Die Humboldt-Universität an der Straße Unter den Linden in Berlin.
Deutsche Universitäten: Ein Hort der Meinungsfreiheit? / picture alliance

Political Correctness - Wissenschaft als Charakterfrage

Hat der Feueralarm, der den Vortrag von Geburtstagskind Jürgen Habermas in Frankfurt unterbrach Symbolcharakter? Die Debattenkultur an den Universitäten verarmt stetig und verlagert sich in das Internet. Ein gefährlicher Trend, findet unser Autor

Porträt Mathias Brodkorb

Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Anlässlich des 70. Geburtstags des Grundgesetzes veranstaltet die deutsche Allianz der Wissenschaftsorganisationen eine Kampagne zur Würdigung und Verteidigung der durch die Verfassung garantierten Wissenschaftsfreiheit. Ihr Angebot und praxisrelevanter Tätigkeitsnachweis an den Rest der Republik: ohne Wissenschaftsfreiheit auch keine Demokratie. Ach wie wunderbar, wenn das denn richtig wäre!

Zunächst klingt das ja auch ganz plausibel: Mit der Ablösung des Feudalismus durch die bürgerliche Demokratie sollte eine Verallgemeinerung des Herrschaftsanspruchs auf prinzipiell alle Bürger einhergehen. Diese vielen benötigten allerdings etwas Gemeinsames, auf das sie sich verständigen konnten – jenseits aller bisherigen Autoritäten. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die Aufklärung und mit ihr die Vernunfttätigkeit und Wahrheitssuche zum geistigen Nukleus dieser neuen Epoche zu erklären.

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helmut armbruster | Do., 20. Juni 2019 - 08:47

wieso sollte ich mir vorschreiben lassen, was ich denken, tun und äußern darf und was nicht?
Solange ich die Rechte anderer nicht verletze, niemanden beleidige und höflichen und friedlichen Umgang mit jedermann pflege, so lange brauche ich niemand, der mir sagt, was korrekt ist und was nicht.

Gisela Fimiani | Do., 20. Juni 2019 - 11:21

Eine zutreffende Beschreibung, Herr Brodkorb, dessen was ist und woran es krankt. Es ist letztlich in der Tat eine „Charakterfrage“ derer, die sich Politiker, Journalisten, Wissenschaftler nennen. Daher halte ich es für die vordringlichste Aufgabe der deutschen Schönwetterdemokraten sich darüber Klarheit zu verschaffen, dass die kritische Diskussion die Grundlage des freien Denkens des Einzelnen ist. Die Demokratie muss die Gedankenfreiheit gewährleisten. Statt des Prinzips „füge keinen Schaden zu“ sind „höhere Ziele“ in Mode, die den Egoismus des Einzelnen durch den Altruismus des Kollektivs ersetzen, dessen historische Mission es ist, Helden auf der Bühne der Geschichte zu werden, wofür Opfer zu bringen sind. Das ist die zweifelhafte Moral jener, die sich nicht nicht um das Volk kümmern, sondern als politische oder intellektuelle Oligarchen über das Volk erheben. „Das Volk wird am besten genasführte mit der Moral“ sagte Nietzsche.

Heidemarie Heim | Do., 20. Juni 2019 - 12:05

Herr Brodkorb mit seinem hier zweiten, in die Tiefe gehenden sowie die Hintergründe beleuchtenden Artikel, beschreibt m.E. den Fall in die eigene Grube, die sich die universitären Wissenschaftler nach und nach schaufelten. Man war sich allzu sicher, das auf Grundlage der Wissenschaft erlangte Fakten und deren Darstellung ausreichen würden. Oder das wie im oben beschriebenen Fall der Geisteswissenschaft ein fundierter Austausch wie er in den Kreisen früherer Zeiten üblich war, heute so noch stattfinden kann. Ich denke man hat unterschätzt wie schnell man selbst aus dem bis dahin hohen sicheren sowie exklusiven Hort fallen kann, sich wissenschaftliche Freiheit oder Unabhängigkeit und Zusammen/-Rückhalt als trügerisch erweisen könnten. Auch sah man aus einer evtl. zu hohen Warte nicht den digital-medialen Einfluss auf die Meinungsbildung innerhalb der Studentenschaft und der Allgemeinheit schlechthin, die heutzutage den Takt vorgibt und dem "ausnahmslos" zu folgen ist.
Negativ-Trend 2.0!

Gisela Fimiani | Do., 20. Juni 2019 - 12:20

Fortsetzung:
Die romantische Horde schwingt sie deshalb mit Wollust, denn sie fühlt sich im Recht. Die Kantsche Idee der Selbstbefreiung durch das Wissen, wird ersetzt durch selbsternannte Propheten, hinter deren Rechtgläubigkeit sich in Wahrheit die Laster der Arroganz, Rechthaberei, Eitelkeit, Ehrgeiz und Feigheit verstecken. Sie verraten den Geist der Aufklärung. Besonders Intellektuelle haben in der Geschichte großen Schaden angerichtet, weil sie für diese Laster anfällig sind. Diese Oligarchen wollen die „neue Klasse“ bilden, die ihre Untertanen belügt und ihnen misstraut, aber ihr Vertrauen verlangt, die sich in eklatantester Art anmaßt, die Zukunft zu kennen und eine zynische Geschichtsauffassung vertreten (wir leben in einer moralisch bösen Gesellschaft). Statt dessen sollte es um die Erkenntnis gehen, das die Demokratie die schwierigste Regierungsform ist. Wenn wir überhaupt die Moral bemühen, sollte sie als einzig mögliche Begründung für die demokratische Staatsform dienen.

Gisela Fimiani | Do., 20. Juni 2019 - 12:34

Weiter....
Es gilt die Diktatur, die Tyrannis, die Despotie zu verhindern, sei es die einer Minderheit oder der Mehrheit. Begreifen wir die Demokratie nicht als Volksherrschafft, sondern vor allem als Institution, die keine Diktatur ähnliche Herrschaft, keine Akkumulation von Macht erlaubt und sich von einer schlechten Regierung durch Abwahl befreien kann.
Demut, Sebstkritik und das Zugeständnis NICHT zu wissen, sind die Charaktereigenschaften, auf die unsere Demokratie dringend angewiesen ist.

Jürgen Keil | Do., 20. Juni 2019 - 14:33

Ich habe in meinem Bekanntenkreis einen Hochschullehrer, der im öffentlichen, speziell im dienstlichen Raum sich jeder Äußerung der eigenen politischen Meinung enthält. Wenn er nicht umhinkommt, dann sagt er was gewünscht wird. Warum? Er ist Beamter. Er hat sogar davor Angst, dass man, bei einem "politisch nicht korrekten" Verhalten, seine Pensionsansprüche beschneiden könnte. Angst, wie in der DDR. Wenn der Dampfdruck zu hoch wird, hebt sich der Deckel (Leipzig 1989).

Klaus Dittrich | Do., 20. Juni 2019 - 22:40

Antwort auf von Jürgen Keil

"Wenn der Dampfdruck zu hoch wird, hebt sich der Deckel (Leipzig 1989)."
Aber eben auch nur im Osten; s. AfD-Wahlerfolge. Im Westen wurde vermutlich die Vogel-Strauß-Politik verinnerlicht.

Dorothee Sehrt-Irrek | Mo., 24. Juni 2019 - 12:36

Antwort auf von Jürgen Keil

was man sagt und denkt als Staatsbediensteter und da die AfD wahrscheinlich nicht nahtlos in unsere Tradition der parlamentarischen Demokratie mit den Erfahrungen des 3. Reiches passt, aber keine auffallenden Anstalten macht, sich als Partei klarer zu äußern und entschiedener zu distanzieren, würde ich Mitgliedern der Partei oder Anhängern, die selbstkritisch in ihrer Partei darauf hinarbeiten möchte, raten um-sichtig zu sein und, wenn ich das VON AUSSEN sagen darf und mit den Erfahrungen VON LINKS zur Zeit der RAF, geht es eben nicht darum "Kreide zu fressen" und eine Haltung vorzutäuschen, sondern sich zu PRÜFEN und gegebenenfalls zu ÄNDERN. Die RAF machte den Unterschied.
Selbstbestimmung bei Kant ist nicht das Recht auf sich selbst.
Der Osten hatte die friedliche Revolution, davor für die Meisten 40 Jahre lang "Sprechverbot".
Es ist weise, sich immer wieder zu befragen und sich klar zu distanzieren, wenn Fehlentwicklungen deutlich werden.
RESPEKT BESONNENHEIT VERANTWORTLICHKEIT

Markus Michaelis | Do., 20. Juni 2019 - 15:35

Man sollte Fragen der Politik und Demokratie nicht zu sehr mit Wahrheit und WIssenschaft vermischen. Natürlich ist es Unsinn politisch etwas zu fordern, was technisch unmöglich ist. Aber darum geht es normalerweise nicht. Gesellschaftliche Fragen haben etwas mit menschlichen Präferenzen und Normensystemen zu tun und diese haben erstmal nichts mit Wissenschaft zu tun. Demokratie ist dabei kein Weg zur Wahrheitsfindung, sondern ein politischer "Mechanismus" in einer Gemeinschaft aus vielen und unterschiedlichen Menschen zu Entscheidungen zu kommen. In D hat es sich zu sehr eingebürgert im Sinne von "richtigen" Werten zu denken (Europa, Menschrechte, Gleichberechtigung etc.) und alles dreht sich darum diese richtigen Werte durchzusetzen.

Realistischer ist es, dass erstmal nichts klar ist und Menschenrechte, Gleichberechtigung etc. einige extreme Auswüchse verhindern sollen.

Ist das klar, bleibt auch Wissenschaft ungestörter, als die Beschreibung dessen, was man sieht.

Ernst-Günther Konrad | Do., 20. Juni 2019 - 19:16

ein sehr guter tiefgründiger Artikel Herr Brodkorb.
Wir brauchen uns nicht fragen, ob ein gesellschaftlicher Wandel bevorsteht. Nein, er ist in vollem Gange. Sie beschreiben nur einen wesentlich Teil merkbarer Systemveränderungen. Einerseits soll Wissenschaft neutral sein und allumfassend alle denkbaren Erklärungsansätze und Nachweise liefern, andererseits legt sich selbst Beschränkungen auf, in dem sie eine Vorauswahl trifft, welche Meinungen "genehm" sind am wissenschaftlichen Diskurs teilzunehmen und wer nicht. Die politische Moral entscheidet also für die Wissenschaft was Grundlage ihrer Erkenntnisse zu sein hat. Für- und Gegensprecher werden nicht mehr konfrontiert mit ihren Aussagen. Nur noch derjenige, welcher im politischen Diskurs die politisch korrekte Meinung vertritt kann diese auch im wissenschaftlichen Diskurs vertreten.
" Wissenschaft und Journalismus sind eben immer auch eine Charakterfrage – gerade im digitalen Zeitalter des Populismus."
Wer hat denn noch Charakter?