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Debatte um Kindergrundsicherung - Wie wir Armut herbeireden

Die gegenwärtige Debatte um die Kindergrundsicherung wird mit mehr Herz als Verstand geführt. Unser Wohlfahrtsstaat garantiert schließlich allen, die in seinem Einzugsbereich leben, eine „Mindestsicherung“. Absolute Armut muss niemand befürchten.

Thomas Mayer

Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

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„Wir sind ein reiches Land“, sagen Politiker gerne, ein „Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“, so der Wahlslogan der CDU von 2017. In der Tat: Wir sind die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und gehören im Länderranking nach Pro-Kopf-Einkommen zu den Top 20. Und dennoch jammert der Paritätische Wohlfahrtsverband in seinem Armutsbericht 2022: „Noch nie wurde … eine höhere Armutsquote für das Bundesgebiet gemessen.“

Und Familienministerin Lisa Paus sagte Anfang dieses Jahres der „Tagesschau“: „Kinderarmut ist eine Schande für so ein reiches Land wie Deutschland.“ Zur Überwindung der „Schande“ will sie nun 12 Milliarden Euro aus dem Bundeshaushalt für die Kindergrundsicherung loseisen. Nur Finanzminister Lindner scheint sich noch dagegen zu stemmen. Hat der Mann denn kein Herz für Kinder – und all die anderen zahlreichen Armen dieses ach so reichen Landes?

Schalten wir den Verstand ein

Diese Frage kann nur Christian Lindner selbst beantworten. Aber wenn man die gegenwärtige Debatte um die Kindergrundsicherung betrachtet, muss man feststellen, dass sie mit mehr Herz als Verstand geführt wird. Schalten wir also mal den Verstand ein. Dann sehen wir, dass es dabei um zwei Dinge geht: erstens um die organisatorische Zusammenführung der kaum noch übersehbaren staatlichen Hilfstöpfe für Kinder, und zweitens um die Frage, ob die aus den Töpfen zusammengeführte Kindergrundsicherung drastisch erhöht werden muss, um Kinderarmut zu überwinden. 

Wenn schon „selbst Expertinnen und Experten nicht mehr durchblicken“, wie Frau Paus erklärt, kann niemand mit gesundem Menschenverstand etwas gegen die Vereinfachung der staatlichen Kinderhilfe haben. Im Gegenteil: Der Staat spart an Verwaltungsaufwand, und die Bürger haben weniger Ärger mit der wildwuchernden Bürokratie. Also her mit der Überführung des Bürokratiedschungels der staatlichen Kinderhilfe in die Kindergrundsicherung!

Arm wie eine Kirchenmaus

Wie aber steht es mit der extra-Geldforderung zur Armutsbekämpfung? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir erst mal klären, wie es in unserem „reichen Land“ um die Armut bestellt ist. Unser Wohlfahrtsstaat garantiert allen, die in seinem Einzugsbereich leben, eine „Mindestsicherung“. Laut Bundesverfassungsgericht haben sie einen unmittelbar verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch

„auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Er gewährleistet das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit […], als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischem (sic!) Leben umfasst.“ 

Absolute Armut – wie eine Kirchenmaus – muss also niemand befürchten. Egal ob er „gerade dazugekommen ist oder schon länger hier lebt“, wie Angela Merkel unser Staatsvolk so schön definiert hat. Dafür sorgt unser Wohlfahrtsstaat, der zu den großzügigsten nicht nur in der Welt, sondern auch in Europa gehört. Wenn in unserer öffentlichen Debatte also von Armut die Rede ist, dann geht es immer um die „relative Armut“. Danach ist arm, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens bezieht. Aus der Perspektive der meisten der rund 176 Länder auf der Welt mit niedrigerem Pro-Kopf-Einkommen als Deutschland betrachtet, sind die „Armen“ in Deutschland nur weniger reich. Kein Wunder, dass aus diesen Ländern so viele Menschen zu uns wollen. 

„Jedes fünfte Kind in Armut“

Frau Paus und ihre Mitstreiter für die kräftige Aufstockung der Kindergrundsicherung begründen ihre Forderung gerne damit, dass bei uns „jedes fünfte Kind in Armut“ lebe. Darauf kommt man, wenn man für jeden Haushaltstyp, in dem Kinder leben – also vom Alleinerzieher mit einem Kind bis zum Paar und Alleinerzieher mit mehreren Kindern – das mittlere (der Haushaltsgröße angepasste) Netto-Haushaltseinkommen erhebt und die Kinder zählt, die in Haushalten mit weniger als 60 Prozent der mittleren Einkommen leben. Setzt man diese Zahl ins Verhältnis zu allen Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren, dann kommt man im Jahr 2021 auf eine „Armutsquote“ dieser Bevölkerungsgruppe von 20,8 Prozent.
 

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Mindestsicherung beziehen deutlich weniger, nämlich 13,9 Prozent. Die Mindestsicherungsquote liegt in dieser Gruppe höher als in der Gesamtbevölkerung, wo sie nur 8,0 Prozent beträgt, da mit steigender Kinderzahl auch die Transfers steigen. Wie die Bertelsmann-Stiftung feststellt, kommen dadurch einige Haushalte sogar über die Schwelle für die relative Armut.

Das Erfolgsrezept der unermüdlichen Kämpfer gegen die (relative) Armut in Politik und Medien ist, dass ihnen die Armen nie ausgehen. Denn wenn alle gleichermaßen reicher werden, bleibt die Zahl der Armen – ob Erwachsene oder Kinder – auch gleich. Als Geschäftsmodell ist daher der Kampf gegen die Armut gegen steigenden Wohlstand gefeit – und ewig grüßt der Paritätische Wohlfahrtsverband.  

Arm ist, wer sich arm fühlt

Aber, so werden die Vertreter dieses Modells einwenden, arm ist, wer sich arm fühlt, und dieses Gefühl entsteht, wenn man deutlich weniger hat als die gesellschaftliche Mitte. Folgt man diesem Gedanken, geht es eigentlich gar nicht um die Bekämpfung von Armut, sondern um Gleichheit in der Einkommensverteilung. Relativ Arme gibt es immer, solange keine vollständige Gleichheit besteht. Denn wenn niemand mehr weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, dann fühlen sich vermutlich diejenigen arm, die zum Beispiel weniger als 70 Prozent haben. Und so weiter.

Konsequent wäre also, so umzuverteilen, dass alle das gleiche Einkommen erhalten. Dass sich dann aber alle gleich arm statt gleich reich fühlen, hat uns die Erfahrung in der DDR gelehrt. Denn wenn es sich nicht mehr lohnt, sich anzustrengen, um voranzukommen, sinkt der Wohlstand für alle. 

Sieben Milliarden Euro pro Jahr

Finanzminister Lindner weist darauf hin, dass die Bundesregierung mit der Erhöhung des Kindergelds und anderer Leistungen Familien mit Kindern schon sieben Milliarden Euro pro Jahr mehr zur Verfügung stelle. Wird dieser Mehrbetrag durch die Kindergrundsicherung effizienter verteilt, wäre schon viel gewonnen. Würden in den Schulen dann noch wieder die in einer Industriegesellschaft notwendigen Kenntnisse in Lesen, Schreiben und Rechnen vermittelt – und würde es sich lohnen, im Leben voranzukommen – dann könnten wir vielleicht sogar den Tabellenabstieg aus der Liga der reichen Länder vermeiden, der uns sonst droht. Und die Bürger ärmerer Länder würden weiterhin die weniger Reichen bei uns um ihren Reichtum beneiden.
 

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Gerhard Lenz | Mi., 5. April 2023 - 12:37

Und überhaupt geht es doch wieder nur um Gleichmacherei.

Die Argumente könnten direkt aus dem FDP-Parteiprogramm stammen.

Denn selbstverständlich haben wir kein Geld für eine "Kindergrundsicherung". Wir müssen schliesslich Dienstwagen subventionieren. Und brauchen einen niedrigen Steuersatz im Hotel- und Gastgewerbe. Nicht mal das Geld, das man Rasern auf der Autobahn abknöpfen (und in einen anderen Haushaltstopf schmeissen könnte) haben wir - wir können uns schließlich keine Autobahngebühr leisten.

Und dann auch noch sowas Sozialistisches wie eine Kindergrundsicherung? Was sagt Lindner? Fördert Bildung und Erwerbstätigkeit!

Soll heißen: Strengt Euch mehr an, dann brauchen wir keinen Staat. Den würde die FDP sowieso gerne zusammenstutzen.

Es gibt verschuldete und unverschuldete Armut. Kinder leiden darunter am meisten.

Denen möchte Herr Lindner also - man sollte das folgend Wörtchen dick unterstreichen - NICHT helfen.

Nicht vereinbar mit dem wirtschaftsliberalen Weltbild!

"Denn selbstverständlich haben wir kein Geld für eine "Kindergrundsicherung"."

Das steht im Artikel nirgends. Vielmehr wird im Artikel für die Grundsicherung plädiert. Hand aufs Herz: Sie haben den Artikel gar nicht gelesen, sondern reagieren hier nur Ihre Reflexe ab. Wundert Sie, dass niemand hier Sie noch ernst nimmt?

Pawlow'schen Reflexe lieben wir ja so an ihm. Wenn mir sehr langweilig ist, und ich an Anfällen von Selbsthass leide, entwerfe ich in Gedanken den Lenz-Kommentar zu dem jeweiligen Artikel und gleiche ihn dann - nur aufgrund des Themas, ohne ihn gründlich gelesen zu haben- ab mit dem tatsächlichen Post. Meine Trefferquote ist enorm. Aber jetzt im Ernst: Teil 1 des Vorhabens von Paus- Untersuchung aller bisherigen Leistungen für Familien und Kinder, Klärung der Vorausstzungen des Bezugs und Vereinfachung und Vereinheitlichung der Auszahlung stand schon auf der Agenda von v.d.Leyen und ist heute so sinnvoll, wie es damals gewesen wäre, wenn nicht -wer auch immer- der Famlienministerin gesagt hätte, daß sie sich damit keine Fans macht. Daß es 161 Leistungen sind hat sie noch veröffentlicht. Dann hörte man nichts mehr davon. Wenn Paus ihr Vorhaben deshalb gleich mit dem Versprechen von saftigen Erhöhungen verbindet, hilft sie allerdings nur

Es fehlt: Daß Paus jetzt gleich zu Beginn saftige Erhöhungen verlangt noch bevor sie die von v.d. Leyen immerhin geleistet Fleißarbeit gemacht hat, erstmal zu schauen, welche Leistungen für Kinder es überhaupt gibt, verurteilt das in Teil 1 auf jeden Fall sinnvolle Projekt von vornherein zum Scheitern- und zwar insgesamt. Von ihr kann leider auch nicht erwartet werden, sich erst einmal auf die Grundsatzdiskussion einzulassen, wie sinnvoll es angesichts der himmelschreienden Mängel unserer Schulen und Kinderverwahranstalten ist, hinten und vorn fehlendes Geld mit der Gießkanne an Private zu verteilen, statt es gezielt in eine allen Kindern zugute kommende gute Bildungsinfrastruktur zu investieren. Das Ergebnis dieses Versäumnisses ist eine aktuell auf wiederum denkbar blödem Schattenbox-Niveau tobende Diskussion, in der jeder Blick in die Kasse gleich als "kinderfeindlich" etikettiert wird.

...völlig sinnbefreiter Kommentar von Ihnen Herr Lenz. Bei Ihnen ist nicht einmal im Ansatz das Bemühen erkennbar, wenigstens die Basisdaten zum Thema zur Kenntnis zu nehmen.
Die da wären: von dem Gesamthaushalt in Höhe von ca. 460 Mrd. Euro stellt den weitaus größten Brocken der Ausgaben der Sozialhaushalt in Höhe von 166 Mrd. Euro dar. Gelder, die dazu gedacht sind - das ist das Wesen von Sozialausgaben - Armut in der Gesellschaft abzuwenden.
In Kenntnis dieser Zahlen kann ich Ihren Kommentar nur als sinnbefreites dummes Geschwätz bezeichnen. Ignoranz eben bzw. die Weigerung, Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Aber das hat bei Ihnen offensichtlich System.

Ronald Lehmann | Mi., 5. April 2023 - 13:04

Statt das der Staat sein Geld, seine Steuer-Einnahmen effektiv mit Wirkungs-Effekten, Anreizen & übersichtlichen Strukturen ausstattet, damit ein sparsamer aber wirkungsvoller Effekt zum Wohle des Staates & seines Volkes erzielt wird - Fehlanzeige.

Es bleibt ein Traum wie das schaffen von gleichen Rahmenbedingungen wie z.B. Besteuerung der Großunternehmen, die gerade Mal zwischen 20-30% liegt.
Oder Kindergeld, wo bei 6000€ & mehr das gleiche gezahlt wird wie bei den unteren Einkommen.
Oder bei den ?, die mehr als behinderte Kinder bekommen, weil sie Kindergeld in Alkohol & Drogen verwandeln & der väterliche Staat bis über 30.000€ Mittel für die behinderten Kinder ausgibt.
Ein weiteres Problem ist die Umwandlung des Sozialen in ein lukratives Geschäfts-System, weil es wie beim Wohnungs-Geld um viel Knete geht.
Arbeitsamt übernimmt für Afrikanerin mit 5Kindern die Miete von fast 1.400 € mit NK. & hat seit 2015 noch nie gearbeitet.

Noch Fragen zur d. Regierung?
Fragen sie mal Rentner

Hans Jürgen Wienroth | Mi., 5. April 2023 - 14:04

Wir sind ein reiches Land sagen die Politiker noch immer, aber warum müssen wir dann so viele Schulden machen, so viele „Sondervermögen“ (Sonderschuldenhaushalte) einrichten? Weil wir keinen Überblick über unsere Ausgaben haben und das Geld unserer Kinder großzügig verteilen, nicht nur im Lande. Schließlich beschenken wir auch die armen Länder auf diesem Globus nicht nur mit unserem überheblichen Moralismus.
Wie stellen wir sicher, dass die Grundsicherung bei den Kindern tatsächlich ankommt und nicht nur zusätzliches Einkommen für die Eltern ist? Von SPD-Chefin Esken kommt der Hinweis, „betroffene Eltern hätten schlicht etwas Besseres zu tun, als die schwer durchschaubaren Anträge auszufüllen, das zeichnet ein verheerendes Bild – nicht von Eltern, sondern von der Politik“ zitiert Funke-Medien. Wird das Geld ohne Antrag an alle Eltern verteilt, damit es jeder Bedürftige bekommt? Das Geld muss unter die Leute, auch wenn man zu faul für den Antrag ist, denn helfende Hände gibt’s genug.

Maria Arenz | Mi., 5. April 2023 - 14:52

sondern auch Armut liegt demnach im Auge des Betrachters. Daß an den Meßlatten, die Rot-Grün & Co anlegen, um zu immer skandalöseren Armutsquoten zu kommen, etwas grundsätzlich faul sein muß, wurde mir klar, als ich einmal ausgrechnet habe, daß sogar ich -bei durchaus komfortablen Lebensver-hältnissen plötzlich "arm" wäre, wenn Bill & Melinda Gates in meine Stadt ziehen würden. Inzwischen ist wohl hinreichend klar, daß es bei diesem Ansatz garnicht um die Beseitgung von Armut geht sondern um die Tarnsformation in ein Gesellschaftskonzept - Sozialismus- das inzwischen schon so oft gescheitert ist, daß man m.E. über den Entzug jedenfalls des passiven Wahlrechts derjenigen nachdenken sollte, die diese Sau immer noch durch's Dorf treiben. Entweder sind sie schlicht doof oder sie haben einfach Übles im Sinn.

Brigitte Simon | Do., 6. April 2023 - 06:59

Überweist Frau Paus die Kinder-Grundsicherung direkt auf das, von den Eltern speziell für die Kinder eingerichtetes Sparkonto? Oder...