Das 1930 nach Plänen Mendelsohns errichtete Kaufhaus Schocken. / Foto: bpk / Kunstbibliothek, SMB / Arthur Köster

Geschichte des Schocken Verlags - Kultur aus dem Kaufhaus

In Chemnitz erinnert man Salman Schocken vor allem als Warenhaus-Unternehmer. Dabei hat er 1931 auch einen für seine Zeit wichtigen Verlag gegründet. Bei Schocken wurden Kafka, Buber und Liebermann verlegt

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Als am 15. Mai 1930 das Kaufhaus Schocken in Chemnitz feierlich eröffnet wurde, befanden sich im vierten Obergeschoss neben dem beliebten Erfrischungsraum Verkaufsstände, an denen außer Kunstgewerbe, Spielwaren, Sprechapparaten und Schallplatten, Radio und Zubehör, Foto und Optik auch „Bücher und Noten“ zum Kauf angepriesen wurden. Unter anderem wurden „Neuerscheinungen und Antiquariat“ angeboten. Neben jüdischer Literatur waren dies aber auch Bücher aus der lustigen Wilhelm-Busch-Sammlung, Bücher von Gustav Freytag, Hans Fallada, Märchenbücher und Jugendschriften. Bücher des Schocken Verlages konnten noch nicht erworben werden. Das war erst ein Jahr später möglich, da der Verlag erst am 1. Juli 1931 in Berlin ­gegründet wurde. Doch Kaufhaus wie Verlag wurden von ein und demselben Mann gegründet: Salman Schocken. Für die geistige und kulturelle Selbstbehauptung des deutschen Judentums während des Nationalsozialismus spielte der Großkaufmann eine zentrale Rolle.

Vor seiner Verlagsgründung gab es bereits den Verlag der Schocken Kommandit-Gesellschaft auf Aktien in Zwickau, der neben betriebseigenen Mitteilungen auch eine weniger bekannte „Jugendschriften-Reihe“ herausgab. Die Reihe, die unter anderem Erzählungen für Kinder von acht bis zwölf Jahren umfasste, konnte mit Sicherheit dort erworben werden. Dieser Verlag, der nicht mit dem späteren Schocken Verlag zu verwechseln ist, erwarb darüber hinaus mit der Veröffentlichung zeitgenössischer Ansichtskarten bleibende Verdienste. Auf „Echte Photographien“, die unter anderem von den bekannten Fotografen Albert Renger-Patzsch und Arthur Köster stammten, wurde dabei oftmals zurückgegriffen.

„Wurzellos aber wurzellocker“

Salman Schocken hatte bis zur Verlagsgründung vor allem Verdienste als Kaufhausgründer erworben. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Simon hatte er innerhalb von zweieinhalb Jahrzehnten das fünftgrößte Warenhausimperium Deutschlands ins Leben gerufen. Salman Schocken wandte sich schon frühzeitig gegen „die elende Oberflächlichkeit der modernen Welt“. Auf der Zusammenkunft der Zionistischen Ortsgruppe in Chemnitz betonte er am 29. Dezember 1913 gegenüber den Zuhörern, dass bei „den Juden der Gegenwart […] noch manches Ungünstige“ hinzukäme. „Wurzellos oder wurzellocker“ stünde „der jüdische Mensch im Wind der äußeren Einflüsse. Geschäftige Berufsarbeit und äußerlicher Genuss [seien] die zwei Welten seines Daseins“. Er trat daher für „die innere Renaissance, die innere Wiedergeburt des jüdischen Menschen“ ein, die ohne eigene Kulturarbeit nicht möglich wäre. 

Salman Schocken / 
Foto: © Privatsammlung Familie Schocken

Die Zusammenkunft, über deren Ablauf kaum etwas überliefert ist, fand mit großer Wahrscheinlichkeit in den Räumen des rituellen Mittagstisches der Gastwirtin Sabine Nathan statt, der sich in der Friedrichstraße 17 befand. Chemnitz war damals der Sitz des Sächsischen Gruppenverbandes der Zionistischen Vereinigung in Deutschland. Salman Schocken kam nach Chemnitz, um als einstiger Delegierter des XI. Zionisten-Kongresses in Wien einen persönlichen Bericht über dessen Verlauf zu geben. Auf dem Kongress wurde u. a. die Gründung einer Hebräischen Universität in Jerusalem beschlossen. Schockens Rede, die als „Makkabäerrede“ in die Geschichte des Zionismus einging, wurde von der Zionistischen Ortsgruppe Chemnitz – vom Redner selbst finanziert – herausgegeben und somit den Mitgliedern des Sächsischen Gruppenverbandes zugänglich gemacht.

Jüdisches Kulturgut in deutscher Übersetzung

In der Folgezeit wurde S. Schocken Jr., wie sich Salman Schocken damals nannte, einer der wichtigsten Führer des Kulturzionismus. Als solcher wurde das von Ascher Ginsberg (bekannter unter seinem Pseudonym Achad Ha´am) in der zionistischen Bewegung vertretene Streben nach einer grundlegenden Erneuerung der jüdischen Kultur als unabdingbare Voraussetzung für ein jüdisches Nationalbewusstsein bezeichnet. Daher lag es auf der Hand, dass sich Schocken als Vorsitzender des Kulturausschusses der Zionistischen Vereinigung für Deutschland für „die Wiedergeburt des jüdischen Gemeinschaftsgeistes“ einsetzte. Dennoch gelang es ihm in dieser Position noch nicht, einen eigenen Buchverlag zu gründen. Jedoch unterhielt er über einen längeren Zeitraum Kontakt zu dem Ende 1901 gegründeten Jüdischen Verlag mit Sitz in Berlin. 

So gab es in den Jahren 1919 und 1930 Pläne, einen gemeinsamen Verlag unter aktiver Beteiligung Salman Schockens zu gründen. Als „Literaturliebhaber und Büchernarr“, wie der Historiker Julius H. Schoeps Schocken bezeichnete, gab dieser sein Verlagsprojekt nicht auf. Was für ihn ein „gutes Buch“ bedeutete, wird aus der oben genannten Widmung deutlich. Diese war später auch Motto der jährlichen „Büchergabe“ für das Personal der Schocken KG auf Aktien geworden. Damit wollten Simon und Salman Schocken „jugendliche Mitarbeiter anregen, am Besitz von Büchern Freude zu finden und den Umgang mit ihnen zu einer dauernden Gewohnheit werden zu lassen“.

Ende der 1920er-Jahre fand Salman Schocken in Lambert Schneider und Moritz Schneider zwei geeignete Mitstreiter, um endlich einen Buchverlag zu gründen. Er selbst sah sich nach dem unerwarteten Unfalltod seines Bruders Simon Schocken im Oktober 1929 gezwungen, sich wieder mehr um den Konzern zu kümmern, obwohl er mit Georg Manasse und Siegfried Moses zwei äußerst befähigte Direktoren an dessen Spitze hatte. In dem Verlag, der seinen Sitz im Berliner Zeitungsviertel (Jerusalemer Straße 65/66) hatte, erschienen fortan Bücher in deutscher und hebräischer Sprache. Daher gab es auch zwei Abteilungen. In der bekannten Druckerei Offizin Haag Drugulin AG in Leipzig wurde der größte Teil der hebräischen Drucke gesetzt und gedruckt. 

Detail der „Schocken Bücherei“ in der Ausstellung im SMAC 
Foto: © LfA/smac, Michael Jungblut

Die deutschsprachige Abteilung war für das jahrhundertealte Kulturgut des Judentums in mustergültigen Übersetzungen und Ausgaben vorgesehen. Das Kernstück dieser Abteilung war die deutsche Übersetzung der hebräischen Bibel von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Darüber hinaus erschienen Werke unter anderem von Franz Kafka, dessen Rechte am Gesamtwerk sich der Verlag gesichert hatte, Martin Buber, Leo Baeck, Hermann Fechenbach, Max Liebermann und Gershom Scholem. Die hebräische Abteilung war vor allem für das Gesamtwerk des Dichters Samuel Josef Agnon und die Arbeiten des 1929 gegründeten „Forschungsinstitutes der hebräischen Dichtung“ vorgesehen. Ab dem Jahr 1934 wurden zudem die Publikationen der 1919 in Berlin gegründeten „Akademie für die Wissenschaft des Judentums“ veröffentlicht. Damit fand das wissenschaftliche Vermächtnis des Philosophen Hermann Cohen eine neue Heimat.

Durch zwei fast schon legendäre Verlagsproduktionen erwarb der Schocken Verlag auf Dauer bleibende Verdienste: die Almanache und die Bücherei. Insgesamt erschienen zwischen 1933 und 1938 sechs Almanache, die unter anderem ein jeweils komplettes Verlagsverzeichnis und kurze Beiträge der Verlagsautoren enthielten. In der Art der seit 1912 erscheinenden Leipziger Insel-Bücherei wurden zwischen Frühjahr 1933 und Herbst 1938 in der Bücherei des Schocken Verlages insgesamt 83 Bändchen herausgegeben. So erschien im Jahr 1936 unter der laufenden Nummer 62 ein Büchlein von Martin Buber unter dem Titel „Zion als Ziel und Aufgabe (Gedanken aus 3 Jahrhunderten)“. In der von dem jüdischen Chemnitzer Verleger Berthold Horwitz herausgegebenen „Jüdischen Zeitung für Mittelsachsen“ wurde dieses Bändchen besprochen und besonders den Anhängern des Zionismus „wärmstens empfohlen“. 

Spiegel beinahe allen jüdischen Seins und Denkens

Am 17. Dezember 1938 erhielt der Schocken Verlag ein Schreiben von den NS-Behörden, in welchem dieser angewiesen wurde, sich bis zum 31. Dezember 1938 selbst aufzulösen. Außer in der beliebten Bücherabteilung im Kaufhaus Schocken in Chemnitz konnten die noch in der Stadt lebenden Juden Bücher aus dem Schocken Verlag in der hiesigen Niederlassung des Jüdischen Buchvertriebes Ludwig Freund in Beuthen (Oberschlesien) erwerben. Margarete Krämer, dessen Tochter, hatte den Ausverkauf „jüdischer Bücher aller Art“ im Haus Gravelottestraße 14 übernommen, wohl auch hier zu „Schleuderpreisen“.

Der Religionsphilosoph Ernst Simon, der seit 1928 in Palästina lebte und zu den Autoren des Schocken Verlages zählte, hatte sich ein Jahr vor der Zwangsauflösung – auf Bitten der Berliner „Jüdischen Rundschau“ – mit der Bedeutung des Verlages beschäftigt: „Im Laufe von fünf Jahren“, schrieb er, „hat der Schocken Verlag an die 200 Bände veröffentlicht und verbreitet. Der innere Umfang seiner Gesamtproduktion ist ein Spiegel beinahe allen jüdischen Seins und Denkens, mit zwei großen, freilich bezeichnenden Aus-nahmen: die Gebiete der Wirtschaft und Politik sind nur in Ansätzen vertreten […].“ Vor allem die handgerechten Bände der Bücherei des Schocken Verlages gingen mit auf Reise in die Städte, wohin die deutschen Juden seit 1933 vertrieben wurden. 

Heute befinden sich diese oftmals in den Antiquariaten in Jerusalem, Haifa, London, New York, Stockholm oder São Paulo. Die Gemeindebibliothek der Chemnitzer Juden, die vom Kantor Leopold Krämer betreut wurde, überstand die Wirren des Zweiten Weltkrieges nicht. Auch ein Bestandsverzeichnis ist nicht überliefert. In den heutigen Beständen der Stadtbibliothek befinden sich lediglich sechs Bücher aus dem Schocken Verlag. Ein weiteres Buch ist in der Universitätsbibliothek zu finden. Derweil veranschaulichen die Ansichtskarten des Verlages der Schocken KG (ab November 1933 AG) noch immer die beeindruckende Architektur eines Teiles der 19 Schocken-Kaufhäuser. Zu bewundern sind sie heute in einer Erkerausstellung im Staatlichen Museum für Archäologie Chemnitz (SMAC), welches sich seit 2014 im Gebäude des einst von Erich Mendelsohn gebauten Kaufhauses befindet. Geht man von dort in das dritte Obergeschoss des weiträumigen Gebäudes, so sieht man dort unter anderem auch die 83 Bände der noch immer faszinierenden Bücherei des Schocken Verlages.

 

Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol.

 

 

 

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