Angela Merkel mit Olaf Scholz, damals war sie noch Kanzlerin und er Finanzminister / dpa

Merkel knöpft sich Scholz vor - Unerwartet unsensibel

Angela Merkel spricht ihrem Nachfolger Olaf Scholz die charakterliche Eignung für das Amt des Bundeskanzlers ab. Ein größerer Angriff ist kaum denkbar. Wo ist ihr Gefühl für Takt und Zurückhaltung geblieben?

Porträt Mathias Brodkorb

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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz in der Politik: Man darf und muss zwar die Leistungen der eigenen Vorgänger, nicht aber die der eigenen Nachfolger öffentlich kritisieren. Das eine hat mit der Logik der Demokratie zu tun und das andere mit der Würde des Amtes – und auch seines ehemaligen Inhabers.

Da demokratische Politik aus dem Wettbewerb der Argumente hervorgeht, kann auf Kritik am Amtsvorgänger nie verzichtet werden. Der öffentliche Streit über den besten Weg zur Lösung bestehender Probleme ist ihr Motor. Ohne ihn wäre auch kein Machtwechsel möglich – und damit keine Demokratie.

Einmal Kanzler, immer Kanzler

Aber mit dem Ausscheiden aus dem Amt ändert sich die Lage. Wer einmal Bundeskanzler war, bleibt es sein Leben lang. Aus dem Ruhestand heraus die eigenen Leistungen zu loben oder die des Nachfolgers in ein schlechtes Licht zu rücken, unterfällt zwangsläufig dem Verdacht der Eitelkeit. Das späte Schweigen dient nicht nur dem Schutz der Würde des Amtes. Sondern ebenso dem Schutz vor sich selbst.

Auch Bundeskanzlerin a. D. Angela Merkel stellt sich nun aber in die Reihe jener Politiker, die vom Selbstlob nicht lassen können. Dieser Tage erscheint ihre mehr als 700 Seiten umfassende politische Autobiografie. Sie hat darin namhafte Vorbilder. Schon der erste Reichskanzler Fürst von Bismarck handelte so. Besser machte das die Sache aber schon damals nicht.

In einem großen Spiegel-Interview hat Merkel pünktlich zum Erscheinen einen ersten Einblick in ihr Buch gewährt – und in ihren momentanen Gefühlshaushalt. Das Gespräch gereicht ihr nicht unbedingt zur Ehre.

Aber was soll sie auch machen? Das Land und ganz Europa sind in eine schwierige Lage geraten – und das hat natürlich auch mit ihrer Kanzlerschaft zu tun. Dies öffentlich einzugestehen, würde allerdings bedeuten, die wohl wichtigsten Jahre ihres Lebens nachträglich zu entwerten. Selbst wenn sie vieles heute anders sähe, käme es einem Akt der Selbstvernichtung gleich. Und so bleibt Merkel denn auch ganz stur bei ihrer Linie.

Sonntagsreden

Die Weigerung, im Jahre 2015 die Grenzen zu schließen, kommt ihr noch heute alternativlos vor. Andernfalls hätte man „die gesamte Glaubwürdigkeit der Sonntagsreden über unsere tollen Werte in Europa und die Menschenwürde preisgegeben“.

Auch in den Selfies, die sie seinerzeit mit Flüchtlingen gemacht hat und die um die Welt gingen, will sie keine Symbolwirkung erkennen. Dazu muss man immerhin überzeugt sein, dass politische Herrscher in Autokratien für ähnlich „schwach“ gehalten werden wie Regierungschefs in Demokratien.

Und überhaupt: Der deutsche Sozialstaat habe keine Sogwirkung auf Armutsflüchtlinge. So wird man die Ex-Kanzlerin am Ende wohl verstehen müssen, wenn sie sagt: „Es erwartet sie hier in der Bundesrepublik auch nicht das tollste Leben.“

Die seit zehn Jahren andauernde, illegale Massenmigration nach Deutschland und Europa schwebt bei Merkel bis heute wie ein ursachenloses, unabwendbares Schicksal in der Luft. Aber was hätte sie auch anderes sagen sollen, ohne sich zu beschädigen? An dieser Stelle Fehler einzugestehen würde ja automatisch auch bedeuten, seine Mitschuld am Wiedererstarken der AfD zu bekennen.

Billiges Gas

Nicht viel anders ist es in Sachen Ukraine – und irgendwie doch. Schon frühzeitig erkannt zu haben, welche Gefahren von Putins Ambitionen ausgehen, kann sie auf ihrem geschichtlichen Leistungskonto positiv verbuchen. Bis heute plädiert sie dafür, nicht in westlicher Wertebesoffenheit zu ertrinken, sondern politische Realitäten zu akzeptieren.

Auf die Frage der Spiegel-Redakteure allerdings, warum sie dann die deutsche Volkswirtschaft dennoch in die Gasabhängigkeit zu Russland getrieben habe, hat sie keine plausible strategische Antwort. Sondern nur diese: „Ich habe es als eine meiner Aufgaben gesehen, für die deutsche Wirtschaft billiges Gas zu bekommen.“

Wenn es also darum geht, robuste Maßnahmen gegen illegale Masseneinwanderung auf den Weg zu bringen, stehen dem die „tollen Werte in Europa und die Menschenwürde“ entgegen. Wenn es um billiges Gas geht, im Zweifel nicht. Schlüssig ist das nicht.

Merkel ist eine kluge Frau. Der Widerspruch lässt sich nur durch den Versuch der nachträgliche Selbstrechtfertigung ihrer Entscheidungen erklären. Wer historische Fehler aus eigener Befangenheit heraus ebenso adeln will wie unbestrittene Leistungen, muss dabei zwangsläufig zu jeweils unterschiedlichen Maßstäben greifen.

An einem Punkt gesteht Merkel gegenüber dem Spiegel dann aber doch gehörige Fehler ein. Zumindest in Sachen „mangelnde Digitalisierung, marode Infrastruktur, verschleppte Energiewende“ könne man sagen: „Die Merkel war’s.“ Es habe in diesen Dingen landesweit am „gemeinsamen Antrieb“ gemangelt.

Angriff auf den Nachfolger

Und dann spricht Merkel noch über den aktuellen Bundeskanzler. Auf die Frage, was sie über die Wutrede von Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag angesichts des Ampel-Aus dachte, sagt sie die Sätze: „Sein Amt hat eine Würde, und die sollte einen stets leiten. (…) Manche dachten: Wenn unser Bundeskanzler so außer Rand und Band ist – ogottogott – wie schlecht steht es dann um unser Land?“

Ein größerer Angriff auf den eigenen Amtsnachfolger ist kaum denkbar. Merkel stellt damit ja nicht einmal den politischen Kurs der Ampel mit Sachgründen in Frage, sondern greift sogar die charakterliche Integrität des Kanzlers an. Was sie öffentlich in Frage stellt, ist, ob er seinem Amte überhaupt gewachsen ist. Nicht fachlich, sondern menschlich.

Schweigen können

Und Merkel weiß genau, was sie da tut. Gleich zu Beginn des Gesprächs bestärken sie ihre Gesprächspartner darin, endlich einmal blank zu ziehen. Sie sei doch jetzt „frei von den Zwängen“ des Amts und könne deshalb mal „deutlicher werden“ – was ein ziemlicher Irrtum ist. Merkels Reaktion darauf: „Das war ja nie mein Stil.“ Das Maß, die Zurückhaltung, der Takt, das im richtigen Moment schweigen Können – das waren tatsächlich die würdevollen Begleiterscheinungen ihrer Kanzlerschaft.

Als sie mitverfolgt habe, wie sich Scholz und Lindner angesichts des Ampel-Aus gegenseitig und öffentlich mit persönlichen Vorwürfen überschütteten, hätte sie nur gedacht: „Männer!“ Inzwischen scheint sich aber auch ihr eigener Testosteron-Haushalt verschoben zu haben. Hätte sie doch lieber geschwiegen und die Bewertung ihrer Kanzlerschaft den Historikern, Publizisten und der demokratischen Öffentlichkeit überlassen!

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