einen Geschichtenonkel halten, nur der grüne OP-Anzug verhindert das.

Der Chirurg deutet auf das Ende des dünnen Kunststoffschlauchs, auf den kleinen Metallhaken. Zwei Millimeter sei der, halb so groß wie ein Haken für Erwachsene. Ideal für ein Kleinkindherz. „Doch das ist einer unserer letzten“, sagt Schranz.

Cordis, der US-Hersteller dieses Spezialkatheters, hat die Produktion eingestellt. Der Markt ist zu klein, es lohnt sich nicht. Schranz muss sich das Gerät, wie bereits viele andere, demnächst selbst basteln. Im Katheterlabor wird er es mit heißem Wasserdampf verbiegen und überschüssiges Material abschneiden. „Das gelingt nie perfekt“, sagt der Arzt.

Das Geld ist knapp. Nur mit privaten Spenden konnte sich die Abteilung einen Magnetresonanztomografen anschaffen.

Eine Kampagne für die Kindermedizin
 

Es fehlt vielen Kinderkliniken aber nicht nur Material, sondern auch Geld, sagt Schranz. In den Fallpauschalen der Krankenkassen sind nur die Kosten pro Eingriff enthalten, nicht aber die Kosten, die es etwa braucht, Spezialisten für Herzfehler, Krebs- oder seltene Stoffwechselerkrankungen und die Technik vorzuhalten. Um alles zu refinanzieren, bräuchte eine Klinik jährlich Tausende solcher Fälle. Die gibt es aber nicht – weshalb Kinderkliniken fast überall in den roten Zahlen stecken. Schranz kämpft mit Kinderärzten und Kinderchirurgen in ganz Deutschland für eine bessere Versorgung. „Rettet die Kinderstation“, heißt die Kampagne. „Wir geben zu Recht sehr viel Geld für die Geriatrie, also für alte Menschen aus. Aber jetzt sind die Kleinen dran“, sagt Schranz.

Dagmar Schmidt nickt. Sie schaut auf Carl, der gerade in einem Tragetuch vor ihrem Bauch schlummert. Auch er wurde mit dem besonderen Katheter operiert. Schranz, der Kinderkardiologe, hatte gemeinsam mit einem Kinderherzchirurgen ein Loch in Carls Herzscheidewand geschlossen.

Dagmar Schmidt versteht ihn, ermuntert ihn. Der Arzt hat ihren Sohn gerettet, jetzt will sie ihm helfen – und den anderen Kindern und Eltern. Kindermedizin gehört zu ihren Themen. Obwohl eine Reform der Fallpauschalen nicht auf der Agenda der Großen Koalition steht. Nicht dieses Jahr, nicht in dieser Legislaturperiode. Aber Schmidt hat ja gerade erst angefangen.

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