- „Ich geh da nur hin wegen der Bratwurst”
Auch am Tag der Deutschen Einheit wirkt die Gesellschaft gespalten. Aber verläuft der Riss wirklich entlang der ehemaligen Ost-West-Grenze, wie Medien und Politiker immer wieder suggerieren? Wir haben Menschen aus dem Osten gefragt. Ein Ortstermin in der Eckkneipe „Berliner Wappen“
Am 3. Oktober geht es um die Wurst. Richard, 73, sagt das so nüchtern, wie man das nach drei Bieren sagen kann. Er sagt, vielleicht gehe er an diesem Tag mal zum Brandenburger Tor, wo sie jedes Jahr mit viel Tam-Tam die Wiedervereinigung feiern. Es ist ein wichtiger Tag für Richard. Die Wiedervereinigung war für ihn ein Akt der Befreiung. Aber so würde er es nicht formulieren. Er sagt: „Ich gehe da hin wegen der Bratwurst .“
Man trifft den Ingenieur a.D. in seiner Stammkneipe. Sie steht dort, wo der Osten immer noch ein bisschen wie der Osten aussieht, den viele 30 Jahren nach dem Mauerfall nur noch aus Filmen kennen. Ein paar Schritte entfernt vom Alexanderplatz, Plattenbauten neben Plattenbauten. Und mittendrin das „Berliner Wappen“ – eine Eckkneipe, „einfach“, „urig“ und „nichts Überkandideltes“, so steht es auf Trip Advisor. Jedes Jahr im Oktober feiern sie hier eine DDR-Party, aber nicht am 3. Oktober – nein, vier Tage später, am „Tag der Republik“, am Tag, als die DDR gegründet wurde.
Hier will keiner die DDR zurück
Das sei ein Gag, kein echtes Bekenntnis zum Arbeiter-und-Bauernstaat, sagt Achim Wunsch, der Wirt, ein Schlaks, dem der Schalk im Nacken sitzt. Hier wolle keiner die DDR zurück. „Wir kokettieren nur gern mit unserer Vergangenheit.“ Wenn man Leute sucht, die die Frage beantworten können, ob es stimmt, wovor Medien warnen, dass nämlich der Osten und der Westen 30 Jahre nach dem Mauerfall auseinanderdriften, statt zusammenzuwachsen, dann trifft man sie hier, wo die Soljanka nur 3,50 Euro kostet und immer noch so schmeckt wie früher, als die Mauer noch stand, nur 100 Meter entfernt.
Richard, Vollbart, Hornbrille, hat eine klare Meinung zu dem Thema. Er kennt die Wahlergebnisse aus Brandenburg und Sachsen. Mehr als zwanzig Prozent für die AfD. Die Volksparteien im Sinkflug. Die Grünen im Höhenrausch. Er sagt, was viele sagen, die bei Achim einen Deckel haben – egal, ob sie aus nostalgischer Verbundenheit die Linke wählen oder die AfD aus Protest. „Das ist doch totaler Quatsch.“
Insolvenz? „Sowas passiert”
Richard wischt sich den Bierschaum vom Bart. Natürlich liefe nicht alles rund in diesem Land, das die meisten von ihnen bis 1989 oft nur aus dem West-Fernsehen kannten oder durch die „Care“-Pakete von Angehörigen. Richard wählt die CDU. „Was anderes kommt nicht in Frage.“ Doch von seiner Partei fühlt er sich im Stich gelassen. Die Kanzlerin? „Ist nur durch den Kohl hochgekommen und jetzt schon viel zu lange dran.“ Und der Rest? So schnell fällt Richard gar kein Name ein. Er sagt, er wisse nicht, wer wofür stehe. Die Köpfe seien austauschbar, die Inhalte auch. Das sei das Dilemma der Demokratie. Die Mauer, sie trenne jetzt nicht mehr Ost und West, sie trenne die Bürger von denen, die sie regierten. So sieht er das. Die Politiker sind fast so weit weg von den Menschen wie zu Ost-Zeiten.“
Christiane, seine Frau, nickt ihm zu. Sie sind seit 43 Jahren verheiratet. Sie haben die Kurve in die BRD gekriegt. Gemeinsam ging es besser. Sie hat als Angestellte im öffentlichen Dienst einfach nur den Arbeitgeber gewechselt. Er ist als Ingenieur in die Chefetage seines Betriebs aufgerückt. „Wenn man in der DDR nicht Parteimitglied war, blieb man nur Gruppenleiter.“ Dann wurde sein Konzern verkauft. Richard stand auf der Straße. Er machte sich selbständig. Dann die Insolvenz. Er zuckt mit den Schulten. „Sowas passiert.“
Zu alt, um englisch zu lernen
Andere in seiner Situation verbittern. Sie stellen ihre Verluste dem Staat in Rechnung. Richard sagt, er habe nie so gedacht. Zu jammern, das sei nicht seine Art. Aber dann seien 2015 die Flüchtlinge gekommen. Eine Welle der Solidarität sei ihnen entgegengeschwappt. Es gab Selfies mit der Kanzlerin. Und Richard ertappte sich dabei, dass ihn das wütend machte. Warum hatte der Staat für diese Menschen Geld übrig, aber keines für – er ringt nacht Worten – „für Odachlose?“. Klaus, 51, zwei Zentner Lebensfreude, der sich neben Richard auf die Bank fallen lässt, scheint seine Gedanken lesen zu können. Er sagt: „Wiedervereinigung, schön und gut. Aber was nützt dir die Reisefreiheit, wenn du es dir nicht mal leisten kannst, nach Mallorca zu fliegen?“
Richard schüttelt den Kopf. Ausgerechnet Klaus muss das sagen. Klaus, der schon in Mexiko oder in Kanada war und als Programmierer überhaupt genug verdient, um sich um Geld keine Sorgen machen zu müssen. Richard fliegt nicht in den Urlaub. Er sagt, er wandere lieber. Den ganzen Westen der Republik haben sie so kennengelernt. Gerade war er mit Christiane in Coburg. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Wunderbare Stadt“, schwärmt sie. Und so sauber. Berlin ist ihnen fremd geworden. So viele Menschen. So viele Nationalitäten. So viele fremde Sprachen. Die Mauer ist gefallen. Die Welt steht ihnen jetzt nicht nur offen. Sie kommt auch nach Berlin. Aber sie verstehen sie nicht. Richard sagt: „Ich bin zu alt, um Englisch zu lernen.“
Endich Meinungsfreiheit
„Achim, noch ein Wein und ein Bier.“ Richard winkt den Wirt heran. Der hat an diesem Dienstag mehr zu tun als sonst. Die Champions League hat begonnen. Der FC Bayern München spielt gegen Tottenham. Klaus streamt das Spiel im Internet. Dass er Fan der Bayern sei und nicht des im Osten Berlins so verehrten Clubs 1. FC Union, darf er schon lange laut sagen, ohne dafür gesteinigt zu werden. „Wir leben ja jetzt in einer entmilitarisierten Zone“, sagt er augenzwinkernd.
BFC Dynamo, Borussia Mönchengladbach, Herta BSC. Heute kann sich jeder seinen Lieblingsclub aussuchen. Er kann auch sagen, was er will. Richard findet, allein dafür habe sich die Wiedervereinigung gelohnt. „Man muss keine Angst mehr haben, was man sagt.“ Für einen wie ihn, der als Nicht-Parteimitglied in der DDR unter Generalverdacht stand, ein befreiendes Gefühl. Er sagt: „Meinungsfreiheit ist kostbar. Ich verstehe nicht, wie Menschen im Osten heute behaupten können, es gäbe sie gar nicht.“
Geld, Geld, Geld
Ihre Freiheit haben sie sich teuer erkauft. Das Geld. Es ist wichtig geworden in ihrem Leben. Aber hatten sie es nicht so gewollt? War das nicht der Grund, warum die Bürger 1989 das Land in Scharen verlassen hatten? „Wenn die D-Mark nicht zu uns kam, mussten wir eben zur D-Mark kommen“, sagt Klaus, der Sohn eines SED-Funktionärs, der heute immer noch die Linke wählt, obwohl ihre Vorläufer-Partei die DDR bankrott gewirtschaftet hat. Nein, es hätte keine Alternative zur Wiedervereinigung gegeben, sagt er. „Es hätte nur nicht so schnell gehen müssen.“ Im Osten, diese Zahl hat er gerade im Radio gehört, verdienen Menschen heute im Schnitt 16,9 Prozent weniger als im Westen. Klaus sagt, diese Zahl habe ihn wütend gemacht. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit."
Die Revolution, sie hat ihre eigenen Kinder gefressen. Achim Wunsch, der Wirt, könnte viele Geschichten über seine Stammgäste erzählen. Über die Wende und darüber, wie sie Biographien gebrochen hat. Viele seien plötzlich verschwunden, sagt er. Einige schickten irgendwann eine Postkarte. Sie hatten besser bezahlte Jobs in Österreich oder in der Schweiz gefunden. Von den anderen hörte er nie wieder etwas.
Bitte keine Honecker-Bilder
Geblieben sind die, die nicht nachrechnen müssten, ob sie sich das Eisbein mit Sauerkraut für 8,90 Euro leisten könnten. Menschen wie Richard und Christine oder Klaus. „Doch“, sagt Richard, während er das Portemonnaie zückt, „es geht uns gut.“ Besser als vielen anderen zumindest. Dass sie nicht repräsentativ für die „Ossis“ sind, ist ihm bewusst. Doch wer ist das eigentlich, der Ossi? Ist das nicht auch der Wessi, der nach der Wende in den Osten gezogen ist? Und was ist mit den Kindern, die nach 1989 geboren wurden?
Achim Wunsch rollt mit den Augen. Er sagt, wen interessiere denn heute noch, ob man dies- oder jenseits der Mauer aufgewachsen sei. Sie existiere heute nicht mehr – und falls doch, dann nur noch in den Köpfen von Menschen, die kein Interesse daran hätten, dass wieder zusammenwachse, was mal zusammengehört habe. Die daraus politisch Kapital schlagen.
Die Herkunft, sie spiele im „Berliner Wappen“ jedenfalls keine Rolle mehr. Nur am 7. Oktober, da vielleicht doch. „Du kommst doch auch zur DDR-Party?“, fragt er Richard. Der wird vor Schreck ganz blass. Er muss eine Weile überlegen. Dann sagt er: „Nur, wenn Du an diesem Tag nicht wieder diese schrecklichen Honecker-Bilder aufhängst.“
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Habe heute Morgen, am Tag der deutschen Einheit, beim Duschen die Nationalhymne gesungen, auf einem Bein stehend, ohne zu zittern. Qualifiziert mich das zum Bundeskanzler?
Ich habe mir diese Kneipe mal gegugelt. Eine eher rustikale Speisekarte, bodenständig. Sicherlich ist das Essen gut und das Bier "Hausmarke" ebenfalls; wer trinkt schon Warsteiner?
Verwunderlich ist jedoch: Rumpsteak mit Kräuterbutter, Gemüse und Pommes für 9,90 €!
Da fehlt wohl eine 1 oder gar 2 vor der 9, oder?
Frau Hildebrandt, ein guter Artikel. Bodenständige Menschen wie das Essen im "Berliner Wappen".
Ich habe schon ewig kein Spiegelei mehr gegessen; 4,90 € im Berliner Wappen; das ist OK!
Selbst is(s)t der Mann; statt Kochschinken eher roher Schinken und ganz viele Zwiebeln.
Sunny side up, sagt der Engländer.
Spontan eines noch.
"Strammer Max" ist auch im Angebot, 4,90 €.
Dazu ein oller Sketch mit Diether Krebs und Beatrice Richter. Sie ist eine leicht bekleidete Bedienung und der Gast Diether Krebs starrt auf ihren Ausschnitt und sagt: "Ich krieg nen strammen Max!" - Sie: "Dann kucken Sie doch woanners hin!"
Leider ist er viel zu früh gestorben.
"DDR-Party!"