- Betteln zu verbieten, geht zu weit
Kolumne Stadt, Land, Flucht: In deutschen Städten beginnt gerade ein Kreuzzug gegen das „aggressive Betteln“: Mit Bußgeldern und Platzverweisen sollen die Betroffenen vertrieben werden. Damit wird aber jene Bettelei unterbunden, die als Armut daherkommt
Ich war etwa neun Jahre alt, als man mich der Bettelei bezichtigte. Meine beste Freundin und ich hatten unser erstes Geld auf der Straße eingespielt. Mit weihnachtlichem Blockflötengedudel hatten wir die Herzen der Passanten gerührt und in unseren Taschen schleppten wir fast 50 Mark in silbernen Münzen nach Hause. Aber unser Stolz wich der Demütigung, als die großmütterliche Rüge auf uns niederprasselte: Das Geld wurde dem hiesigen Tierheim gespendet und wir lernten, dass ordentliche Mädchen nicht zu betteln haben.
Dabei hat Deutschland das Bettelverbot 1974 aufgehoben. Nun aber kehrt es schleichend zurück nach Europa. Die sichtbare Armut wächst in den Städten und viele Länder ziehen Konsequenzen: Norwegen will die Bettelei ganz verbieten, die Schweizer gehen in Lausanne mit polizeilichen Mitteln gegen organisierte Bettelei vor, genauso läuft es in Madrid. Dem Trend folgen mit Bußgeldern, weitreichenden Platzverweisen und Verboten nun auch München, Nürnberg, Augsburg, Würzburg und Regensburg, wie die FAZ gerade berichtet.
Es beginnt ein Kreuzzug gegen das „aggressive Betteln“, wie es die Städte in ihren Erklärungen nennen. Das sei nötig, denn die Intensität des Bettelns habe sich verschärft, es werde mehr gepöbelt, Fußgänger würden festgehalten und bedroht. Außerdem sei der Einsatz von Kindern als Bettler immer häufiger zu beobachten, den organisierte Banden gerne nutzen. Wo vor zwei Jahren 20 Bettler zu finden waren, stünden heute etwa 100, berichtet die Münchener Polizei. Nun ginge es darum, den Passanten ein Gefühl der Sicherheit zu geben. Man kann auch sagen, man wolle den Menschen eine Welt vorgaukeln, die es nicht gibt. Und anstatt die Hintermänner der Bettlerbanden zu erwischen, werden von den ärmsten Hunden an vorderster Front ein paar erbettelte Euro einbehalten, wenn etwa kein Wohnsitz zu ermitteln ist. Als Konsequenz kann auch das Handy konfisziert werden. Die Städte entscheiden sich für den schnellen Weg, unangenehme Auswüchse einzudämmen, ohne aber die Wurzel herauszureißen.
Betteln ist nicht gleich Betteln
Während aggressives Betteln in der einen Realität also verboten wird, bleibt es in der anderen Realität bestehen. Im Internet nämlich ziehen Seiten wie heftig.co, Deutschlands „schnellstwachsende“ Webseite mit Teasern reißerisch-durchschaubarster Art die Leser auf ihre Seite. Aber auch andere Webseiten bedienen sich zunehmend platter Formulierungen wie: „So etwas hast du noch nie gesehen/ Wer hier klickt, betrügt heute noch seinen Ehemann/ Das achtundzwanzigste Bild hat mir die Augen geöffnet“, etc. Anmoderationen, die nichts anderes sind als aggressives Betteln um Klicks.
Und das nervt zwar, aber es funktioniert. So gut, dass Werbefachleute, Journalisten und Blogger staunen und versuchen, sich die plakative Sprache der dummdreisten Klickbettelei zu Eigen zu machen. Vor einigen Wochen berichtete der Branchendienst Meedia, dass die im Februar 2014 gegründete und damit noch recht junge Internetseite heftig.co mit einem Bruchteil an Inhalten fast so viele Zulauf habe „wie die beiden Mainstream-Medien-Giganten Bild.de und Spiegel Online zusammen“.
Man lerne also: Ob Mädchen aus gutem Hause flöten, verstrubbelte Roma Akkordeon spielen, Unternehmen um Klicks betteln oder ganze Gruppen ein Geschäft mit dem Mitleid machen – Betteln ist nicht gleich Betteln. Die süddeutschen Polizisten, die künftig entscheiden müssen, wann eine Strafe angebracht ist, werden es nicht leicht haben – Fehlentscheidungen sind vorprogrammiert. Aggressiv angebettelt zu werden, ist unangenehm. Sei es nun im Internet oder auf der Straße. Es deswegen zu verbieten, geht zu weit. Jeder aber muss sich im Angesicht der Armut zu einer Haltung durchringen. So viel sollten wir den Menschen zutrauen, wenn sie gemeinsam eine Stadt oder das Internet bevölkern wollen.
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