- Hobbes lässt grüßen
Die Muslim-Brüder und ihre Hauruckverfassung spalten das Land. Sie offenbaren dabei ihr rudimentäres Demokratieverständnis und sind im schlimmsten Fall auf dem Weg, Ägypten in ein zweites Iran zu verwandeln. Ein Kommentar
Wer in den letzten Wochen in Ägypten war und die Auseinandersetzung um die Verfassungsreform miterleben durfte, fühlte sich in eine Art Hobbes'schen Urzustand von Politik versetzt. Die politischen Fraktionen, die im Kampf gegen Mubarak noch vereint waren, streiten nun miteinander und beginnen ihr wahres Gesicht zu zeigen. Das gilt vor allem für die Partei der Muslimbrüder, die zwar den Präsidenten stellt, aber weit davon entfernt ist, das Land wirklich zu regieren. Um wenigstens eine den Islamisten genehme Verfassung zu beschließen, erließ der Präsident Ende November eine Art Ermächtigungsgesetz, um die von Muslimbrüdern und Salafisten beherrschte verfassungsgebende Versammlung gegen die Auflösung durch das höchste Gericht zu schützen.
Mit dieser Hauruck-Verfassung scheinen die Muslimbrüder die schlimmsten Befürchtungen der säkularen und liberalen Kräfte zu bestätigen. Tatsächlich bekommt man Angst, wenn man die islamistische Presse liest. Unverhohlen wird dort für eine „Säuberung der Medien“ getrommelt, und die Straßenproteste als eine „Diktatur der Minderheit“ bezeichnet, die sich endlich dem gewählten Präsidenten beugen sollen – als würde die bloße Tatsache des Gewähltseins jede Kritik und jeden Protest zu einem undemokratischen Verhalten machen, während der Gewählte selbst machen darf, was er will.
An dieser Argumentation offenbart sich teils die böswillige Verzerrung, teils aber auch ein schlichtes Missverstehen der demokratischen Spielregeln. Die tieferen Gründe dafür sind die Bildungsmisere in der arabischen Welt und die jahrzehntelange Verurteilung der Ägypter zur politischen Apathie. Das Skandalöse an der Verfassungsabstimmung ist ja zunächst gar nicht die Verfassung selbst oder ihr fragwürdiges Zustandekommen, sondern schlicht die Tatsache, dass eine solche Abstimmung bereits zwei Wochen nach Bekanntgabe abgehalten wird. Wer soll, zumal in Ägypten mit einer Analphabetenrate von mindestens 20%, in dieser kurzen Zeit diese Verfassung lesen, geschweige denn verstehen? Viele Wochen mit Informationskampagnen und öffentlichen Diskussion wären nötig, um den demokratischen Mindeststandard an eine solche Abstimmung zu gewährleisten, in einem Entwicklungsland der Demokratie wie Ägypten zumal.
Leider hat sich die liberale Opposition, deren Führung mit einer westlich gebildeten Elite identisch ist, jedoch durchaus weitere Kreise der Bevölkerung anspricht, genauso in ihren ideologischen Gräben verschanzt wie die Islamisten. Viel mehr als ätzende Kritik am Präsidenten hat die Opposition nicht zu bieten. So berechtigt diese Kritik ist: Man versteht, dass das den meisten Ägyptern, die mit dem täglichen Kampf ums Brot ausreichend beschäftigt sind, nicht genügt. Was sie vor allem wollen, ist Stabilität und wirtschaftliche Erholung, der Streit um einzelne Verfassungsparagraphen erscheint ihnen als Haarspalterei. Das Machtvakuum, ja überhaupt die Tatsache, dass Politik verhandelt werden muss, sei es im Parlament, sei es auf der Straße, verunsichert gerade die ärmeren und weniger gebildeten Teile der Bevölkerung zutiefst.
In dieser Situation kehrt bei vielen Ägyptern die Sehnsucht nach dem starken Mann zurück. Für die meisten ist dies leider Präsident Mursi. Deswegen, und weil die Muslimbrüder gerade in der Provinz besser organisiert sind als die säkulare Opposition, dürfte er die Abstimmung über die Verfassung auch gewinnen. Die Demokratie in Ägypten funktioniert vorerst allein nach dem Prinzip „learning by doing“. Hoffen wir, dass sich die Ägypter dabei nicht allzu oft den Kopf anstoßen – und dass die Muslimbrüder nicht das tun werden, was sie in ihrer Presse ankündigen, und den Lernprozess so abrupt beenden, wie es vor über dreißig Jahren in Iran Khomeini tat.
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