Bücher des Monats - Drum traue niemals einem Hippie

Warum der «Playboy» in den Augen von Gay Talese mehr für die sexuelle Befreiung geleistet hat als Woodstock und die Kommunen

«Wir haben Verständnis für Toleranz»: So lautet der Slogan eines Berliner SwingerClubs. Darauf muss man erst mal kommen. Mit ihrem unfreiwilligen Leerlauf im Absurden wirkt diese Losung komisch, als Symptom unserer Zeit aber ernüchternd. Indem sich nämlich der Betreiber eines Animier-Schuppens die Hose derart ungelenk, mit der rhetorischen Kneifzange, schließt, wird er kaum Kunden in seinen Laden locken. Sexuelle Praktiken, die nicht auf Fortpflanzung und Kleinfamilie zielen, sind offenbar noch heute erklärungsbedürftig.

Dabei war doch auch hierzulande einmal von einer sexuellen Revolution die Rede. Sind davon nur Ruinen geblieben? Der enttäuschte Befund, mit dem Michel Foucault vor dreißig Jahren seine Analyse der gesellschaftlich kontrollierten Lüste einleitete, hat seine Gültigkeit jedenfalls kaum verloren: «Wir Viktorianer». Der Philosoph floh vor der europäischen Verklemmung in die Dark Rooms von San Francisco – und musste die Libertinage jener Jahre 1984 mit dem Leben bezahlen. Aids: das ist der Schock der Achtziger und wohl die maßgebliche historische Ursache für die Prüderie unserer Gegenwart. Als sich auch der heterosexuelle Mainstream nicht mehr sicher fühlen konnte, war es mit der Unbefangenheit der sechziger und siebziger Jahre vorbei. Was die sexuelle Revolution gewesen sein könnte, war am Ende. Und wie der historische Zufall spielt, fällt diese Zeitenwende zusammen mit dem Erscheinen eines Buchs, das sich als wichtigste Chronik der westlichen Sexualität in den Siebzigern entpuppen sollte.

«Thy Neighbor’s Wife» kam 1980 heraus. Denkbar, dass der Autor das Wort Aids in dem Moment zum ersten Mal hörte, als er die Korrekturfahnen des Manuskripts las. Gay Talese erwähnt es jedenfalls auf keiner der mehr als 650 Seiten. Und so berichtet das Buch, das jetzt unter dem Titel «Du sollst begehren. Auf den Spuren der sexuellen Revolution» endlich auf Deutsch vorliegt, von einer untergegangenen Epoche. Es ist die Hinterlassenschaft eines sozialen Experiments, von dem der Autor – enthusiastisch, wie er schreibt – glauben durfte, dass es noch lange nicht beendet sei. Und es ist ein Schlüsselwerk des New Journalism; der Beleg dafür, dass Gay Talese neben Truman Capote, Tom Wolfe und Hunter S. Thompson zu Recht zu den Säulen des Genres gerechnet wird.

Kein Thema hätte die Schreibtechniken des New Journalism stärker herausfordern können als dieses. Zu den Regeln der Zunft gehörte, dass der Autor die Distanz zum Gegenstand überwinden, selbst aktiv ins Geschehen eingreifen und auch die eigenen Affekte zum Thema der Betrachtung machen musste. Schrieb Talese über Sex, musste er da und dort selbst das Laken zerwühlen. Er begriff sich als «‹teilnehmenden Beobachter› in der Welt der Erotik». Es fehlte nicht viel, und der Autor hätte dem Buch seine Ehe geopfert.

Dieser Bericht ist also nicht weniger subjektiv als die Bücher des Gonzo-Journalisten Hunter S. Thompson; aber anders als dieser lässt Talese die Ich-Form völlig aus dem Spiel. Wenn er über sich selbst spricht, dann in der dritten Person – und auch dies erst auf den letzten zwanzig Seiten. Dieser Anhang informiert wie ein Making Of über die Entstehungsbedingungen des Buches.


Die Welt der Massage-Salons

Hier ist etwa zu erfahren, wann und wie Talese – nämlich während eines Spaziergangs mit seiner Frau – zum ersten Mal die Neonreklame eines Massage-Salons bemerkt; wie er allmählich zu schätzen lernt, dass die Handreichungen der hier beschäftigten Damen den Bereich der medizinischen Massage entschieden überschreiten, wie er dann vom Kunden zum Stammkunden wird. Schließlich wechselt der Autor die Seite und verdingt sich selbst als Geschäftsführer eines solchen Salons. Er beobachtet und befragt Angestellte und Kunden. Er bittet seine Masseusen, Tagebücher zu führen, die er später in Empfang nehmen und zu Inneren Monologen verarbeiten wird.

Gay Talese, Jahrgang 1932, damals in seinen beginnenden Vierzigern, mit kurzem Haar, leicht ergrauten Schläfen und stets tadellosem Dreiteiler, war alles andere als ein Hippie. Seine Geschichte der Massage-Salons, die um 1970 wie Pilze aus dem Boden schossen, zeigt nicht zuletzt, dass ihn die sexuelle Revolution vor allem als Phänomen der arbeitenden Mittelschicht interessierte. Wenn manche Betreiber der Salons selbst einmal in Kommunen gelebt hatten, noch immer ausgeblichene Jeanshemden trugen und der Friedensbewegung nahestanden, so kaschierten sie damit nur ein florierendes Geschäft. Wer sich einst mit dem Verkauf von weichen Drogen über Wasser gehalten hatte, konnte nun mit weichem Sex reich werden.

Gay Talese und die anderen Männer, die sich in die Obhut barbusiger Masseusen mit Blumen im Haar begaben, sahen die Sache indes von der anderen Seite. Für sie war es möglicherweise das erste Mal, «dass sie mit der sexuell emanzipierten Jugendbewegung, von der sie so viel gehört und gelesen hatten, mit der Welt von Woodstock und der Pille konfrontiert wurden», schreibt Talese. «Und wenn sie nach regelmäßigen Besuchen ihre Masseusen besser kennengelernt hatten, gelang es ihnen sogar häufig, einen Einblick in die Denkweise dieser ihnen doch so fremden Generation zu werfen, die zu zeugen sie mitgeholfen hatten.»

Der letzte Nebensatz verrät es: Talese hält die Blumenkinder nicht für die sittengeschichtliche Avantgarde seiner Zeit. Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll – das mag das sinnfällige Resultat gelockerter Formen gewesen sein; die eigentliche Pionierarbeit aber wurde von anderen geleistet.


Ohne Porno-Literatur kein Updike

Über Jahre hinweg begleitete Talese das Entstehen der Nudisten-Kommune «Sandstone», in der sich ursprünglich gut situierte Ehepaare zusammenfanden, die hofften, dass sich lusthemmendes Besitzdenken im wechselseitigen Partnertausch erledigen ließ. Er nahm an den Dreharbeiten zu einem Pornofilm teil. Er verfolgte jeden noch so kleinen Prozess, in dem sich Filmproduzenten, Sexshop-Betreiber, vor allem aber die Verleger von mehr oder weniger pornografischer Literatur gegenüber dem wandelbaren sittlichen Empfinden der Staatsgewalt verantworten mussten. Wenn die Verfahren glimpflich verliefen, wurde den Angeklagten der Versand ihrer Publikationen untersagt; wenn nicht, landeten sie oft für Jahre hinter Gittern. Auf die Dauer aber waren es diese Leute, denen eine nachhaltige Lockerung staatlicher Zensur zu verdanken ist: William Hamling, Sanford Aday, Milton Luros, Samuel Roth – diese längst vergessenen Verleger sind Taleses eigentliche Helden. Dadurch, dass sie ihr Geld wie ihre Existenz vor Geschworenenjurys aus dem Bibelgürtel oder den Richtern des Obersten Gerichtshofes aufrieben, wurde der Buch-Markt bereitet, auf dem das literarische Establishment der Ostküste später lukrative Geschäfte machte: Dank William Hamling musste der Verleger Alfred A. Knopf sich nicht selbst die Finger schmutzig machen. Ohne die Pornografen, so sagt Talese, hätten Arthur Miller, Joyce Carol Oates, Philip Roth, Norman Mailer und John Updike ihr Publikum nicht gefunden.


Das hedonistische Credo von Chicago

Gay Taleses größte Sympathien und seine schriftstellerische Hingabe gilt den Unauffälligen, den kleinen Leuten, all jenen, die von gelockerten Sitten profitierten oder ihre geheimen Leidenschaften im Verborgenen auszuleben gezwungen waren. Es waren die Praktiken eben jener Leute, die durch die Datenerhebung des Doktor Kinsey bereits 1948 publik geworden waren: Dass neun von zehn Männern onanierten, jeder zweite Verheiratete sich zu außerehelichem und jeder dritte sich zu homosexuellem Verkehr bekannte, erschütterte das moralische Gewissen der Nation. Taleses journalistisches Epos ist ein spätes Komplement zu den Zahlenkolonnen des Kinsey-Reports. Es stellt die nackten Daten in einen historischen Kontext und illustriert sie mit lebendigen Geschichten.

Etwa mit der Geschichte von Harold Rubin, einem späteren Verleger: Mit 17 Jahren wohnte er noch zu Hause und hatte sich in ein Nacktmodell aus einer Illustrierten verliebt, die er regelmäßig unter der Ladentheke kaufte. Dann gewann er den ersten Preis beim Kunstwettbewerb des örtlichen Warenhauses, und zwar mit einem selbstgebastelten Zeitschriftenständer aus Holz. Aber niemand konnte ahnen, wozu dieser im Schlafzimmer diente. Denn niemand hatte Harold je in seinem Zimmer beobachtet – beim einhändigen Lesen seiner Zeitschrift.

Solche Anekdoten gefallen Gay Talese. So verwundert es schließlich nicht, dass der eigentliche Dreh- und Angelpunkt seines Buches jener Mann ist, der für die sexuelle Befreiung, die Talese meint, mehr geleistet hat als Woodstock und alle Hippie-Kommunen zusammen: Hugh Hefner. Bis in die letzten Verästelungen zeichnet Talese die Biografie des Mannes nach, der 1953 am Küchentisch die erste Ausgabe des «Playboy» zusammenschnipselte und wenige Jahre darauf bereits das erfolgreichste Herrenmagazin aller Zeiten verlegte. Hefner war, so Talese, der «Komplize monogamer Männer» und somit «mit dem zentralen Nervensystem seiner Leser im ganzen Land verbunden».

Talese glaubt mit ihm, dass aus dem «Erektionszentrum» Chicago (wo der Verleger beinahe jedes seiner Covergirls auf einem riesigen, runden Bett selbst zu vernaschen versuchte) ein hedonistisches Credo ausging, das das Land veränderte. Denn vielleicht war die romantische Liebe zum «Playmate des Monats» ja geeignet, das erloschene Treiben im heimischen Ehebett wieder zu befeuern. Der «Playboy» ist für Talese die Quintessenz des moralischen Klimawandels seines Landes, in dem fromme Puritaner noch bis heute weit in den gesellschaftlichen Mainstream hineinfunken.


Befreit: der Männerblick auf die Frau

Talese liegt durchaus daran zu zeigen, dass im Zuge einer veränderten Sexualmoral nicht die Frauen den Kürzeren zogen. Er berichtet von der frühen Feministin Betty Dodson: wie sie sich in «Sandstone» austobte, wie sie in ihren Büchern die «phallische Frau» und ein «verändertes Mösenbewusstsein» propagierte. Er zeigt, wie das von Harold Rubin verehrte Nacktmodell Diane Webber im Anschluss an ihre einträgliche erste Karriere eine späte Erfüllung als emanzipierte Yoga-Lehrerin findet.

Und doch entgeht der Autor nicht dem Verdacht, dass die sexuelle Revolution, von der er spricht, vor allem die Befreiung des männlichen Blicks auf die nackte Frau ist. Gerade der «Playboy» erscheint mit seiner realitätsfernen Verquickung von künstlicher, synthetischer Sexualität und ökonomischem Erfolgsversprechen aber tatsächlich als Indiz dafür, dass sexuelle Befreiung von jeher ein Kulturprodukt ist – und nicht zuletzt ein Geschäft. Drum traue niemals einem Hippie: Die freie Liebe als Rückkehr in den ach so reinen Mutterschoß der Natur entpuppt sich in dieser Perspektive als verlogene Ideologie. Das kann in der Tat vier Jahrzehnte nach dem Summer of Love, angesichts der naiven Romantisierungen, die das bevorstehende Gedenken an ’68 befürchten lässt, nicht deutlich genug gesagt werden.

Gay Talese hat den Marktplatz, auf dem die Lüste gehandelt werden, empirisch erforscht und sei daher schon als historische Basislektüre empfohlen. Welch eleganter Stilist Talese zudem ist, zeigt in dieser Ausgabe leider nur das erste Kapitel des Buches. Es stammt (wenn auch hier nicht angegeben), von einem anderen Übersetzer als die übrigen Teile, in denen die Lesefreude durch Holprigkeiten, Wortwiederholungen und anglizistische Satzbauten getrübt wird.

 

Ronald Düker ist Kulturwissenschaftler und arbeitet als freier Autor in Berlin

 

Gay Talese
Du sollst begehren. Auf den Spuren der sexuellen Revolution
Aus dem Amerikanischen von Gustav Stirner.
Rogner & Bernhard, Berlin 2007. 672 S., 29,90 €

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