- Die Buchtipps der Redaktion
Weihnachten steht an und damit die heikle Frage: Haben Sie schon alle Geschenke zusammen? Für die Kurzentschlossenen haben wir hier noch ein paar Literaturtipps. Klassiker und Neuerscheinungen, die die Cicero-Redaktion in diesem Jahr besonders begeistert haben
Joachim Lottmann: Alles Lüge
Dieses Buch ist wie eine Kuscheldecke, in die man sich wickeln konnte. Warmherziger Witz beim großen Thema, über das man sich bis ins Private die Köpfe heiß redete oder verbal einschlug, zerstritt. Und hier diese humorvolle Abhandlung über den Wahl-Wiener Lohmer und dessen Ehefau Harriet, die dauernd über die Flüchtlingskrise streiten – oder eben auch nicht, wenn sich Lohmer ein Widerwort verkneift, weil er auf Sex am Abend hofft, den er sich sonst verscherzt. Endlich einmal lachen bei diesem Sujet, ach tat das gut. Ein Vademecum des Trostes, diese perlend geschriebene Schelmiade, die ganz offenkundig von den Eindrücken des Autors in seinem Privatleben gespeist ist. Christoph Schwennicke
Daniel Kehlmann: Tyll
Dass Till Eulenspiegel mehr sein kann als die schlichte Narrenfigur aus einem Kinderbuch beweist Daniel Kehlmann in seinem Roman Tyll. Ein Schelmenporträt des 30-jährigen Kriegs. Eine Epoche der Brutalität, des Aberglaubens sowie der beginnenden Suche nach Erkenntnis. Ein grausamer Gewaltexzess, der Europa bis heute prägt. Mittendrin Tyll Uhlenspiegel, der Narr, der Gaukler, der seine Späße mit den Mächtigen genauso treibt wie mit den einfachen Leuten. Der nicht sterben will und doch alt und müde wird. Christoph Seils
Garth Risk Hallberg: City on Fire
New York 1977, die Stadt ist pleite, die Spekulanten setzen auf warmen Abriss, indem sie Häuser anzünden, damit sie geräumt werden. In irgendeinem Kellerloch lässt sich eine Punkband feiern. Natürlich darf Heroin nicht fehlen. Gewalt und Rebellion, Liebe und Verrat, Hoffnung und Illusion. Und irgendwann geht das Licht aus, bei jenem legendäre Stromausfall, der die Hauptsstadt der westlichen Welt vor 40 Jahren für eine Nacht lahm legte. Das ist der Rahmen für einen großartigen Epos, der zugleich anrührender Familienroman und vielschichtiger Krimi, ein monumentales Stadtporträt und eine fulminante Abrechnung mit der kapitalistischen Moderne ist. Alles kumuliert in den Lebensgeschichten von etwa einem Dutzend Personen, die schicksalhaft miteinander verwoben sind und sich gemeinsam auf den Moment zubewegen, im dem plötzlich alles dunkel wird. Christoph Seils
Gilbert Keith Chesterton: Der Mann, der zu viel wusste
Nein, Gilbert Keith Chesterton schuf nicht nur den gemütvollen Father Brown. Und nein, „Der Mann, der zu viel wusste“ ist nicht nur der Titel eines Hitchcock-Films von 1956 mit James Stewart in der Hauptrolle und eines Hitchcock-Films von 1934 mit Peter Lorre. „Der Mann, der zu viel wusste“ war 1922 bei Chesterton ein adliger Ermittler namens Sir Horne Fisher. Zu viel weiß dieser Fisher, weil er qua Geburt und Umgang die allerhöchsten Kreise Englands kennt, in denen sich in diesen acht Kriminalgeschichten allerhand Morde ereignen. Fisher ermittelt in seinem eigenen Umfeld und gegen dieses. Das kann nicht gut ausgehen. Wir aber haben in diesem Buch, das wie ein düsterer Findling aus Chestertons heiterem Werk herausragt, eine wunderbar schillernde Zwischen-den-Jahren-Lektüre. Horne Fisher weiß, was wir vielleicht noch lernen müssen: „Der intelligente Mensch unserer Tage akzeptiert nichts bedenkenlos, ist aber bereit, allem zu glauben, was ein Bedenkenträger sagt.“ Alexander Kissler
Peter Kurzeck: Übers Eis
Peter Kurzecks Bücher lernte ich kennen nach Peter Kurzecks Tod, was ich sehr bedaure. Einer der größten Sprachzauberer und Innigkeitsvirtuosen, den die deutsche Nachkriegsliteratur hervorbrachte, starb 2013, natürlich im November. Sein bester von ausnahmslos sehr guten Romanen heißt „Übers Eis“ und erschien erstmals 1997. Er spielt 1984 in Kurzecks Campagna, in Hessen also, Frankfurt vor allem, und enthält Sätze wie: „Immer erst nachträglich weißt du, du warst ein Leben, ein Jahr, einen Tag, einen Abend lang einmal geborgen, gerettet, in Sicherheit.“ „Gegen mich bin ich machtlos, schon immer.“ Der Rest ist Antwort und Verheißung. Alexander Kissler
Christoph Ransmayr: Cox oder Der Lauf der Zeit
Hält man das neue Buch seines Lieblingsautors in den Händen, ist es, als ob man nach langer Zeit wieder einen alten Freund aus einem fernen Land trifft. Einerseits ist die Vorfreude natürlich groß. Andererseits schwingt auch die Angst mit, ob die alte Verbindung noch da ist, ob man sich nicht über die Zeit und die Entfernung doch entfremdet hat. Womit wir gleich bei den Themen dieses Romans sind. Der Uhrmacher Alister Cox, natürlich nicht irgendein dahergelaufener, sondern der beste der Welt, bricht im 18. Jahrhundert in das ferne, fremde China auf. Dorthin hat ihn der Kaiser berufen, Qianlong heißt der und hat von 1711 bis 1799 tatsächlich gelebt. Für ihn soll Cox, der unter anderem eine Uhr gebaut hat, die das relative Zeitempfinden eines Kindes darstellt, die Uhr der Uhren herstellen, deren Uhrwerk ohne menschliches Zutun bis in alle Ewigkeit laufen soll – so unzerstörbar wie die Chinesische Mauer. Um es kurz zu machen: Es ist ein freudiges Wiedersehen gewesen mit Christoph Ransmayr, vor allem weil er seine Kunst mindestens so gut beherrscht wie sein Uhrmacher. Für mich ist der Österreicher der deutsche Sprachweltmeister und sein Buch ein zeitloses Vergnügen. Constantin Wißmann
Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler
Es wird seit der Bundestagswahl viel über die Weimarer Republik geredet. Sechs Parteien im Bundestag, die Unfähigkeit der Parteien, eine Regierung zu bilden – ist unsere so sicher geglaubte Demokratie ähnlich gefährdet wie bei diesem ersten Versuch der Deutschen? Gleichzeitig läuft die Serie „Babylon“über die Endphase Weimars im Fernsehen. Beim gemeinsamen Fernsehgucken fragte mich meine Freundin, sie ist im Ausland aufgewachsen, ob ich nicht ein gutes Buch über diese Zeit hätte. Der Griff ging gleich zu dieser Art Vermächtnis Haffners, das er schon nicht mehr schreiben, sondern nur auf Band sprechen konnte. Vielleicht liegt es auch daran, dass Haffner die Bismarcksche Innenpolitik und die Hitler-Vorzeit so lebendig macht wie eine Netflix-Serie und gleichzeitig scharf und kühl seziert. Marcel Reich-Ranicki schrieb über Haffners Bücher, sie seien „belehrend und sehr unterhaltsam, sie sind von vorbildlicher Klarheit“. Mehr muss man nicht sagen. Constantin Wißmann
Iris Wolff: So tun, als ob es regnet
Ein Roman, aufgeteilt in vier Erzählungen, die allesamt so dicht und trotz aller Sprachverliebtheit stets unaufgeregt, nie unangemessen prätentiös geschrieben und so klug miteinander verwoben sind, dass „Roman in vier Strophen“ ein ebenso treffender Untertitel gewesen wäre. „So tun, als ob es regnet“ beginnt mit der Erzählung um den introvertierten, österreichischen Soldaten Jacob, der im Ersten Weltkrieg im rumänischen Siebenbürgen – Heimat der als Kind nach Deutschland emigrierten Autorin – kämpfen muss und bei der Bauersfrau Alma Zuflucht findet. Aus der Affäre geht ein Kind hervor. Wolff erzählt daraufhin die Geschichte eines Jahrhunderts, über vier Generationen hinweg; im Zentrum stehen die klassischen menschlichen Themen: Sehnsucht, Erotik, Trauer, Fernweh, Entwurzelung – vor dem Hintergrund des kommunistischen Rumänien, des Kalten Krieges und der westlichen Moderne. Der Titel „So tun, als ob es regnet“ ist eine Übersetzung der rumänischen Redensart „se face ca ploua“ und bedeutet in etwa, sich aus dem Augenblick davon zu stehlen. Der Roman selbst ist jedoch mehr als eine bloße Realitätsflucht. Roger Willemsen sagte einst, als Kind hätte er sich stets „raus in die Welt und raus aus der Welt“ gewünscht. Eine ähnliche Dialektik durchzieht auch Iris Wolffs Fiktion: Sie führt einen raus aus der Welt und rein in die Welt. Wunderschön. Ulrich Thiele
Robert Pfaller: Erwachsenensprache
Robert Pfaller – Philosoph, Kulturtheoretiker und Gegner von biopolitischen Genussverboten – arbeitet in seinem (großartigen!) Sachbuch „Erwachsenensprache“ gegen eine Paradoxie unserer Zeit: Gleichzeitig mit der ökonomischen und politischen „Brutalisierung“ in den westlichen Gesellschaften, wird die Sensibilisierung der Sprache vorangetrieben. „Wenn heute jedes fünfte deutsche Kind in Armut lebt und jedes dritte britische Kind, dann haben sich die sozialen Verhältnisse dramatisch, gewaltsam zu einer Umverteilung entwickelt, die die Schwächeren enorm am eigenen Körper spüren“, so Pfaller. Seine These: Die „Political Correctness“ dient als Ablenkungsmanöver, mit dem die massiv zunehmende ökonomische Ungleichheit von der politischen Ebene auf die Sprachebene verschoben und somit entpolitisiert wird. Pfaller zeigt aber auch deutlich: Identitäre Bewegungen und Co. sind nicht die großen Widerstandskämpfer gegen dieses Phänomen, nur weil sie die „Political Correctness“ attackieren. Die Infantilisierung der Sprache ist für den Wiener Philosophen vor allem „eine groteske Verzerrung linker Anliegen“. Sie ist aber nicht der Kern des Problems, sondern dessen Komplize. It’s the neoliberalism, stupid! Ulrich Thiele
Hugo Ball: Flametti – oder vom Dandysmus der Armen
Sehr zum Ärger seiner Fans machte der berühmte Dadaist Hugo Ball vor mehr als hundert Jahren etwas schrecklich Unerhörtes: Er schrieb einen Roman. Wie kann er nur, da alles nur noch dada ist, die derart konventionelle Form bedienen?! Doch unbeirrt schrieb Ball – der sich später ganz dem Katholizismus zuwandte – seine Geschichte über den Zürcher Varietédirektor Flametti. Jeder Zeile entnimmt man, wie sehr dieser Flametti sein Varieté und seine Künstler nicht des Geldes wegen versucht am Leben zu erhalten. Es geht ihm um den Spaß an der Sache. Ein Mann, der l'art pour l'art lebt für seine Ausbrecherkönige, Feuerschlucker, die letzten Indianer vom Stamm der Delawaren und für seine Tiroler Jodler. Hugo Ball vermochte es, diese Erzählung so charmant aufzuschreiben, dass Leser es spüren und verinnerlichen: Diese im Grunde ärmlichen Künstlerfiguren, die einen Traum träumen, der sich kaum erfüllen wird, haben eine unerschöpfliche Würde. Ball wandte sich damals entschieden gehen die Begriffe Menschenmaterial und Lumpenproletariat. Sie seien keine menschenwürdigen Begriffe. Es gebe Würde, selbst im Kleinsten und im Ärmsten. Darum müsse man ihnen auch mit Würde begegnen. Ball behandelt seine Figuren liebevoll und mit Achtung. Er nimmt sie ernst in ihren Bedürfnissen – und begegnet ihnen nicht mit Hohn oder Voyeurismus, wie heute gerne ein Deutschland-sucht-den-Superstar-Prekariat belächelt wird. Flametti ist dabei keinesfalls ein anstrengend moralisierender Roman. Er macht pure Lust, mit dabei gewesen zu sein. Im kleinen Schweizer Nimbus-Verlag ist Flametti als weiteres Kleinod der Reihe „Unbegrenzt haltbar“ erschienen, in der Werke vorgestellt werden, die unberechtigt verschollen wirken und mehr Öffentlichkeit verdienen. Jedes Werk enthält eine bislang unveröffentlichte Besonderheit. Bei Flametti ist es das Nachwort. Der funkelnde Einband macht sich nicht schlecht unter dem Weihnachts- oder Christbaum. Bastian Brauns
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Meinerseits empfehle ich den Roman: "Wie sah HOMER die Trojaner?"
Für facebook-Begeisterte empfehle ich eine Anfrage an Justizminister Maas: "Ist das jugendfrei?"
sehr zu empfehlen:
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Auf diesem Wege:
weihnachtliche Grüße an die Cicero-Redaktion und alle Foristen.
MFG Ingrid Dietz
Finde ich sehr mutig von CICERO, dass Sie auf eines der beiden wichtigsten Haffner-Bücher hinweisen, daneben noch seine "Anmerkungen zu Hitler". Mutig, deshalb, da heute nicht mehr ganz politisch korrekt, wenn man liest, wie er die kritische Zeit so beurteilt, insbesondere Hitlers Anfangsjahre.
Habe beide Bücher vor kurzem noch mal verschlungen. Aus meiner Sicht Geschichtsschreibung at its best.
von vermutlich wunderschönen Büchern.
Wunderbar, haben ich direkt vor een paar Tagen bestellt. Vielen Dank für die vielen, interessanten Artikel im CICERO.
Wünsche der Redaktion sowie allen Kommentator*I*nnen (was für ein Würstelwort!) Frohe Weihnachten und einen guten, gesunden Rutsch ins Neue Jahr.
Beste Grüsse, Truiken K.