- Ein Lied zum Geburtstag ist nicht peinlich
Kolumne Stadt, Land Flucht: Per Mertesacker wird für sein Gemuffel belobigt, ein Gratulant der Kanzlerin zum Buhmann der Nation. Der Ruf nach Authentizität ist in den Medien allgegenwärtig. Aber wer echte Gefühle zeigt, muss mit merkwürdigen Reaktionen der Öffentlichkeit rechnen
Weg aus der Hauptstadt, Umzug auf den Bauernhof. Harter Schnitt, ja. Schön auch, aber vermisst habe ich manchmal das Politikgeschehen in den vergangenen zwölf Monaten, das Näher-Dran-Sein an Entscheidungsträgern, die in Hintergrundgesprächen Dinge preis geben, von denen ich hier in meinem niedersächsischen Dörfchen keine blasse Ahnung habe. Es macht etwas mit einem, sich ständig privilegiert zu fühlen, das spürt man auf Veranstaltungen, zu denen die Hauptstadtpresse gebeten ist.
Da lädt etwa in jeder Sitzungswoche der parlamentarische Geschäftsführer der CDU-Fraktion zum Frühstück. Ich saß inmitten weiterer Politikkorrespondenten im beeindruckenden Bundestagsbau bei Rührei und Speck, knusprigen Minicroissants und frischem Obst. Um mich herum gemurmelt die Analysen neuster politischer Schachzüge jener, die unser Land regieren. Heute räume ich jeden Morgen das Müsli vom Holztisch in der Küche, klanglich untermalt nur vom Gesumm der Fliegen, die langsam an ihrem klebrigen Deckenfänger verenden.
Und dann kommen so Nachrichten aus der entfernten Stadt, die mich den Kopf schütteln lassen, wo der Moment des Aussteigens aus dem alten Leben wieder einen Sinn ergibt. Ein Reporter des öffentlich-rechtlichen Fernsehens habe in Brüssel am Rande des EU-Gipfels der Bundeskanzlerin ein Geburtstagslied gesungen. In der Folge zerreißt sich die europäische Presse das Maul darüber, wie peinlich das gewesen sei. So peinlich, dass es Sascha Lobo nur „mit einer Sonderform des Fremdschamtremors auf der Tastatur“ tippen kann.
Peinlich ist etwas ganz anderes.
Nein, wirklich? Peinlich ist ganz etwas anderes, finde ich. Nicht nur die fehlende Unterstützung der Kollegen, vor allem das Nachtreten, als das Kind im Brunnen ist. Ob man der Kanzlerin ein Ständchen bringen muss? Vielleicht nicht. Aber wo auch immer gesungen wird, da entsteht eine Gemeinschaft. Einen Mitsänger alleine im Regen stehen zu lassen, zeugt von Feigheit. All diese Reporter, die mit stolz geschwellten Brüsten täglich den mächtigsten Menschen Europas unangenehme Fragen stellen sollen, hatten Angst davor, ein Lied anzustimmen? Und jetzt zeigen die Kollegen aus sicherer Entfernung mit dem Finger auf den Gratulanten und die Nicht-Sänger raunen sich ein verschwörerisches „alles richtig gemacht“ zu.
Dabei wollte der Mann, der nun als alleiniger Vollidiot in der ersten Reihe steht, einfach nur nett sein. Freundlich. Es war ein echter Moment, aus dem Bauch heraus. Er hat nicht nachgedacht über diese selbstreferentielle Medienblase in der so etwas wie Spontaneität sofort zerpflückt, bewertet und gestraft wird. Die Facebook-Nation macht daraus ein Fremdschämgate, wie sie ein paar Tage zuvor aus dem Tanz von ein paar übermütigen Fußballjungs eine Nationalismusdebatte macht.
Vielleicht ist das politische Berlin in den vergangenen Tagen ein wenig durcheinander ob der plötzlichen Weltmeisterwerdung. Heute bin ich jedenfalls mehr denn je froh darüber, es hier auf dem Land mit diesseitigen Fragen und authentischen Menschen zu tun zu haben. Mit denen, die in den Himmel schauen und darüber nachdenken, ob die Zeit reif ist für die Heuernte, ob die Gänse genug zu Fressen haben und wann die Junghühner das erste Ei legen. Und die anderen zum Geburtstag gratulieren. Ohne darüber nachzudenken, ob das jetzt vielleicht peinlich wäre.
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