„Jedes Jahr eine Tortenschlacht!“

Streitbar, meinungsfreudig, jenseits des Mainstreams: So hat sich Matthias Matussek ins Bewusstsein gefräst.

Sie haben abgenommen!
Ich hatte mir im vergangenen Jahr in diesem rauen deutschen Mediengeschäft einen ziemlichen Schutzpanzer angefressen. Doch jetzt sagte mein Arzt: Alter, aufpassen, du wirst zu dick, die Pumpe macht bald nicht mehr mit. Ich habe ja eine Herzoperation hinter mir. Das war der eine Teil. Der andere Teil drehte sich auch irgendwie ums Überleben: Ich habe mehrere Hundert Hassbriefe bekommen, nachdem ich bei Sandra Maischberger auf dem Sofa saß wie ein feistes Hängebauchschwein und davon geredet habe, dass die Leute doch gefälligst den Gürtel enger zu schnallen hätten. Das fanden die Zuschauer draußen im Lande nicht sehr witzig. Und da dachte ich mir: Wenn du gelegentlich auch mal im Fernsehen überzeugen willst, musst du dünn sein. Es geht offenbar nur als Dünner.

Stimmt, Sie sind mittlerweile ein multimediales Event: Matthias Matussek ereignet sich in Talkshows, wird im Video­blog auf Spiegel online angeklickt und tritt mit seinen Kollegen Gabor Steingart und Henryk M.Broder in einem Berliner Theater auf. Ist das das neue, das performative Feuilleton?
Geht doch gar nicht ohne. Nichts gegen Predigten, aber man sollte vorher dafür sorgen, dass die Kirche voll ist. Unser Job ist nun mal der von Kommunikatoren. Wir vermitteln. Das tun wir in unseren Texten, das tun wir in Vorträgen und Diskussionen. Wir liefern nicht die Wirklichkeit selber, sondern nur unsere Versionen von Wirklichkeit. Wer anderes behauptet, denkt unscharf. Ich weiß, es gibt diesen Kitsch vom Wirklichkeitsreporter – aber was meinen Sie, wie intensiv Egon Erwin Kisch seine Reportagen komponiert hat.

Und Sie komponieren Kulturtipps als Video-Appetizer.
Jorge Luis Borges sagte mal: „Das Unglück der Menschheit liegt darin, dass wir das meiste in der ersten Version von uns geben und nicht in der überarbeiteten dritten, vierten oder fünften Version.“ Er hat völlig recht. Und das ist unser Job: die dritte, vierte, fünfte Version der Wirklichkeit zu servieren. Jetzt sind neue Technologien dazugekommen. Mein Blog hat ja tatsächlich schon eine gewisse Gemeinde um sich geschart, die Klicks sind mittlerweile selbst dann ansehnlich, wenn keine schöne Frau drin vorkommt – dann natürlich wird besonders geklickt.

Was fasziniert Sie am Web?
Es ist einfach eine coole, neue Form, Inhalte zu präsentieren. Und zwar ganz unaufwendig. Da musst du nicht Riesen-TV machen, da genügt das Fotohandy und ein paar Einspielungen aus dem eigenen Computer. Es demokratisiert alles, das Bloggen: Du konkurrierst natürlich mit einem Millionen-Heer von anderen Blog-Produzenten.

Im Spiel einer Ökonomie der Aufmerksamkeit sind Sie allerdings ziemlich privilegiert, weil Sie auf einer prominenten Seite präsent sind…
Es ist tatsächlich enorm, was die Spiegel-Online-Leute leisten. Ich kenne kaum einen, der unsere Online-Seite nicht als Homepage hätte. Jeder guckt da jeden Morgen drauf.

Das Feuilleton tendierte in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einer starken Intellektualisierung ohne alle Rücksicht auf Unterhaltsamkeit. Noch in den zwanziger Jahren war das Feuilleton deutlich literarischer, in der Frankfurter Zeitung schrieben damals Joseph Roth, Walter Benjamin. Ende der sechziger Jahre dann wurde es hermetischer, bis hin zu jenen rekursiven Debatten, in denen sich eine Handvoll Vordenker öffentlich verständigte. Vermittlung oder gar Entertainment galt als kulturindustrieller Verrat.
Ja, das Feuilleton war in diesem merkwürdigen Jargon verschraubt und reglementiert. Den hatten alle zu reden. Es war fast eine Parodie der Kritischen Theorie. Ein Filmkritiker galt dann als geadelt, wenn er einen Film besprach, von dem anzunehmen war, dass ihn nie irgendein anderer sehen würde, und den er in einer Sprache beschrieb, die auch kein anderer nachvollziehen konnte. Das war die Verwirklichung der negativen Dialektik. Die Kritik wurde zur Geheimwissenschaft, um sich nicht selber auszuliefern an die Kulturindustrie. Dabei besteht doch die Kunst des Kritikers darin, frei nach Walter Benjamin, dem Publikum zu widersprechen – und trotzdem als sein Anwalt aufzutreten. Und das in einer mitreißenden Sprache. Wenn Sie Joseph Roth erwähnen: Wem gelangen schon solche Sätze wie der: „Sie waren eingehüllt in ihren Wahnsinn wie in eine goldene Wolke“? Wunderbar! Das sind Bilder, die in den zwanziger Jahren produziert wurden. In den sechziger Jahren wurde das alles trauriger, seminaristischer, unlesbarer.

Sie haben selber Kurzgeschichten geschrieben, einen Roman, Theaterstücke. Auch als Reporter sind Sie eher Erzähler. Genügt Ihnen der Journalismus nicht?
Offenbar nicht. Aber natürlich ist Journalist der beste Beruf der Welt. Ich hätte sonst nie Arthur Miller kennengelernt, hätte nie mit William Burroughs auf Zielscheiben geballert, hätte nie mit Allen Ginsberg meditiert, wäre nie in Minettis Theatergarderobe gewesen, als das ZK aufgelöst wurde in Ostberlin.

In Ihrem Kurzgeschichten-Buch „Fifth Avenue“, gerade bei Diogenes als Taschenbuch erschienen, schildern Sie einen jungen, gerissenen Kolumnisten, zudem drogensüchtig, der über Leichen geht.
Klar gibt es in unserem Beruf auch Idioten, genauso viele wie in jedem anderen­. Und was die Drogen angeht: Das ist ein Erbe der sechziger Jahre. Auch darin hat die Revolte gewonnen. Ich glaube, es wurde noch nie so viel gekifft wie heute. Früher wurde halt mehr gesoffen, das ist der Unterschied.

Der Kritiker in den späten sechziger Jahren war Eingeweihter und Hohepriester linker Theorie. Ist mit dem Ende der großen Ideen auch diese Rolle hinfällig geworden? Und die Affinität zur Unterhaltung größer?
Unsere Branche hat Lockerungs­übungen hinter sich, Gott sei Dank. Aber natürlich gibt es diese unausrottbare Sehnsucht nach der geschlossenen Welterklärung. Und ab und zu trifft uns ein gültiger Satz. Doch diese Sätze sind disparater, akzidentieller. Das Geschäft der Deutungen ist demokratisiert.

Die Entwicklung der Technologien spielt dabei eine große Rolle. Heutzutage sitzt jeder am Computer und probiert neue Anfänge aus, verschiebt Absätze und beginnt im Grunde mit Übermalungen und Inszenierungen, mit Neuansätzen. Der Journalismus ist dadurch sehr viel spielerischer geworden, weniger tunnelartig, weniger ex cathedra. Journalismus hat tatsächlich etwas Guerillamäßiges bekommen.
Ich weiß nicht, ob sich das denkerische Niveau unbedingt verbessert hat, aber der Journalismus ist auf alle Fälle lustiger und unterhaltsamer geworden. Das befürworte ich sehr.

Dann passt der Auftritt mit Ihren Kollegen Steingart und Broder unter dem Label „Die drei Redaktöre“ ja bestens ins neue journalistische Entertainment.
Warum auch nicht einmal im Jahr, zum Weihnachtsfest, eine Tortenschlacht? Früher waren Spiegel-Redakteure anonym, bis auf den Herausgeber. Heute sind sie in der öffentlichen Arena. Was soll daran falsch sein? Da ist so ein Happening doch viel ehrlicher als die Treterei unter dem Tisch, vor allem, wenn man befreundet ist. Bei dieser Veranstaltung gab es übrigens wieder eine typische Verteilung der Rollen: Ich war der Buhmann – in Berlin kann man mit einem Bekenntnis zum Patriotismus nur der Buhmann sein, das ist doch klar, selbst wenn man damit nur ein schwarzrotgoldenes Woodstock meint, und nicht den Weltkrieg, da hören die Leute schon gar nicht mehr hin in einer bestimmten Szene. Ich also war die Hassfigur, Gabor der Staatsmann, Henryk war der Entertainer, das war schon sehr lustig. Henryk als öffentliche Figur ist unschlagbar.

Was ist der Spiegel heute? Eine Beobachtungssonde der Gesellschaft, Ferment, Instanz?
Fast alleinige Instanz war er jahrzehntelang, und Instanz ist er, glaube ich, immer noch, auch wenn, wie bereits geschildert, der allgemeine Lärmpegel, das Stimmengewirr größer geworden ist. Eine Sonde sind wir ohne Frage. Wir haben besonders in den vergangenen zwanzig Jahren gelernt, literarisch zu erzählen. Die achtziger Jahre waren die Dekade der großen Enthüllungen, die der Spiegel fast monopolisiert hatte. Das ist heute nicht mehr so leicht, die investigative Konkurrenz ist größer geworden.

Was würde denn fehlen, wenn es den Spiegel nicht gäbe? Einst war er ja das aufrechte linke Gewissen.
Er würde dem Land fehlen! Seit Gottfried Benns Zeile: „…Du liest die Uno, wie sie der Spiegel sieht“ gehört er montags dazu. Ich würde anders schreiben, anders denken ohne den Spiegel.

Wie würden Sie schreiben?
Ich bin als Reporter vom Stern gekommen. Beim Stern gab es die berühmte Verpflichtung Henri Nannens, die „Hausfrau in Ulm“ anzusprechen. Das war ja Nannens imaginäre Leserin. Das war natürlich gleichzeitig eine ungeheure Herablassung, denn diese Hausfrau ist ja in Wirklichkeit viel klüger als derjenige in der Stern-Hierarchie, der sich berufen fühlte, sie zu verkörpern, wenn er einen Text bearbeitete und zurichtete. Mit anderen Worten: Es gab also immer diesen leisen Zwang zur Trivialisierung. Das war sicher eine gute Übung für einen, der erzählen lernen will, und der Stern hatte besonders gute Reporterinnen, von denen ich viel gelernt habe. Doch auf die Dauer war es mühselig. Beim Spiegel gab es dann wieder die Einladung, so intelligent wie möglich zu schreiben. Augstein waren diese vorgeschobenen Hausfrauen immer egal.

Von manchen wird beklagt, es habe einen Rechtsruck im Spiegel gegeben.
Diese Debatte ist Gott sei Dank längst als unsinnig erkannt und abgetan worden. Sie war von Feinden und Konkurrenten des Spiegel ausgedacht worden, und leider haben sich da einige instrumentalisieren lassen. Wussten Sie eigentlich, dass es Augsteins berühmten Satz: „Im Zweifelsfalle links“ auch in einer anderen Version gibt? Nämlich: „Im Zweifelsfalle liberal.“ Der Spiegel hat sich geändert, so wie sich die Gesellschaft geändert hat. Gott sei Dank! Wäre ja schlimm, wenn der Spiegel noch so wäre wie in den sechziger Jahren. Rechts und links gibt es nicht mehr, diese Totem­pfähle, diese Denklager sind Vergangenheit, es wird heute entschieden: Was ist die beste Lösung?
Im Grunde genommen geht es doch in allem nur noch um punktuelle Optimierungen, nicht um Masterpläne. Womit der Spiegel heute rechnen muss, sind ganz andere Herausforderungen als damals. Zum Beispiel findet das Thema Religion wieder statt. Auf eine intelligente Weise. Also nicht immer nur, wenn es um Zölibat geht oder Pädophile, sondern um eine politisch-philosophische Herausforderung, die ja besonders mit Benedikt XVI. gegeben ist.

Sie sind als Exponent der neuen Bürgerlichkeit ordentlich verdroschen worden.
Als ich über die neue Bürgerlichkeit schrieb vor einem Jahr, hatten sich traditionell linke Künstler wie Volker Schlön­dorff und Leander Haussmann und Christoph Schlingensief gerade für die CDU ausgesprochen, mit guten Gründen. Praktisch nur Günter Grass – damals noch nicht Darling der Waffen-SS-Veteranen – trommelte ziemlich einsam für die SPD. Doch jetzt sind die Bürgerlichen von CDU und SPD gar nicht mehr auseinanderzuhalten, und alle sind maßlos enttäuscht vom verpassten Neuanfang, ich eingeschlossen. Man kann sich heutzutage auf nichts mehr verlassen, noch nicht einmal mehr auf die Magie des Lagerwechsels. Ich erkläre also von dieser Stelle aus meinen Ausstieg aus der neuen Bürgerlichkeit, wie immer die im Moment missverstanden wird.

Wie ist es eigentlich, nach einem halben Leben als Reporter und Korrespondent, jetzt jeden Morgen als Abteilungsleiter anzutreten?
Schwierig. Ich kann jeden Einwand viel zu gut verstehen, weil ich ihn selber schon hatte. Aber auf der anderen Seite macht es natürlich großen Spaß. Wenn man in Brasilien ein paar Wochen durch den Amazonas fährt, reitet, fliegt, ist das zwar sehr aufregend, kratzt hier aber niemanden. Dagegen – wenn man hier sitzt, kann man Debatten führen. Etwa der Grass-Fest-Disput um die Erinnerungskultur. Oder die Kontroverse ums Regietheater. Das ist spannend.

Geht’s da um Kunst? Oder sind das nicht Stellvertreterdebatten, in denen Generationen und Lebensstile gegeneinander antreten?
Theater ist heute nicht mehr das Schlachtfeld, das es in den siebziger, achtziger Jahren war. Alle Tabus sind längst gebrochen. Davon abgesehen: Der Kulturbegriff hat sich erweitert. Das sieht man auch an Ihrem Heft. Und das tut der Sache gut. Man diskutiert im Feuilleton über Feminismus, über Genforschung, über die Wahlen in der Ukraine mit der gleichen Verve. Wunderbar. Es sind gute Zeiten für die Kultur.

Wer verlässt jetzt die Schlachtfelder und erobert die Bühnen?
Immer noch gibt es das Bedürfnis, den Diskursmeister zu finden. Ihr hattet in Cicero neulich diese Geschichte: Wer sind die neuen Großdenker? Und siehe da: Es gibt einige, und sie alle brechen längst aus den Unis aus und mischen sich in die Feuilletons ein. Mein jüngerer Bruder ist Kulturwissenschaftler – auch so eine Grenzgängerdisziplin, das ist alles sehr belebend.

Früher waren in den Feuilletons eher schmallippige Nekrologe zu lesen, bei Ihnen fällt die Leidenschaft auf und die Emotionalität, mit der Sie schreiben.
Das fällt vielleicht hier in Deutschland auf. In Großbritannien, wo ich Korrespondent war, ist die Betriebstemperatur viel polemischer und wilder. Und in den USA sagt man viel selbstverständlicher: Ich. Natürlich wird man leichter verprügelt, denn man ist ja nicht irrtumsfrei, man riskiert durchaus, dass man mal einen falschen Baum anbellt. Aber das ist mir lieber als dieses abgesicherte Schlafwagen-Getue, wo man drei Wochen später immer genau weiß, wie es eigentlich gewesen ist. Das Hinterher-Rechthaben ist mir weniger wichtig als vorne dabei zu sein. Das ist doch viel spannender.

In Ihrem Buch über die Deutschen spielen Gefühle eine große Rolle. Sie reden über Nation, über Patriotismus, über lang Verdrängtes, und Sie tun es sehr ungeschützt.
Aber ich habe doch recht behalten. Jetzt reden alle drüber. Der Stern macht eine Serie zur Geschichte der Deutschen. Der Spiegel beginnt seine Reihe der „History“-Hefte damit. Plötzlich ist es spannend, sich als Deutscher zu sehen – und nicht eine verschämt verschwiegene Vorstrafe. Und im vergangenen Sommer konnte man vor „Deutschland“-Rufen kaum sein eigenes Wort verstehen. Es war eine ganz wichtige Lockerungsübung.

Ein Kritiker sagte mal sinngemäß über Sie: „Der Matussek deliriert immer zwischen Rausch und Kater.“ Man wisse nie so genau, wie lange Ihre Begeisterung haltbar sei.
Das kann ja sein, aber wie kann man eine Titelgschichte über Mozart schreiben, ohne selber hingerissen zu sein? Oder über Heine schreiben, ohne seine Lust am Spott nachzuempfinden?

Dennoch – Ihr Erregungslevel ist deutlich höher als jenes der meisten anderen Kollegen.
Im Laufe der Zeit habe ich jede Menge Beschimpfungen gehört. Früher war ich regelmäßig „Salonkommunist“, was ich auch ganz toll finde, denn solange der Kommunismus sich in den Salons aufgehalten hat, hat er keine Menschen umgebracht. Kürzlich bin ich „Salonkatholik“ genannt worden. Ich weiß nicht, was einen Salonkatholiken ausmacht – dass er jeden Sonntag in die Kirche geht?

Es geht wohl eher um gefahrlose Überzeugungen, die man nie im Leben erproben muss.
Wenn damit die Unbedingtheit der Nachfolge gemeint ist, die Jesus forderte: „Wer Vater oder Mutter oder Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig“, dann bin ich wahrscheinlich tatsächlich ein Salonkatholik. Ich habe eine Frau und ein Kind und eine Familie, die mir sehr wichtig sind, und stand nur gelegentlich in Suppenküchen herum, um zu helfen. Den Sprung habe ich nicht geschafft. Ich bin wohl ein ganz normaler Katholik wie 25 Millionen andere Deutsche auch.

Ist das eine Rückkehr zu Ihren Wurzeln, zu Ihrem katholischen Elternhaus?
Mein Vater war CDU-Bürgermeister. Ich bin 1970 von zu Hause ausgezogen, da war ich 16, in eine maoistische Wohngemeinschaft, und habe diese ganzen Indianerspiele für die Weltrevolution mitgemacht. Natürlich bin ich auch aus der Kirche ausgetreten, aus Protest, das Übliche. Kirchenprotest muss mir keiner vormachen, da hab ich ein Diplom. Tja, und dann fällst du auf die Schnauze, du erinnerst dich, und irgendwann bin ich wieder eingetreten, später – natürlich war das auch wie eine Heimkehr in die Kindheit. Die Ikonografien, die Bilder, die in ein Herz gelegt worden sind, vergisst man nicht. Das Leben hat Stürme, das Leben hat Krisen, und so wendet man sich dann, wenn man so eine Kindheit gehabt hat, automatisch an jemanden, der tatsächlich ein bisschen besser weiß, was gut ist, und dem sagt man: Fahr du bitte, ich geh mal auf den Beifahrersitz.
Heute ist mein Sohn Ministrant, so wie ich früher Ministrant war. Er findet es toll. Und diese Stunde in der Messe, sonntags, ist mal eine Stunde, wo er nicht abgelenkt ist durch Videospiele und anderen Lärm. Das ist überhaupt das Tolle an Kirchen. Die Aussperrung des Lärms.
(Er zeigt, neben Reportage-Fotos mit Mick Jagger, Allen Ginsberg und Heiner Müller, ein Familienfoto mit dem Vater und fünf Söhnen.) Hier, das sind die fünf Orgelpfeifen. Papa wollte eigentlich Priester werden. Das war in Oberhausen-Osterfeld, er war dort Stadtrat. Da waren wir alle brav, wir trugen alle die gleichen Pullover, von Mama mit der Strickmaschine angefertigt. Eine ganz traditionelle Familie. Wenn du mit so was groß geworden bist, prägt das. Es ist doch das Haltbarste, oder?

Als Pfarrerstochter kann ich das gut verstehen…
Der Unterschied zwischen euch Evangelischen und uns Katholiken ist: Ihr seid Hörfunk, wir sind Fernsehen. Ihr seid das Wort, wir sind der Ritus.

Irgendjemand hat mal über Sie gesagt, Sie seien eine Wertestreubüchse. Das passt jetzt eigentlich ziemlich gut.
Wenn alle immer ausrutschen, muss ja schließlich einer streuen…(lacht)

Damit ist offenbar gemeint, dass Sie jedem Thema einen Wertediskurs abgewinnen können.
Aber es geht doch um Werte, gerade heute. Ach, eigentlich immer. Mein Vater war ein missionarischer, innengeleiteter Mann, und darin hat er mir sehr imponiert. Völlig ungeeignet zur Diplomatie. Für den war Politik tatsächlich nur dazu da, Werte zu vermitteln, zu fragen: Wozu sind wir wirklich da? Und irgendwie hat er mich auch in meiner wilden Zeit immer verstanden. Kürzlich habe ich mich mit Rainer Langhans unterhalten. Ich werde ja oft verschrien als 68er-Basher, und es gibt sicherlich Dinge, die man zu Recht an den 68ern kritisiert. Aber auf der anderen Seite war da dieser spirituelle Aufbruch, und der hat mich interessiert. Der Mensch will mehr als sich nur den Wanst vollhauen.

Viele begrüßen, dass sich die Politik weitgehend aus Wertedebatten verabschiedet und sich versachlicht hat. Frei nach Popper, der Politik als Problemlösungsstrategie empfiehlt, ohne große Visionen. Ist das auch Ihre Einschätzung?
Politiker können in der öffentlichen Arena mit Werten gar nichts mehr anfangen. Sie sind tatsächlich eher wie Ingenieure unterwegs, die an ihren Stellschrauben drehen und am liebsten über 130 Euro Elterngeld reden. Als ob es darum ginge, und nicht um die entgleiste Wirklichkeit dahinter. Keiner traut sich darüber hinaus an das Gesamtbild, an die Vision. Vielleicht weil wir Deutschen damit schon mal auf die Schnauze gefallen sind. Andere Länder haben da weniger Probleme. Wenn amerikanische, französische oder britische Präsidenten und Premiers Reden halten, dann geht es oft ums große Ganze. Nationen brauchen eine große Vision von sich selber, das kapieren die. Es darf nicht nur um die Erhöhung der Mehrwertsteuer gehen.

Die Entmystifizierung von Politik war nach 1945 ein wichtiges Projekt der jungen deutschen Demokratie. Hat man damit versehentlich die Möglichkeit einer emotionalen Identifikation mit der Politik zerstört?
Absolut. Ich glaube, wir waren die Alkoholiker, die die Pulle haben stehen lassen. Aber wir haben sie zu lange stehen lassen. Und jetzt sind unsere Politiker Technokraten ohne jedes Charisma, weil sie so überzeugungslos wirken. Sie haben nicht gelernt, Leute für schwierige Aufgaben zu gewinnen. In Amerika hat es Bush nach 9/11 geschafft, die Leute für alles hinter sich zu scharen, das Volk stand zusammen, selbst die Presse hat die Ohren angelegt. Sicher hat sie zu lange gebraucht, um sie wieder aufzurichten, denn Bush hat einen Fehler nach dem anderen gemacht – aber zunächst gab es den glühenden Appell, die Geschlossenheit, die eine unglaubliche Heilung dieser Kränkung durch den Terror brachte. Und das war wichtig.

Wir dagegen sind Analphabeten des nationalen Gefühls. Im vergangenen WM-Sommer hat man gemerkt, wie sehr die Leute danach dürsteten, die Identifikation mit ihrer Nation auszuleben. Das war ja ein Happening! Wenn die Politik doch endlich verstehen würde, dass die Leute über das Gefühl angesprochen werden wollen! Kindergeld?
Erlaube mal! Kein Mensch wird sich dafür entscheiden, ein Kind in die Welt zu setzen, wenn er dafür 13,80 Euro mehr bekommt. Das ist absurd! Ich weiß nicht, wo die herkommen, wo werden die gebacken, die Politiker heutzutage? Die müssen doch spüren, dass Politik auch etwas mit Sehnsüchten zu tun hat, mit Wünschen, mit Fantasien.

Ist Angela Merkel wirklich eine Frau, der man Sehnsüchte zutrauen würde?
Ich habe ihr die Lorbeeren geflochten. Endlich mal eine ungewöhnliche Politiker-Karriere, dachte ich, endlich mal eine Frau, eine aus dem Osten dazu, eine, die außerhalb der Treibhäuser der Parteien groß wurde. Doch jetzt bin ich von ihren zaghaften Trippeleien ziemlich enttäuscht.

Wäre es um Deutschland besser bestellt, wenn wir eine emotionalere politische Kommunikation hätten, eine entwickelte Bürgergesellschaft?
Genau in die Richtung muss das gehen. Das ist der Gedanke des Kommunitarismus. Die Amerikaner sind groß darin. All diese Gemeinde- und Nachbarschaftsaktivitäten. Ich habe lange dort gelebt, habe in der Kirche für die Penner Brote geschmiert und Suppe ausgeteilt, schon deshalb, weil es in meiner Nachbarschaft auf der upper westside jeder machte. Das gehörte schon zum guten Ton. Hier beginnt es allmählich. In meinem Buch erzähle ich davon. In München gibt es einen Unternehmer, der baut mit seinen Angestellten an den Wochenenden Spielplätze. Find ich toll.Ich glaube, in den ziemlich eisigen und stürmischen Zeiten, die vor uns liegen, hilft nur der Appell: Mensch, wir gehören zusammen, nur zusammen können wir etwas erreichen! Und das verstehe ich auch unter Patriotismus. Das hat nichts mit engstirniger Reaktion zu tun, sondern eher mit dem Gegenteil, mit Hippie­tum. Nicht mit Ausgrenzung, sondern mit Umarmung.

Gibt es sie überhaupt noch, die Instinktpolitiker? War Schröder einer, der die Gefühle der Leute gespürt hat?
Das ist ja das Wahnsinnige gewesen: Der Schröder hatte das drauf. Der hat allerdings den Instinktpolitiker erst drei Wochen vor seiner Wiederwahl rausgekramt. Zu spät.
Kohl konnte oder wollte die Emotion eigentlich auch nicht. Erst die Geschichte selber hat ihn zur Figur gemacht, erst der Emotionssturm Wiedervereinigung. Aber der letzte richtig leidenschaftliche Politiker? Da fällt einem wirklich nur Willy Brandt ein. Und zwar in zweierlei Versionen: sowohl der Brandt des Kniefalls in Warschau von 1972 als auch der Brandt von 1989, der vor dem Schöneberger Rathaus stand und „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sang.

Münte? Das Aroma der Kumpel-Gefühle?
Ja, der funktioniert nicht mehr, weil es keine Kumpel mehr gibt. Das sind ja nur noch Simulationen. Der Siemens­arbeiter von heute steht an einer Fertigungsstraße und bedient Computer. Und ein richtiger Rhetor, einer, der auf die Apfelsinenkiste steigen und das Volk begeistern konnte, war Müntefering ja wohl nie. Große Redner, Mensch. Wann haben Sie zuletzt eine zündende Bundestagsrede gehört?

Wo ist heute die Avantgarde zu finden?
Im Zweifelsfall im Netz. Dort sind Dinge, die ausprobiert werden. Ich glaube, das Spannendste, was man heute finden kann, findet im Internet statt. Gleichzeitig geht der Kunstmarkt durch die Decke. Auch Gemälde – besonders die deutschen – scheinen Vexierbilder für Zukünftiges zu sein, die die Menschen interessieren. In der Musik sehe ich wenig Neues. Meine Haltung zum Theater ist ja bekannt. Und ich weiß, dass mich meine Kollegen für diese Aussage erschlagen werden. Sollen sie! Ich sterbe dann im Auftrag der Kunst, den Ruf „Nieder mit dem Regietheater!“ auf den Lippen.

Das ist das Problem der Avantgarde – sie muss sich ständig neu abgrenzen…
Genau, und kann nie zur Ruhe kommen. Das übrigens war auch das Problem der Kommunarden – der Alltag. Sie waren ja acht Monate lang Popstars. Die meisten haben dann aber den Abstieg nicht geschafft. Die haben sich dann entweder totgespritzt oder sich erschießen lassen.

Was ist das Revolutionäre am Internet?
Es ist die Kommune 2.0. Es ist die neue globale WG. Mein Sohn ist zwölf und spielt zu Hause via Internet ein Spiel mit seinem Saxofon-Lehrer und ein paar Schulfreunden. Das ist ein virtueller Zusammenschluss von Leuten, die sich sonst in diesem Moment nicht treffen könnten. Das ist doch eine community! Die Vernetzung besteht aus lauter solchen communities. Da sehe ich die Wiederkehr der 68er. Die Wohngemeinschaften von damals sind ins Netz gerutscht. Das ist eine sehr spannende Entwicklung. Deshalb hat Rainer Langhans auf seine Art völlig recht, wenn er sagt: „Wir haben gewonnen.“

Das Gespräch führte Christine Eichel

Matthias Matussek

geboren 1954, studierte Amerikanistik und Germanistik in Berlin. Er arbeitete als Reporter beim Stern, lebte als Auslandskorrespondent des Spiegel in London, Rio de Janeiro und New York. 2005 kehrte er zurück und wurde Chef des Spiegel-Kultur­ressorts. Sein älterer Bruder Thomas Matussek, bis 2006 Deutscher Botschafter in Großbritannien, ist heute Ständiger Vertreter Deutschlands bei der UN in New York.

Das erste Foul auf dem geharkten Rasen der Konsensgesellschaft beging Matussek 1998 mit dem Buch „Die vaterlose Gesellschaft“. Eine erbitterte Abrechnung mit feministischen Mythen, deren Realitätsüberprüfung ein verheerendes Bild ergab: zerstörte Familien, verlassene Kinder, berechnende Mütter, die Väter nach der Scheidung ausgrenzen. „Pascha des Monats“ war noch eine der freundlicheren Etiketten, die man ihm anklebte. Das Buch wurde ein Bestseller.

In „Wir Deutschen“ von 2006 schilderte Matussek patriotische Gefühle, bevor sich Deutschland Nationalwimpel ins Autofenster klemmte. Wieder wurde er angefeindet, wieder wurde mit dem Vorwurf reaktionärer bis rechter Propaganda gearbeitet. Und wieder schaffte es ein Matussek-Buch auf die Bestsellerlisten. Er veröffentlichte auch Reportagen und Kurzgeschichten in Buchform, für „Palasthotel“, Reportagen aus den Wendezeiten 1989 bis 1991, bekam er den Egon-Erwin-Kisch-Preis.

Seit 2006 beweist Matussek Entertainerqualitäten im Video­blog auf Spiegel online. Seine Kommentare und Kulturtipps werden immer häufiger angeklickt, obwohl oder auch weil er schon mal eine „Crazy-Frog“-Puppe als Komoderator mitbringt.

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