- „Die City respektiert keine Aura“
Wer durch Berlin flaniert, hat jedes ästhetische Schmerzempfinden verloren. Als Flaneur muss man hier ein Stoiker sein. Trotzdem erschrickt auch Stefan aus dem Siepen bei seinen Streifzügen durch die Hauptstadt
Da ich regelmäßig durch Berlin flaniere, ist jedes ästhetische Schmerzempfinden in mir erloschen. Als Flaneur muss man hier ein Stoiker sein, unerschütterlich seinen Weg durch die optischen Schrecknisse nehmen. Erstaunlicherweise zucke ich trotzdem noch manchmal zusammen, so letztens bei einem Spaziergang auf der Tauentzienstraße. Der Glockenturm der Gedächtniskirche ist mit riesigen Werbeplakaten verhängt – Huawei darf die frohe Botschaft einer neuen Kamera verkünden. Gewiss, das kennt man: Die Kirche wird renoviert, also liegt es nahe, sie in eine Litfaßsäule zu verwandeln. Auch kann man nicht bestreiten, dass der Glockenturm schon in unverhülltem Zustand wenig ermutigend aussieht. Die Architektur gehört zum Trübsten, was die fünfziger Jahre uns hinterlassen haben, erfüllt den Tatbestand der Gotteslästerung. Und doch …
„Die City respektiert keine Aura“, schrieb Hannelore Schlaffer. In der demokratischen Stadt besitzen alle Gebäude den gleichen Rang oder vielmehr überhaupt keinen. Was früher die maßgeblichen Bauwerke waren, die der Stadt so etwas wie einen Charakter vorgaben, das Rathaus, das Theater, das Schloss, verliert sich im Brei des Bestands. Das Museum darf den Kopf nicht höher tragen als das Bürogebäude, das Stadttor ist ebenso von parkenden Autos umzingelt wie der Aldi-Markt im Baustil einer Hundehütte. Und alles und nichts wird zum Gerüst für ein Werbeplakat, der Unterschied zwischen Hauswand und Plakatwand ist nur theoretisch. Rangfolgen entstehen allenfalls durch Quadratmeterzahlen. Huawei bepflastert eine ganze Kirche und ist die Nummer eins.
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Oder es ist eben nicht funktional. Eine Hühnerbatterie ist ebenso unethisch, unästhetisch aber halt funktional und bringt den höheren Erlös. Reicht doch das alte Gemäuer unter Denkmalschutz zu stellen, ggf. zu restaurieren und so der touristischen Vermarktung zuzuführen!
Wer von den Einheimischen hat bei einem Haupt-und zwei Nebenjobs noch die Muse, die Leistung und einmalige Schönheit solcher oft Lebenswerke damaliger Künstler und Architekten zu würdigen? Dazu musste auch ich erst mit den Denkmälern vergangener Zeiten "altern". Gerade aus Wien zurück bin ich noch geradezu erschlagen von der Kunst dieser Schätze der Menschheit und auch dem merklich anderen Stolz und Respekt, den die Wiener ihren historischen Bauwerken zollen. Sogar auf jedem noch so hässlichen Nachkriegs-Sozialbau steht in sichtbaren Lettern Baujahr, Erbauer, Widmung und Zweck. So hält man m.E. auch als "Stadtobere" die Erinnerung und die Bindung zum Bürger wach. Ergebnis, eben Aura!
MfG
Das Bürgertum ist ab dem 20. Jh. primär eines der Wirtschaft und betet damit sich selbst an (über Wolkenkratzer z.B.) und zugleich hasst es diese Selbstanbetung und verbietet gemäß der Gleichheit dieses NEUE Höhere. Rathäuser und können mit Banktürmen ohnehin nicht mithalten. Das sollte man nicht vergessen. In diesem Widerspruch verstrickt weiss das nunmehr seit 100 Jahren ob seiner neuen Macht verzagte Bürgertum keinen anderen Ausweg als die vielerorts rigorose Gleichheit in der Höhe neuer Bauten. Problematischer ist aber der fehlende Festbezug der Strassen- und Plätzegestaltung nach 1918. Sich selbst unmittelbar zu feiern geht nicht, also feierte man seit 1300 über die Fest- Fassaden die örtl.Königstrassen im Licht göttl.Vernunft, also sich nur indirekt. Politischen und liberalistischen, auf reine Effektivität setzenden Geistern war das ein Dorn im Auge, sodass Werbung die Festfassaden ersetzte: vordergründig war das erfolgreich, real aber ein Desaster, wie jeder zumindest erahnt.