- Ja, wir schreiben vor!
Wo Wahlen abgekartet sind, ein Parteikonvent dem immer gleichen Protokoll folgt, müsste sich der Journalist eigentlich freuen. Er kann sich viel Arbeit sparen – und seinen Bericht schon vorher verfassen. Ein Blick in die Branchen-Trickkiste
Liebe Leser, glauben Sie nichts. Und glauben Sie bitte erst recht nicht, dass Journalismus dann stattfindet, wenn gerade etwas passiert. Oft ist er nämlich schon vorher fertig.
Gestern zum Beispiel in Köln: Die Wahl des Tagesthemen-Moderators Tom Buhrow zum Intendanten des WDR war nicht nur schon seit Wochen so gut wie ausgemacht. Sie war auch so überraschungsfrei, dass es für Berichterstatter hinterher weniger Neues hinzuzufügen gab als vorher ohnehin schon bekannt gewesen war. Buhrow erhielt 41 von 47 Stimmen.
Wen wundert es, dass viele Journalisten ihre Beiträge schon größtenteils vorher verfasst hatten. Hinterher mussten sie nur noch das Ergebnis und ein Zitat des neuen Intendanten ergänzen.
Ja, so läuft es: Journalisten schreiben ihre Berichte vor.
In seiner frech-selbstironischen Autobiografie „Generation Fußnote“ legte der frühere Stellvertreter der DDR-Nachrichtenagentur ADN Klaus Taubert als erstes dieses Bekenntnis ab. Er verfasste die meisten Artikel schon vor den durchorchestrierten SED-Parteitagen. Als Hofberichterstatter Erich Honeckers hatte er ohnehin Zugang zum Redeprotokoll des SED-Generalsekretärs. Er brauchte also während des Funktionärsmonologes nur noch das Knöpfchen drücken. (Wohl gemerkt: Es war auch Arbeit, nicht während Honeckers Reden einzuschlafen!)
Viele Journalisten machen das auch heute noch so. Als sich vor fünf Jahren ein Desaster für Roland Kochs CDU in Hessen ankündigte, sammelte ein Kollege nach Beispielen für Niederlagen im politischen Leben des Ex-Ministerpräsidenten. „Das hörte sich am Montagmorgen dann unglaublich schlau an.“ Viele Leser glaubten womöglich, der Artikel sei am Wahlsonntag zwischen 18 Uhr und Druckschluss entstanden…
Manchmal will man sich mit dieser Praxis aber auch einfach nur Arbeit sparen. Ich erinnere mich noch an den Tag vor dem Rücktritt Annette Schavans. Uns allen schwante: Die wird uns Arbeit machen. Und das an einem Samstag! Weil keiner von uns Lust hatte, am Wochenende noch mehr zu schuften, verfassten ich und ein Kollege einen Beitrag über Annette Schavans absehbaren Rücktritt schon vorher. Als es dann passierte, mussten wir nur noch einmal Korrektur lesen und ein paar Sätze ergänzen.
Nicht immer geht das aber gut. Die Kollegen von n-tv, die es im Fall Schavan genauso gehandhabt hatten, waren dann etwas zu vorschnell: Ihre Rücktrittsmeldung wurde an Tausende Handys versandt, bevor die Ex-Bildungsministerin abdankte.
Kniffliger wird es, wenn das Ergebnis einer Veranstaltung nicht absehbar ist. Die frühere ZDF-Reporterin Fides Krause-Brewer, eine der ersten Spitzenfrauen bundesdeutscher Fernsehgeschichte, beschrieb in ihren Erinnerungen einmal eine solche Situation. Sie war auf einem Treffen der Welthandels- und Entwicklungskonferenz in Afrika, das einfach nicht enden wollte. Ihr Rückflug war aber schon gebucht. Also überredete die TV-Journalistin ihre deutschen Gesprächspartner zu zwei Alternativinterviews: eins für ein Scheitern der Konferenz, ein anderes für einen einvernehmlichen Abschluss. „Mit Hilfe von zwei Nachttischlampen, die der ingeniöse Kameramann und sein Assistent wie Scheinwerfer auf die Minister richteten, wurden die Interviews aufgezeichnet. Das Ganze war ausgesprochen komisch, aber brauchbar.“ Am Ende wurde die versöhnliche Variante ausgestrahlt.
Was sich im Rückblick heiter liest, findet heute keiner mehr lustig. Der „Stern“ warf dem ZDF bei der Berichterstattung über den NSU-Prozess sogar Schummelei vor. Die „heute“-Nachrichten hatten eine Stellungnahme der türkischen Zeitung „Sabah“ zum Karlsruher Urteil im NSU-Prozess zu einem Zeitpunkt gedreht, als der Richterspruch noch gar nicht ergangen war. Das konnte man an einer Uhr im Hintergrund erkennen: Sie zeigte die tatsächliche Zeit der Fernsehaufnahme an.
Ähnlich handelte das ZDF-„heute journal“ am 3. Mai. Dort wurde ein Experte zu Beginn eines CSU-Parteikonvent interviewt. Im Beitrag wirkte sein Kommentar aber so, als würde er die Veranstaltung nachträglich zusammenfassen. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt empörte sich in einem offenen Brief: „Kann das ZDF erklären, warum ein Resümee über eine Veranstaltung nebst Bewertung ihres Ablaufes bereits kurz nach deren Eröffnung erfolgt?“
Äh, nein. So richtig erklären konnte das der Sender nicht.
Das Vorher-Interviewen, -Drehen, -Schreiben spannt in tagesaktuellen Medien zahlreiche Redakteure ein, wenn Personen der Zeitgeschichte vor ihrem Ableben stehen. Lucie Suchá, Auslandsreporterin der größten tschechischen Tageszeitung MF DNES und für zwei Monate Gastjournalistin bei Cicero Online, weiß davon zu berichten. Ein Nachruf auf Husni Mubarak sei schon ab und zu aktualisiert worden. Der ägyptische Ex-Diktator lag vor einem Jahr im Koma. „Wir können noch in der Nacht einzelne Printseiten aktualisieren, wenn ein sehr wichtiges Ereignis geschieht. Wir schaffen das aber nicht bis zum Dienstende. Deshalb haben wir seine Lebensgeschichte schon vorbereitet“, sagt Suchá.
Auch Nelson Mandela, Ariel Scharon und Fidel Castro seien in Prag journalistisch abgearbeitet. Als nächstes wolle Suchá einen Nachruf verfassen, der in deutschen Redaktionen natürlich schon vorliegt: jenen auf Helmut Kohl.
Das morbide Geschäft hat der Schriftsteller Tom Rachmann in seinem Roman über eine untergehende Zeitung überzeichnet. Er ließ den Kulturredakteur für den perfekten Nachruf sogar noch ein Interview mit der dahinsiechenden Prominenz führen.
Würde diese Strategie immer aufgehen, hätte Rachmann seinen Roman aber nicht „Die Unperfekten“ genannt. Denn manchmal will die Realität einfach nicht dem bereits entworfenen Protokoll folgen. Journalisten mussten das etwa bei der Landtagswahl in Niedersachsen feststellen. Um 18 Uhr sah es so aus, als würde Schwarz-Gelb das Rennen machen. Die Redakteure tippten ihre Texte, die Siegesmeldungen liefen über den Äther. Alles falsch. Um kurz vor Mitternacht war klar: Rot-Grün hat die Wahl gewonnen – mit einer Stimme Mehrheit.
Einfach frustrierend, diese demokratische Realität.
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