- Eine journalistische Kurvendiskussion
Worum handelte es sich bei der Sexismus-Diskussion um Rainer Brüderle eigentlich? Eine „Debatte zweiten Grades“ oder besser noch: Die „erste Ableitung einer Debatte“? Eine Kurvendiskussion zwischen „Brüderle-Achse“, „Himmelreich-Linie“ und „Dirndl-Punkt“
Der Sinn einer Debatte besteht darin, dass die Teilnehmer ihre Argumente austauschen und hinterher schlauer sind als vorher. Wird die Debatte öffentlich geführt, entstehen – ökonomisch gesprochen – positive externe Effekte, weil die Zuschauer sämtliche von den Debattenteilnehmern angeführten Argumente auf sich wirken lassen können und danach ebenfalls schlauer sind als zuvor. Bei der überaus öffentlich geführten „Brüderle-Debatte“ haben wir es dagegen mit einem Meinungsaustausch der besonderen Art zu tun, denn die Auslöser der Debatte haben sich selbst entweder gar nicht (Brüderle) oder von Anfang an total abwiegelnd (Stern-Reporterin) an ihr beteiligt. Deswegen frage ich mich, ob man in diesem Fall tatsächlich von „Debatte“ sprechen sollte, oder ob nicht ein anderer Begriff für so etwas gefunden werden muss. Zum Beispiel „Debatte zweiten Grades“ oder noch besser: „Erste Ableitung einer Debatte“. Das klingt zugegebenermaßen etwas kompliziert, aber das Leben ist ja auch nicht immer ganz einfach – besonders, wenn Männer und Frauen mit im Spiel sind.
Die Ableitung ist ein Terminus aus der Differenzialrechnung und entspricht geometrisch der Tangentensteigung einer Funktion. Die Funktion ist also in gewisser Weise die Ausgangsgrundlage; in der hier zu untersuchenden Causa handelt es sich um das Geplänkel zwischen einem FDP-Politiker (Achtung, negatives Vorzeichen!) und der Journalistin eines Massenblatts (mathematisch interessant wegen des sogenannten Stern-Multiplikators) zu vorgerückter Stunde in einer Stuttgarter Hotelbar. Das Koordinatensystem besteht aus den Maßeinheiten „Alkoholkonsum“ auf der Abszisse (auch „Brüderle-Achse“ genannt) sowie „Anquatschbereitschaft“ auf der Ordinate (in Wissenschaftskreisen als „Himmelreich-Linie“ bekannt). Der Verlauf des Hotelbar-Geplänkels lässt sich nun als eine Kurve abbilden, die mit zunehmender Anquatschbereitschaft und steigendem Alkoholkonsum eine mutmaßlich konkave Krümmung zeigt (Fachleute bezeichnen dies als den „Dreikönigs-Pfad“). So weit noch alles klar? Gut.
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Im nächsten Schritt picken wir uns irgendeine besonders steil anmutende Stelle auf dem sogenannten Dreikönigs-Pfad heraus – beispielsweise jenen Moment, in dem der FDP-Politiker während seines Gesprächs mit der Stern-Reporterin darüber räsonniert, ob sein Gegenüber „auch ein Dirndl ausfüllen“ könne. Wenn man an diesen Dirndl-Punkt eine Tangente legt, ist es eigentlich schon vollbracht: Angelehnt an ein albernes Hotelbar-Gespräch (dargestellt durch eine Kurve), beschreibt diese Gerade den exakten Verlauf der aufgeregten Brüderle-Debatte (die, wie wir jetzt gelernt haben, gar keine echte Debatte ist, sondern nur der entsprechende Differenzialquotient).
Im debattenaffinen Journalismus ist die Bezeichnung „Tangente“ denn auch sehr geläufig: Man meint damit – grob gesagt – die Kunstfertigkeit, aus einem beliebigen Ereignis irgendwelche Massenphänomene abzuleiten. Wenn sich etwa herausstellen sollte, dass ein Spitzenpolitiker mit seiner Sekretärin fremdgeht, lautet die journalistisch korrekte Ableitung: „Volkskrankheit Seitensprung – Warum wir nicht mehr treu sein können“. Benimmt sich beispielsweise ein berühmter Filmschauspieler in der Öffentlichkeit mal daneben, weil er zu viel getrunken hat, ergeben sich gleich mehrere Optionen: „Rüpelrepublik Deutschland“ oder „Alkohol – die geheime Droge der Stars“, um nur zwei Varianten zu nennen.
Was den Neigungswinkel der Tangente angeht, gilt der einfache Grundsatz: je steiler, desto geiler. Daraus wird zwar am Ende niemand klüger, aber immerhin ein gewisser Unterhaltungswert ist der Brüderle-„Debatte“ nicht abzusprechen. Ob das deren Namensgeber genauso sieht, steht freilich auf einem anderen Blatt.
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