- Wahlfreiheit ist eine Illusion
Die CSU-Parolen von der Wahlfreiheit zwischen Fremd- und Selbstbetreuung der Kinder sind eine Illusion. Frei entscheiden können nur jene, die es sich finanziell leisten können. Die Sonntagskolumne: Stadt, Land, Flucht
Das bundesweite Betreuungsgeld hat einjähriges Jubiläum. Und es ist genau das eingetreten, was seine Kritiker befürchtet hatten: Jene Familien, deren Kinder man gerne in den staatlichen Einrichtungen gesehen hätte, lassen ihren Nachwuchs daheim. Man fragte über hunderttausend Familien mit Kindern unter drei Jahren, wie viele von ihnen die sogenannte Herdprämie nutzen.
Et voilà, die Ergebnisse: 31 Prozent der Eltern ohne Berufsausbildung, 24 Prozent mit Hauptschulabschluss, 14 Prozent mit mittlerer Reife, 8 Prozent Akademiker. Außerdem: 25 Prozent der Familien mit Migrationshintergrund und 13 Prozent deutschstämmige Familien.
Wahlfreiheit als Worthülse
Es mutet doch recht merkwürdig an, bei dieser Abstufung von einer errungenen Wahlfreiheit zu sprechen, wie sie sich die CSU auf die Fahnen schreibt. Und das in einem Land, in dem Bildungs- und die dazugehörigen Wohlstandsunterschiede fest zementiert sind, wo die soziale Mobilität erlahmt wie bei kaum einer Nachbarnation.
Wahlfreiheit verkommt da nicht nur in der Politik zur politischen Hülse, zur Lieblingsillusion, zum hohntriefenden Schimpfwort. Dir gefällt deine Partnerschaft nicht? Such dir einen neuen Partner – im Internet ist alles möglich. Du möchtest einen anderen Job? Kündige, sei mutig, nimm dein Glück selbst in die Hand. Das Leben in der Stadt gefällt dir nicht? Zieh raus aufs Land – ein jeder ist seines Glückes Schmied. Das sind die Parolen, die wir nur allzu gern hören, weil sie etwas vorgaukeln. Das Gefühl, man sei selbst verantwortlich für sein Leben, man habe es in der Hand. Aber das ist Bullshit.
Vor allem entscheiden die Umstände: Wo bin ich geboren? Wer sind meine Eltern? Bin ich gesund? Sehe ich gut aus? Bin ich smart oder schüchtern? Teamfähig oder vielleicht nicht? Davon hängt ab, welche Ausbildung wir bekommen, ob wir uns leicht integrieren, ob wir gesellschaftsfähig sind und erfolgreich.
Weil wir glücklich und privilegiert sind
Auch ich habe mit meiner Familie ein einjähriges Jubiläum zu feiern. Wir sind ausgestiegen, auf einen Bauernhof gezogen, haben unsere Jobs gekündigt. Weil wir etwas anderes wollten, ein neues Leben, ein besseres Leben. Andere haben uns mutig genannt. Ich weiß, dass wir nicht besonders mutig sind. Wir haben es getan, weil wir es konnten. Weil wir glücklich und privilegiert sind. Das nämlich erzeugt Wahlfreiheit. Und nicht die 150 Euro Betreuungsgeld, die ich ab August einstreichen könnte, wenn ich meine kleinste Tochter von nun an zu Hause betreuen würde. Stattdessen zahle ich 214,64 Euro Kitagebühren für meine Freiheit. Weil es mich glücklicher macht zu arbeiten, anstatt den ganzen Tag Kinderbedürfnisse zu stillen. Und weil ich es kann.
Eine ungelernte Arbeiterin, die sich mit einem Minijob über Wasser hält, wird in dieser Rechnung vielleicht zu einem ganz anderen Ergebnis kommen. Das hat nichts mit Wahlfreiheit zu tun, sondern mit Addition. Und die lernt man auch auf der Hauptschule, liebe CSU.
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