- Berlin, Mystik, Influencer
Wer in letzter Minute noch ein Weihnachtsgeschenk sucht oder den passenden Lesestoff für die Zeit zwischen den Feiertagen noch nicht gefunden hat, kann sich von den Büchern inspirieren lassen, die die Mitarbeiter der Cicero-Redaktion in diesem Jahr beeindruckt haben.
Seltsame Hauptstadt
Wenn man wie ich in der Hauptstadt zuhause ist, sollte man sich nicht unbedingt auch noch im Urlaub mit ihr beschäftigen. Berlin ist schließlich anstrengend genug – und ein paar Tage im Jahr „ohne“, das tut schon ganz gut. Insofern hat es mich selbst ein wenig verwundert, dass ich diesen Sommer an der kroatischen Mittelmeerküste ausgerechnet Jens Biskys Opus magnum mit im Gepäck dabei hatte. Sein knapp tausend Seiten starkes Werk „Berlin – Biografie einer großen Stadt“ ist wahrscheinlich aber auch schlicht zu umfangreich, um es außerhalb der Ferienzeit halbwegs am Stück lesen zu können. Empfehlenswert ist es auf jeden Fall, übrigens auch für Nicht-Berliner. Denn Bisky hat nicht nur eine umfassende Geschichte Berlins von den Anfängen bis zur Gegenwart vorgelegt. Sein Buch ist auch mit wunderbar leichter Feder (beziehungsweise Tastatur) geschrieben, ohne es an Gründlichkeit missen zu lassen. Das Objekt seines Interesses hat eine populärhistorische Würdigung durchaus verdient, denn ihre vielen Brüche und die knapp drei Jahrzehnte währende Teilung machen die Stadt einerseits zum Pars pro toto des gesamten Landes. Und erklären andererseits, warum viele Deutsche bis heute ein sehr ambivalentes Verhältnis zu ihrer seltsamen Hauptstadt haben. Letzteres gilt nicht zuletzt für mich selbst. Aber spätestens nach der Lektüre von Biskys Berlin-Biografie fällt einem auf, dass es auch ein Privileg sein kann, hier leben zu dürfen. Alexander Marguier
Jens Bisky: „Berlin – Biografie einer großen Stadt“. Rowohlt, Berlin 2019. 976 S., 38 €
Neue Heilswege in weltlicher Not
Wenn Reiche stürzen und Welten untergehen, gibt es, wie wohl immer im Leben, zwei Möglichkeiten: Entweder man lässt sich mit dem Strudel fortreißen und strandet am Ende als zynische Spottdrossel vor den Toren Babels. Oder man macht es wie Benedikt von Nursia: Der Heilige aus der Nähe von Spoleto in Umbrien nutzte den Untergang Westroms, um in Zeiten äußerer Bedrängnis innere Freiheit zu entdecken. Als Gründer der Abtei Montecassino und als Vater des christlichen Mönchtums hat Benedikt inmitten des großen Umbruchs seiner Zeit einen Weg geebnet, den noch viele nach ihm gehen sollten: die scara paradisi, die Himmelsleiter zur geistigen Weite. Denn man muss alte Denkmuster verlassen, um neue Heilswege zu finden. Der Historiker Volker Leppin erzählt in seiner äußerst lesenswerten Geschichte der christlichen Mystik von Menschen, die gerade in der weltlichen Not zum Kern einer neuen Wesentlichkeit vordrangen. Dabei hing es oft nur von Zufällen ab, ob sie – wie etwa Franz von Assisi – später wie Heilige verehrt wurden, oder ob ihnen – wie Meister Eckhart – schon zu Lebzeiten vor der Inquisitionskommission der Prozess gemacht wurde. Man kann also nach dem Guten streben, wie man will; am Ende entscheiden andere darüber, ob das eigene Gute auch das Richtige war. Ralf Hanselle
Volker Leppin: „Ruhen in Gott. Eine Geschichte der christlichen Mystik“. C.H. Beck, München 2021, 476 S., 32 €
Schreiben als Rettung
In Dänemark gehörte sie bereits zu den bekanntesten Schriftstellerinnen, als sie Mitte der sechziger Jahre ihre Kindheitserinnerungen verfasste. 2021 ist Tove Ditlevsen endlich, mehr als 50 Jahre nach Erscheinen von „Kindheit“, dem ersten Teil ihrer „Kopenhagen-Trilogie“, auch in Deutschland wiederentdeckt worden. Ditlevsen, 1917 geboren, wächst in einer Arbeiterfamilie auf, der Vater ist oft arbeitslos, das Leben armselig. Ein Mädchen kann kein Dichter werden, erklärt der Vater. Gegen alle Widerstände, der Familie, der Herkunft, der Rollenbilder, gelingt ihr genau das. Allein Sätze wie diese: „Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg ...“ Oder dieser über die Kindheit, die mit der Zeit „dünn und platt wie Papier“ wird: „Sie war müde und fadenscheinig, und an schlechten Tagen sah es nicht so aus, als würde sie halten, bis ich erwachsen war.“ Tove Ditlevsen schreibt in einer nüchternen Radikalität über ihr Leben und findet dafür eine gleißende Härte der Sprache. Auch wenn sie das Schreiben als Rettung empfindet, das Leben gelingt ihr nicht: vier gescheiterte Ehen, Medikamentenabhängigkeit, Depressionen, Psychiatrie. 1977 hat sie sich mit 58 Jahren das Leben genommen. Ulrike Moser
Tove Ditlevsen: „Kindheit“. Aufbau, Berlin 2021. 118 S., 18 €
Kobolde am Strand von Malakka
Im malaiischen Malakka achten die Menschen darauf, dass ihre Kinder nach Sonnenuntergang nicht am Strand spielen, da Kobolde sie sonst rauben würden. Gesehen hat die Kobolde noch keiner, aber man weiß von ihrer Existenz, weil sie eine Duftwolke hinterlassen. Das sagen die Einheimischen jedenfalls. Mein Buch des Jahres ist „Fliegen ohne Flügel“ von Tiziano Terzani. Mein Exemplar gehört zur 21. Auflage aus dem März 1998, so steht es auf der dritten Seite. Ich las es im August am italienischen Gardasee, auf einer Terrasse in einem kleinen Dörfchen oberhalb von Limone Sul Garda. Eine Freundin hatte uns eingeladen, sie zu besuchen; ins Haus ihrer verstorbenen Großmutter. Der Ausblick vom Berg auf den See war genauso wunderbar wie die Ruhe, weil man nicht viel machen kann dort oben. Ein sehr guter Ort also, um zu lesen. Morgens bei einem Cappuccino, tagsüber bei einem Aperol Sprizz, abends bei einem Glas Valpolicella Ripasso. In „Fliegen ohne Flügel“ schildert Terzani, geboren in Florenz und langjähriger Korrespondent des Spiegel, eine ungewöhnliche Reise durch Asien. Nur mit Schiff, Bus und Bahn war er unterwegs, wegen der Warnung eines Wahrsagers, bloß nicht in ein Flugzeug zu steigen, weil er sonst sterben würde. „Fliegen ohne Flügel“ ist ein ebenso politisches wie spirituelles Buch. Einerseits schildert Terzani die großen Umbrüche in einer Region, deren Bewohner zunehmend die Orientierung verlieren im Spannungsfeld zwischen materialistischer Moderne und jahrhundertealten Traditionen. Vor allem die Chinesen kommen bei Terzani nicht gut weg, mit ihrem Geschäftssinn, ihrem Drang nach Expansion und den Bordellen und Fabriken, die sie an den schönsten Orten der Region errichten. Andererseits besucht Terzani allerlei Mystiker und sagenumwobene Orte und sammelt schöne und schauerliche Legenden – wie die von den Kobolden am Strand von Malakka. Ein lesenswertes Stück Zeitgeschichte, das auch eine kleine Achterbahnfahrt durch die Gefühlswelt des Autors ist, der sich damals schon ehrlich sorgte um „sein“ schönes Asien. Ben Krischke
Tiziano Terzani: „Fliegen ohne Flügel. Eine Reise zu Asiens Mysterien“. Goldmann, München 1998. 478 S., 11 €
Zwischen Volksbühne und Hausbesetzer-Disco
Die Dramatikerin Rebekka Kricheldorf lässt in ihrem ersten Roman das Berlin-Friedrichshain der Mitt-90er-Jahre wieder auferstehen – als die Geisteswissenschaftsstudenten die preiswerten Altbauwohnungen mit Kohleofen bereits übernommen hatten, die Backpack-Touristen aber noch nicht da waren und die Simon-Dach-Straße noch keine Partymeile war. Die siffigen Kneipen, die Studenten-WGs, die betrunkenen Partygespräche, die mal mehr, mal weniger erfolgreichen Flirtversuche, die Feierszene zwischen Volksbühne, Russen-Bar und Hausbesetzer-Disco – all das ist so geschildert – so deprimierend und gleichzeitig so hochkomisch –, wie es wirklich war; ich weiß das, denn ich habe in diesem winzigen historischen Zeitraum ebenfalls auf diesem winzigen Fleckchen Erde gelebt und den Weg der Autorin mehr als einmal gekreuzt. Die skurrilen Gestalten, die Kricheldorf auftreten lässt, haben sich seinerzeit zwischen Rigaer und Revaler Straße tatsächlich herumgetrieben. Den Fehler, die Autorin mit ihrer Ich-Erzählerin Larissa gleichzusetzen, sollte man aber nicht begehen. Macht diese im Roman stets einen großen Bogen um die Universität, um sich allein ihrem Lotterleben hinzugeben, kann ich bezeugen, dass jene ihre Seminare regelmäßig und gewissenhaft besuchte. (Hier bitte ein Lachsmiley hinzudenken.) Ingo Way
Rebekka Kricheldorf: „Lustprinzip“. Rowohlt, Berlin 2021. 240 S., 20 €
Von Patrick Bateman zum Kreativkapitalismus
Das Kino birgt prophetische Kraft. In den 1920ern sah der Filmtheoretiker Siegfried Kracauer im Kino der Weimarer Republik den faschistischen Aufstieg vorformuliert. An Kracauer anknüpfend, sehen Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt im Kino der 1990er und 2000er Hinweise auf das Internetphänomen der Influencer, dessen Entstehung die Autoren stringent aus dem Strukturwandel des Kapitalismus vom Fordismus zum Kreativkapitalismus ableiten. Ist Patrick Bateman aus „American Psycho“ mit seinem Warenfetisch nicht ein Vorläufer der jungen Menschen, die in den sozialen Netzwerken Geld damit verdienen, ihren Followern ihren Alltag zu zeigen und dabei Produkte zu bewerben? Und so, wie das Reality-TV-Fernsehpublikum in Peter Weirs „Truman Show“ aus „seinem banalen Alltag in den ebenso banalen Alltag von Truman“ flieht, so wird den Influencern gefolgt, „nicht weil sie eine Gegenwelt auftun, sondern weil sie die Welt ihrer Follower verdoppeln; lediglich etwas geglättet, (…) damit die unendliche Langeweile im Spätkapitalismus nicht ganz so sehr auffällt.“ Ein Kapitel heißt in Anspielung auf Bertolt Brecht „Der gute Mensch von Instagram“: Im Influencertum reichen zwischen all den Produktplatzierungen ein paar „positive Beiträge“ über Klimapolitik und Diversität zur moralischen Reinwaschung. Doch die Fetischisierung des Positiven macht blind für systemimmanente Widersprüche. Heraus kommt nicht zuletzt auch eine existenzielle Aushöhlung: „Ein trauriges Dasein, das sich nicht einmal mehr Traurigkeit zugesteht.“ Ulrich Thiele
Ole Nymoen & Wolfgang M. Schmitt: „Influencer. Die Ideologie der Werbekörper“, Suhrkamp, Berlin 2021. 192 S., 15 €
Liebevolle Distanzlosigkeit
Zu Weihnachten ins alte k.u.k. Wien – und in die endlosen sprachgewaltigen Sphären von Karl Kraus. Zahllose Biographien über den großen Aphoristiker sind in den letzten Jahrzehnten erschienen, zuletzt eine monumentale von Jens Malte Fischer mit dem Titel „Der Widersprecher“. Kein Biograph zeichnete Kraus‘ Lebensweg aber mit einer vergleichbar liebevollen Subjektivität und Distanzlosigkeit nach wie der österreichische Schriftsteller Hans Weigel in seinem Buch „Karl Kraus oder die Macht der Ohnmacht“ aus dem Jahr 1968. Beide Österreicher, beide Juden, beide mit enormer Renitenz ausgestattet und mit einer ausgeprägten Liebe zur deutschen Sprache. In dieser Biographie kommt vor allem einer zu Wort: Kraus in seiner Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit. Falls Sie also Kraus und die deutsche Sprache lieben und nicht jedes biographische Detail für bare Münze nehmen wollen, gehen oder surfen Sie ins nächste (Online-)Antiquariat und tauchen Sie in die Welt des „größten und strengsten Mannes ein, der heute in Wien“ lebe, wie Elias Canetti Kraus einst charakterisierte. Jonas Klimm
Hans Weigel: „Karl Kraus oder die Macht der Ohnmacht“. Dtv, München 1968. Nur noch antiquarisch erhältlich
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.
Bekanntlich bin ich einer der größten Bücher-Fans WO gibt.
Jedoch würde mich keines dieser vorgeschlagenen Bücher vom Hocker reißen, ein must-have sein; nee.
Ich bin kein Weihnachtsmensch, sagt man so?
Lediglich Tochtern & Brudern bekommen ein Geschenk => jeweils EIN BUCH!
Es gibt in der Tat Zeitgenossen, welche mit dieser Print-/Hardware noch kompatibel sind!
Heute würde der geniale Franz Zappa 81!
Er schrieb zwar keine Bücher, jedoch gibt es etliche Druckwerke qua ihm.
"Dä Wörds" = Die Wörter
Die Übersetzungen seiner ollen Songtexte.
Das war nie politisch korrekt u schon gar nicht genderbar!
Camarillo Brillo - "don´t eat the yellow snow!"
Ein Buch!
Ich denke, dass die Lockdowns den kleinen, örtlichen Buchhandlungen "abträglich" waren.
Eine der beiden Buchhandlungen machte im Frühjahr dicht; AUS!
Ich ende mal wieder mit Loriot:
"Ein Leben ohne Mops (= Buch) ist möglich, aber sinnlos!"
Wird es eine Zeit/Welt ohne Bücher geben?
"Bücher waren DAMALS ..."
Aha, soso ....