Berlins Juden atmen auf
Die Jüdische Gemeinde Berlins – die größte Deutschlands – ist tief zerstritten
Lala Süsskind verstieß gegen alle Regeln der politischen Propaganda. Statt mit der frohen Botschaft ihrer zukünftigen Wohltaten zu punkten, verkündete die Spitzenkandidatin des Bündnisses „Atid“ (hebräisch: Zukunft) bei der Wahl zur Repräsentanz der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zunächst, wogegen sie und ihre Mitstreiter angingen: Inkompetenz, Verschwendung, Isolation. Darüber hinaus versteckte sich die populäre Frau Süsskind auf ihrem Flugblatt im Bilderfeld weniger bekannter Kandidaten. So fehlte den Wählern beim vermeintlich entscheidenden ersten Blick die Führungspersönlichkeit. Und dennoch errang die 61-Jährige einen fulminanten Wahlsieg, der über die Zukunft der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands entscheidet.
Um die große Zustimmung der Berliner Juden für Lala Süsskind zu begreifen, lohnt es sich, jenseits der irreführenden Phrase von Deutschland als der „weltweit am schnellsten wachsenden jüdischen Gemeinschaft“ oder der einschmeichelnden Klezmermelodien Giora Feidmans die Wirklichkeit zu betrachten: So ruhen auf dem Friedhof Weißensee 115000 Tote, zehnmal so viele wie es heute lebende Juden in Berlin gibt. Einst beherbergte die deutsche Hauptstadt fast 200000. Hier lebten in den dreißiger Jahren die Nobelpreisträger Albert Einstein und Fritz Haber, der Sezessionsmaler Max Liebermann, sein Kollege Lesser Ury, der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der Theatermann Max Reinhardt, der Journalist Theodor Wolff und, und, und. Berlin beherbergte eine der vitalsten und gewiss die inspirierendste jüdische Gemeinde Europas.
Nur wenige Tausend Juden überlebten die Naziherrschaft in Berlin. Bald kamen die Displaced Persons hinzu. Entwurzelte KZ-Überlebende aus Osteuropa und deren Kinder.
Zu ihnen zählte Arthur Süsskind, der die Shoah als Mündel einer katholischen Familie in Polen überlebt hat. Als er endlich wieder bei seinen Eltern war, vergoss er heiße Tränen darüber, dass er nicht mehr als Messdiener in der Kirche wirken durfte. Jahre später lernte er in Berlin die temperamentvolle Frida Rubin kennen, die ebenfalls in Polen geboren wurde und sich Lala nannte. Arthur studierte Betriebswirtschaft, Lala Soziologie. Man heiratete früh, wollte Kinder, ein Geschäft aufbauen, vor allem die Schrecken der Naziherrschaft vergessen.
Die Geschicke der Gemeinschaft ruhten derweil im festen Griff Heinz Galinskis. Seit Ende der vierziger Jahre verkörperte er die jüdische Gemeinde. Der schmächtige Mann war ein gütiger, doch strenger Patriarch. Er kümmerte sich um die Wohlfahrt seiner Mitjuden, bestimmte jedoch autokratisch die Gemeindepolitik.
Bereits als junge Frau engagierte sich Lala Süsskind in der WIZO, der zionistischen Weltfrauenorganisation. Ihre freundliche, resolute Art wurde allseits geschätzt. Die WIZO-Basare und -Bälle waren ein Stadtereignis. Die Jüdische Gemeinde öffnete sich allmählich und wurde Teil der Westberliner Gesellschaft.
Die Wiedervereinigung Deutschlands revolutionierte die überalterte Gemeinde. Bald stellten Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion zwei Drittel der nun mehr als zehntausendköpfigen Gemeinschaft. Die meisten Immigranten waren alt, sprachen kaum Deutsch, waren auf Transferleistungen angewiesen. Es kam zu Spannungen mit dem jüdischen Establishment. Die Neumitglieder wollten vielfach unter sich bleiben, ihnen fehlten religiöse Bindungen, sie drängten auf stärkere soziale Betreuung und eine Betonung der russischen Sprache und Kultur. Nach Galinskis Tod im Jahre 1992 wechselten die Vorsitzenden in rascher Folge. In der Gemeinde herrschte ein Dauerkonflikt zwischen Zuwanderern und Etablierten.
Schließlich übernahm vor drei Jahren der aus Lettland stammende Gideon Joffe den Vorsitz. Doch dem unerfahrenen Dreißigjährigen gelang es nicht, die zerstrittene Gemeinschaft zu befrieden. Prominente Mitglieder kehrten der Gemeinde den Rücken, sie verlor rapide an Ansehen. Die Wahl Lala Süsskinds beweist den Willen zu einem neuen Miteinander. Sie und ihre Mitstreiter wurden von Zuwanderern ebenso wie von Alteingesessenen gewählt. Man ist des Streits überdrüssig. Zudem schrumpft die jüdische Gemeinschaft in Deutschland erneut: Junge, gut ausgebildete Juden emigrieren heute lieber in die USA oder nach Israel. Die Älteren bleiben in Deutschland und benötigen Unterstützung.
„Ich will mithelfen, die Gemeinde wieder zu einem lebendigen Forum zu gestalten. Auch für Nichtjuden“, sagt Lala Süsskind. Die ehemalige WIZO-Präsidentin unterstützt Israel aus vollem Herzen. Doch sie weiß, dass es heute nicht mehr genügt, die Verbundenheit mit dem jüdischen Staat zu betonen, den Antisemitismus zu verdammen und des Holocaust zu gedenken. „Wir müssen das Wissen über jüdische Religion, Tradition und Kultur vertiefen. Wir müssen uns der nichtjüdischen Gesellschaft öffnen und jeglicher Form von Rassismus und Diskriminierung entgegentreten.“ Der Streit über den Neubau von Moscheen, an dem sich auch Juden beteiligen, ist Süsskind unverständlich. „Jeder soll sein Gotteshaus im Einklang mit dem Gesetz nach seinen Vorstellungen gestalten. Auch den Synagogenbau versuchte man einst zu ducken.“
Tatkraft und Lust an der Herausforderung sprühen aus Lala Süsskinds dunklen Augen. Und ein unverwüstlicher Optimismus. Sie wird ihn brauchen können.
Rafael Seligmann ist Autor des Romans „Der Milchmann“, erschienen bei dtv. Er lebt in Berlin
Foto: Picture Alliance
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