- „Der Grexit ist die schlechteste aller Lösungen“
Henrik Enderlein, Professor für politische Ökonomie an der Hertie School of Governance, plädiert vor dem EU-Sondergipfel für ein drittes Hilfspaket für die Griechen, auch wenn er das Verhalten der Syriza-Regierung in den vergangenen Monaten unerträglich fand
Herr Enderlein, einer Ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Funktionsweise von Währungsunionen, seit Jahren sind Sie ein bekennender Anhänger des Euro. Was erwarten Sie vom Gipfel in Brüssel an diesem Wochenende?
Wir werden spätestens bis Sonntag erfahren, was die neuen Vorschläge der Tsipras-Regierung von Donnerstagabend wert sind. Im Augenblick sieht es so aus, als ob die griechische Regierung in letzter Sekunde die Kurve gekriegt hätte. Es liegt jetzt vielleicht der allererste Kompromissvorschlag vor, der die Reformvorstellungen der Troika aufgreift, der aber gleichzeitig auch den Griechen eine Perspektive verschafft über einen Zeitraum von drei Jahren. Das ist sicherlich nicht der bestmögliche Kompromiss. Man hätte, wenn man konstruktiv zusammen gearbeitet hätte, in den vergangenen fünf Monaten mehr für Griechenland und seine Bevölkerung erreichen können. Dass es nicht so gekommen ist, muss aber vor allem die Syriza-Regierung mit ihrem unsäglichen Verhalten verantworten.
Der Grexit wäre Ihrer Ansicht nach also noch abwendbar?
Ich bin weiterhin skeptisch, aber aufgrund der jetzt vorliegenden Vorschläge der Tsipras-Regierung wieder etwas hoffnungsvoller. Die Chancen für eine Einigung stehen 50:50. Im Moment sieht es so aus, als hätten alle Beteiligten verstanden, dass der Grexit die schlechteste Lösung für alle ist. Er ist die schlechteste Lösung für Griechenland, aber auch eine Schwächung für Europa und den Euroraum. Er ist aber auch für Deutschland schlecht, weil wir dann große Verluste sofort realisieren müssen und der Grexit auch mit einer großen wirtschafts- und geopolitischen Unsicherheit verbunden wäre. Dass wir von den Geldern, die Griechenland erhalten hat, nicht alles oder möglicherweise gar nichts zurückbekommen, steht auf einem anderen Blatt, aber das ist unabhängig von einem Ausscheiden der Griechen aus dem Euro.
Ist ein Schuldenschnitt unabwendbar?
Man muss die Risiken eines Grexit sehr nüchtern betrachten. Auch mir fällt es manchmal schwer, nüchtern zu bleiben, angesichts der Provokationen der Syriza-Regierung, die die Geldgeber als Terroristen und Verbrecher bezeichnet hat. Aber man darf nicht außer Acht lassen, dass die Risiken eines Grexit ja auch verbunden sind mit einer geopolitischen Instabilität in einer ohnehin schwierigen Region. Wir hätten vor den Toren Syriens, der Türkei, der Ukraine und Russlands ein zerfallenes Land in Europa. Das sind Kosten, die man gar nicht beziffern kann.
Also muss Deutschland seine 88 Milliarden Euro abschreiben?
So eine reine Kostenrechnung bleibt immer oberflächlich. Die politische Betrachtung muss deutlich weiter gehen als die rein ökonomische. Der Streit um einen Schuldenschnitt ist zum jetzigen Zeitpunkt der Verhandlungen aber ohnehin eine Phantomdiskussion, weil Griechenland in den kommenden Jahren überhaupt keine Gelder an die europäischen Geldgeber, außer an die Europäische Zentralbank, zurückzahlen muss, weil alle Kredite bis ins Jahr 2020 gestundet sind.
Aber muss man sich nicht trotzdem Gedanken machen darüber, ob die Griechen dann in der Lage sein werden, die Kredite zu tilgen?
Ja, muss man, aber nicht heute in einer ohnehin schon komplizierten Verhandlungssituation. Es muss zunächst wieder Vertrauen aufgebaut werden. Später kann man dann überlegen, ob man die griechischen Schulden in Anleihen umwandelt, die ans Wachstum der griechischen Wirtschaft gebunden sind. Wenn ihre Wirtschaft wieder wächst, müssten die Griechen dann anfangen, diese Anleihen zu bedienen, also Rückzahlungen leisten. Dann kann man immer noch darüber diskutieren, ob ein Teil der Schulden erlassen werden muss. Symbolisch ist es wichtig, dass die Griechen zumindest einen Teil dieser Kredite zurückzahlen. Aber da wir nicht wissen, wo das Land in fünf Jahren steht, ist diese Diskussion zum jetzigen Zeitpunkt ziemlich sinnlos.
Warum haben sich die Geldgeber und die Griechen in diese verfahrene Situation manövriert, hätte man die ganze Thematik nicht schon früher pragmatischer, nüchterner und weniger ideologisch behandeln müssen?
Auf beiden Seiten sind bei der Behandlung der griechischen Schuldenkrise Fehler gemacht worden. Auch schon im vergangenen Jahr noch unter der Regierung von Antonis Samaras, dem Vorgänger von Alexis Tsipras. 2014, als die griechische Volkswirtschaft wieder anfing zu wachsen und es Hoffnungen auf eine Trendwende gab, hätte man sich zusammensetzen müssen, um ein drittes Hilfspaket auszuhandeln, das dem Land eine bessere Perspektive gegeben hätte, indem man Teile der Sparauflagen gelockert hätte, um gemeinsam eine Wachstumsstrategie für Griechenland zu entwickeln. Aber das wollte Samaras damals im Herbst 2014 nicht und so ist eine große Chance verpasst worden. Die Geldgeber müssen sich ihrerseits fragen, ob fünf Jahre sehr harter Sparauflagen und Strukturreformen nicht zu viel waren. Ob man sie nicht früher hätte lockern können, um die fatale soziale und wirtschaftspolitische Situation zu ändern.
Wenn man nach vorne schaut, wo können die Geldgeber den Griechen entgegenkommen, um mehr Wachstum in Griechenland zu ermöglichen?
Jetzt am Ende der Verhandlungen reden wir über Kleinigkeiten in der Anpassung der Sparmaßnahmen. Ob Griechenland 2016 einen Primärüberschuss von 1 Prozent oder von 2 Prozent erzielt, ist weder volkswirtschaftlich noch auf der Kostenseite wirklich relevant. Aber das ist typisch, dass jetzt über Details gestritten wird und nicht mehr das große Ganze ins Blickfeld gerückt wird. Es wäre hilfreich gewesen, früher darüber nachzudenken, ob man die Griechen nicht komplett entlastet von den Zahlungen an den IWF und die EZB, indem man diese Kredite ablöst. Das hätte bedeutet, dass die Griechen kein zusätzliches Geld bekommen, aber die Primärüberschüsse im Land bleiben und nicht gleich wieder abfließen aus dem Land. Dafür ist es jetzt aber zu spät.
Wer hätte diese Kredite ablösen sollen, der ESM?
Genau, auf diese Weise hätten die Länder der Eurozone Griechenland ein komplettes Schuldenmoratorium über ein Jahrzehnt einräumen können. Das hätte man auch politisch in den anderen Ländern vermitteln können, weil Griechenland dadurch kein zusätzliches Geld für eigene Ausgaben bekommen hätte. Der Anreiz für die griechische Regierung, Reformen durchzuführen und konsequent die Steuereinnahmen zu erhöhen, wäre natürlich viel größer gewesen, wenn sie das dadurch erzielte Geld dann in Griechenland hätte einsetzen können. Das ändert aber nichts daran, dass es enttäuschend ist, dass die linke Tsipras-Regierung nicht von alleine Korruption, Klientelismus und Steuerhinterziehung von Anfang an bekämpft hat.
Was kann die Eurozone aus der Krise lernen, was sind die größten Baustellen, die jetzt angegangen werden müssen, wenn der Grexit verhindert werden kann?
Die Eurozone hat gemerkt, dass sie weiterhin eine unvollendete Währungsunion ist. Die Gefahr ist, dass man jetzt nur über den vermeintlichen Sonderfall Griechenland redet und dann weitermacht wie bisher. Wir haben eine Währungsunion gebaut ohne eine Wirtschaftsunion zu werden. Der Euro ist in seiner jetzigen Form nicht überlebensfähig. Das Schiff namens Euro ist im Sturm notdürftig repariert worden, damit es nicht sinkt. Aber den nächsten Sturm übersteht das Schiff nicht. Jetzt müssen wir den Hafen anlaufen und es von Grund auf neu warten.
Geht es etwas konkreter?
Eine Währungsunion bedeutet geteilte Souveränität, das ist aber nicht ausreichend in den Verträgen verankert. Und die Politik der Mitgliedsländer hat die Souveränitätsteilung nicht verinnerlicht. Eine Währungsunion heißt aber auch, dass die Risiken geteilt werden müssen. Es ist schon einiges auf den Weg gebracht worden, wie die Bankenunion und die Rettungsschirme. Man muss sich aber auch über ein europäisches Einlagensicherungssystem Gedanken machen und man muss den ESM in einen tatsächlichen europäischen Währungsfonds umbauen, der über eigene Mittel verfügt, unter parlamentarischer Kontrolle steht und mit einem europäischen Finanzminister an der Spitze eine europäische Fiskalpolitik besser mitgestalten könnte.
Würde das auch die EZB aus der undankbaren Rolle befreien, ständig als letzter Euro-Retter in der Not einzuspringen, weil die Politik untätig bleibt?
Absolut. Es ist absurd, dass die EZB – deren Unabhängigkeit ein sehr hohes Gut ist – ständig einspringen muss, weil die Nationalstaaten es nicht hinbekommen, eine gemeinsame Rettung aufzubauen, die solide ist. Das muss schnell ein Ende haben.
Spielen wir ganz am Schluss doch noch mal das Grexit-Szenario durch. Müsste man dann nicht, um der Stabilität des Euro willen, hoffen, dass es den Griechen ohne den Euro möglichst lange sehr schlecht geht, damit es keinen Anreiz für weitere Austritte gibt, auch wenn das sehr zynisch klingt?
Eine Währungsunion unterscheidet sich von einem System mit festen Wechselkursen dadurch, dass es keine Austrittsoption gibt. Das hat uns seit 2010 geschützt. Stellen Sie sich vor, Spanien, Portugal, Italien und Irland hätten damals austreten können: Dann hätten diese Länder keine Strukturreformen durchgeführt und wären nicht wieder auf die Beine gekommen. Durch einen Grexit würden wir diese Ausgangstür, die es bisher nicht gab, einrichten. Dann hätte ich Angst vor der nächsten Krise, weil die Anleger ganz anders auf die Eurozone blicken würden. Mit dem Beispiel Griechenlands im Hinterkopf würden die Anleger bei der nächsten Krise womöglich sofort ihre Gelder aus Europa abziehen und das könnte das europäische Bankensystem schnell in die Knie zwingen. Daher muss man in diesem Zusammenhang auch mal die Bundeskanzlerin und die Spitze der Bundesregierung loben, dass sie am Montag nach dem Referendum besonnen reagiert hat und die Griechen nicht sofort aus dem Euro verwiesen hat. Jeder Politiker in Deutschland – auch die Griechenland-Kritiker – sollte anerkennen, dass es um deutlich mehr geht, als an Griechenland ein Exempel zu statuieren.
Das Interview führte Til Knipper
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