Europa hat zwei Gesichter. Es gab Zeiten, da waren die Europäer vom Wunder der Integration verzaubert.
Europa hat zwei Gesichter. Es gab Zeiten, da waren die Europäer vom Wunder der Integration verzaubert. Nach Jahrhunderten leidvoller Erfahrung kriegerischer Gegnerschaften, nach imperialen Verwüstungen, nach nationalistischen Eruptionen hatten die Völker des Kontinents den inneren Hebel komplett gewendet. Das Integrationsprojekt wurde zu einem Erfolgsmodell mit einer Ausstrahlung weit über den europäischen Kontinent hinaus. Diese Erfolgsgeschichte setzt sich heute fort. Gleichzeitig aber erscheint sie wie die Beschreibung einer entfernten Epoche. Die Rückkehr nationaler Egoismen und eine Erosion der Zustimmung prägen vielfach die Wahrnehmung der Europäischen Union.
In dieser Situation ist es hilfreich, das eigentliche Kernproblem in den Blick zu nehmen – das konzeptionelle Schisma der Europapolitik. Während die einen die Vertiefung der EU zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ für erforderlich halten, betonen andere, sie seien nur einem Binnenmarkt beigetreten. Diese tiefe Diskrepanz in der finalen Perspektive droht der europäischen Erfolgsgeschichte ein abruptes Ende zu bereiten. Solange der Begriff „Europäische Union“ für ein Zielbild stand, konnten unterschiedliche Zieldefinitionen nebeneinander bestehen. Heute geht es um die Regierbarkeit dieser Union – dies lässt Ambivalenz nur um den Preis geringer Handlungsfähigkeit zu. Ohne eine Verständigung über die künftige politische Ordnung des Kontinents könnte die Integration Europas erodieren, möglicherweise sogar zerfallen.
Die zentrale strategische Frage zur Zukunft der Europäischen Union bleibt bis heute unbeantwortet: Warum neue politische Kräfte mobilisieren? Die Antwort liegt in den neuen Konstellationen der Weltpolitik. Der unipolare Moment der Vereinigten Staaten geht vorüber. Mit dem Aufstieg Chinas und Indiens gewinnt die künftige multipolare Weltordnung an Kontur. In dieser Situation stellen sich zwei zentrale Herausforderungen: Zum einen muss eine neue Balance zwischen alten und neuen Großmächten austariert werden. Parallel dazu muss eine nie da gewesene Komplexität der Interdependenz, die sich von Welthandel und Weltfinanzen über Energie und Klimawandel bis hin zu Massenvernichtungswaffen und Staatsversagen spannt, konstruktiv bewältigt werden.
Europa hat keine Wahl: Es muss sich diesen Herausforderungen stellen. Ansonsten droht dem alten Kontinent erneut die Gefahr einer schleichenden Marginalisierung. Eu-ropa darf aber nicht nur reaktiv sein. Die Europäische Union hat das Potenzial, die Regeln der neuen ökonomischen und politischen Weltordnung nach ihren Vorstellungen mitzuentwickeln. Die heutige EU erwirtschaftet rund 35 Prozent der Weltproduktion, ihr Anteil am Welthandel liegt bei über 25 Prozent und ihre Bevölkerung ist mit mehr als 450 Millionen Einwohnern weitaus größer als die der USA. Die Europäische Union verfügt daher über ein Potenzial von weltpolitischem Rang. Doch die Gestaltungsfähigkeit Europas wird davon abhängen, ob es gelingt, die „europäische Antwort“ so zu erneuern, dass sie zukunftsfähig wird.
Hierfür muss die Europäische Union nicht neu erfunden, jedoch mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen neu interpretiert werden. Die Entfaltung neuer Dynamik erfordert keine Festlegung der Finalität des Einigungsprozesses. Dringend benötigt wird jedoch eine zukunftsfähige Begründungslogik für die europäische Integration. Die Proklamation einer feierlichen Erklärung reicht ebenso wenig wie unverbundene Einzelprojekte in unterschiedlichen Politikfeldern.
Die Revitalisierung des Integrationsprozesses braucht ein neues Großprojekt. Europapolitik war immer dann besonders erfolgreich, wenn ein übergreifendes, ambitioniertes Gestaltungsziel verfolgt wurde. Eindrucksvollstes Beispiel ist das Binnenmarktprogramm „Europa ’92“. Heute spricht vieles für ein Großprojekt im Bereich Sicherheit. Entgegen der Erwartung und dem Lebensgefühl vieler Europäer, die sich nach dem hochgerüsteten Patt der Blockkonfrontation von großer Unsicherheit befreit sahen, durchlebt die Weltpolitik eine Epoche der Unordnung, Krisen und neuen Gefahren. Der europäische Kontinent ist dabei sowohl nach innen als auch von außen äußerst verletzlich. Die Antwort der Europäer auf diese Verletzlichkeit muss eine gemeinsame sein.
Eine engere Integration im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit ist für die Mitgliedstaaten und ihre Bürger mit Vorteilen verbunden, die die Nationalstaaten im Alleingang nicht mehr erzielen können. Gemeinsame Antworten auf globale Machtverschiebungen und transnationale Probleme wie Energiesicherheit, grenzüberschreitende Kriminalität, illegale Migration, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und neue Formen des transnationalen Terrorismus würden durch die Bündelung von sicherheitspolitischen Ressourcen große Effizienz- und Kostenvorteile bieten.
Die EU-Staaten haben den Mehrwert einer Kooperation längst erkannt. Seit Maastricht hat die Europäische Union in der Innen- und Justizpolitik und in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik erhebliche Fortschritte erzielt. Doch viele der Maßnahmen stehen bisher unverbunden nebeneinander, ohne ein schlüssiges Gesamtbild zu vermitteln. Auch eine konzeptionelle Verzahnung innerer und äußerer Sicherheit fehlt.
Die Realisierung eines Großprojekts im Bereich der Sicherheit setzt die Entwicklung eines kohärenten Konzepts voraus, das europäische Sicherheitsinteressen in einem umfassenden Verständnis definiert, innere und äußere wie auch zivile und militärische Aspekte von Sicherheit aufeinander abstimmt, die zu erbringenden Einzelmaßnahmen identifiziert und mit einem verbindlichen Zeitplan versieht. Für den Bereich der äußeren Sicherheit wäre die Schaffung einer europäischen Armee eine entsprechende Zielvorgabe, die durch äquivalente zivile Projekte und Maßnahmen im Feld der inneren Sicherheit zu ergänzen wäre.
Die Bildung integrierter Streitkräfte würde die militärische Leistungsfähigkeit Europas erhöhen. In Zeiten angespannter Haushaltslagen ließen sich Duplizierungen und Ressourcenverschwendungen vermeiden. Durch die Schaffung einer europäischen Armee würden die Staaten Europas sicherheitspolitisch enger zusammenrücken als jemals zuvor. Die sicherheits- und verteidigungspolitische Verzahnung würde den Druck auf die EU-Staaten erhöhen, eine gemeinsame europäische Kultur strategischen Denkens und Planens nicht nur in regionaler, sondern in globaler Perspektive zu entwickeln. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten wären gezwungen, auch bei sicherheitspolitisch sensiblen Fragen mit einer Stimme zu sprechen. Damit würde das Profil der Union auf der internationalen Bühne gestärkt, sodass Europa sich im Konzert der internationalen Mächte verantwortungs- und selbstbewusst einbringen und eine markante gestalterische Relevanz erhalten könnte.
Falls der gegenwärtige politische Konsens zwischen den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union von der Idee einer europäischen Armee überfordert ist, muss es den kooperationswilligen und kooperationsfähigen Staaten möglich sein, auch ohne die Beteiligung aller EU-Länder voranzuschreiten. Eine besondere Verantwortung liegt bei Deutschland, Frankreich und Großbritannien. Die großen drei verfügen über Strukturen, Mittel und Fähigkeiten, ohne die eine Europäische Armee nicht möglich sein wird.
Wenn es der Europäischen Union gelingt, ein umfassendes strategisches Sicherheitskonzept zu entwickeln, wird Europa in der Lage sein, einen zentralen, im wohlverstandenen Eigeninteresse liegenden Beitrag zur Mitgestaltung einer friedlichen Weltordnung zu leisten. Der epochale Beschluss zum Einigungsprojekt hat dem europäischen Kontinent einst Frieden und Wohlstand gebracht. Nun gilt es, dieses Europa als Erfolgsprojekt auch in globaler Perspektive zu denken.
Werner Weidenfeld ist Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung und Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er gibt seit 1980 das „Jahrbuch der Europäischen Integration“ heraus. Zuletzt erschien: „Herausforderung Terrorismus“ (VS-Verlag)
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