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Vereinsmeierei - Die Deutschen pfeifen auf ihre Freiheit

Mitglied im Fitnesstudio, im Raucherclub, im Alpenverein. Unsere tschechische Gastautorin Lucie Suchá wundert sich über die deutsche Vereinsmanie

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Suchá, Lucie

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Als ich nach Berlin gekommen bin, habe ich erst einmal ein paar Wochen auf den Frühling gewartet. Das musste ich dann aber aufgeben und mein Bedürfnis nach Sport im Fitness-Center befriedigen. Und da kam der Schock. Ich habe gar keins gefunden. Kein Fitness-, kein Spinning-, kein Yoga- oder Zumbakurs, um auch nur eine einzige Stunde schwitzen zu können – ohne dort Mitglied zu sein.

Aber warum verzichten die Deutschen auf diese Freiheit? Denn es gehört doch zur Freiheit, einmal pro Monat für fünf Euro zum Zumba gehen zu können und zweimal in Jahr für denselben Preis einen Yogakurs zu besuchen. Es gehört zur Freiheit, in einem Fitnessstudio einen Zumba-Kurs zu machen, weil dort der beste Trainer ist und im zweiten das Spinning zu absolvieren, weil sie hier die besseren Geräte haben. Das nenne ich Freizeit-Freiheit. [[nid:54227]]

Und schon das Wort „Vertrag“ klingt so hart…  mit zwei „r“ und einem „t“ in der Mitte.

Regisseurin Marina Schbarth, die ein Theaterstück im Berliner Dokumentartheater über das NSU-Trio gemacht hat, erzählte mir vor paar Tagen, was sie aus den Gesprächen mit Rechtsextremisten erfuhr: Die Gründe dafür, wie Menschen zu dieser Ideologie kamen, waren eine harte Kindheit und niedriges Selbstbewusstsein auf einer Seite und das Angebot, zum Teil von etwas Großem und Starken zu werden auf der anderen Seite.

Das ist natürlich ein extremes Beispiel, aber abgesehen von der rechten Szene, die dieses Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit missbrauchte – könnte dieser Wunsch nicht auch Schuld daran sein, dass Deutschland in Europa als Vereinsnation gilt?

Nur um die Fakten zu klären: Deutschland ist nicht Vorreiter in der Vereinsmeierei, weil es besonders viele Vereine gäbe. Wenn man nämlich die Zahl der Einwohner berücksichtigt, hat Deutschland genauso viele Vereine wie Tschechien: In Deutschland kommen 580.298 Vereine auf 81 Millionen Menschen, während es in Tschechien 78.406 Vereine für 10,6 Millionen Einwohner sind. Es geht aber vielmehr um die hohe Zahl an Mitgliedern.

Nehmen wir zum Beispiel meine deutsche Freundin Bigna. Sie ist Mitglied des Deutschen Alpenvereins (DAV). „Eigentlich habe ich noch nie die Angebote im DAV genutzt, aber die Beiträge zahle ich weiter, auch wenn ich gerade keine Arbeit habe“, sagt sie. Außerdem ist sie Mitglied bei „Studieren ohne Grenzen“. Bignas Mutter ist Mitglied bei Greenpeace (auch nicht mehr aktiv) und im Fitnessstudio. Bignas Vater ist Mitglied eines Kanuclubs (nicht mehr aktiv), im Alpenverein DAV, im Fitnessstudio, beim Deutschen Roten Kreuz und bei der SPD. Genauso wie 0,6 Prozent aller Deutschen. In der ČSSD, der vergleichbaren und an Mitgliederzahlen reichsten Partei in Tschechien, sind nur 0,2 Prozent der gesamten Bevölkerung versammelt. Die Labour Party im Vereinigtes Königreich kommt auf 0,3 Prozent. Bignas Familie – drei Menschen – aber ist in insgesamt neun Vereinen oder Mitglieds-Organisationen beheimatet.

Nehmen wir jetzt meine Familie, mich und meine Eltern: Keine Mitgliedschaft. Wir sind eigentlich nur Mitglieder unserer Familie. Beziehungsweise wir waren es. Bis wir die Grenze nach Deutschland überschritten haben. Vor fünf Jahren habe ich zwei Wochen in Berlin verbracht. Meine Mutter kam, um mich zu besuchen. Sie war noch nie hier gewesen. Einmal ging sie alleine zum Mittagessen und kam als Mitglied eines Raucherklubs zurück. Meine Mutter raucht nicht und sie spricht kein Wort Deutsch. „Die Kellnerin war so nett und gab mir diesen Zettel...“, erzählte sie später. In dieser Zeit sammelten Restaurants die Unterschriften, um das Rauchergesetz umgehen zu können – da kam sie gerade recht. Naja Mama, gut, dass es kein Kredit-Vertrag war.

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Ich verstehe, dass Verträge und eine möglichst große Zahl an Mitgliedern für die Organisationen wichtig sind. Vor allem für die Hilfsorganisationen, die so regelmäßig Geld bekommen und ihre Tätigkeit besser planen können. Die Berliner Tafel zum Beispiel wird nur von den Beiträgen der 1700 Mitglieder finanziert, der Mindestbeitrag beträgt  2,75 Euro im Monat. So betrachtet scheint es fast unmöglich, dass sich ähnliche Hilfsorganisationen in anderen Ländern mit unregelmäßigen Beiträgen begnügen müssen, die meistens gegen Weihnachten oder in der Zeit irgendeiner Katastrophe eintrudeln.

Diese deutsche Mitgliedschaft-Bereitwilligkeit ist auch die Antwort auf ein wirtschaftlich-journalistisches Rätsel, auf die Frage, wieso hier die Medien-Krise eher Boulevardzeitungen belastet. Sie sind billiger, zielen auf die Mehrheit der Gesellschaft ab, dienen eher der Unterhaltung als der Nachrichtenübermittlung. Eben diese sollten aus der Krise unverletzt entkommen, oder nicht? Nein, nicht in Deutschland. Im Vergleich zum Jahr 1998 hat die Bild, das größte Boulevardblatt des Landes, fast 1,9 Millionen Lesern verloren. Das entspricht einem Verlust von über 42,8 Prozent.[[nid:54227]]

Warum? Schon wieder sind Verträge schuld. Die Bild kauft man auf der Straße, Qualitätszeitungen werden stattdessen meistens als Abonnementzeitungen verkauft. Und: „Die Deutschen mögen Papierkram nicht. Die wechseln nicht den Energieversorger, auch wenn sie ein bisschen sparen könnten. Es ist zu kompliziert. Sie kündigen auch aus diesem Grund ihr Abo nicht. Aber am Kiosk, da überlegt man schon“, erklärt Erik Staschöfsky vom Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger. 

Der Statistik zufolge ist die Auflage der 333 Tageszeitungen, die Mitglieder (ja, schon wieder Mitglieder) beim Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger sind, im Vergleich zum Jahr 2000 um 20,2 Prozent beim Abonnementverkauf gesunken. Beim Einzelverkauf handelte es sich schon um Verluste von 41,7 Prozent. Per Abo verkauft man in Deutschland 12,1 Millionen Tageszeitungen (Statistik von 2012), beim Kiosk nur 4,1 Millionen Exemplare. In Tschechien dagegen gehen am Kiosk mehr als die Hälfte aller Tageszeitungsexemplare über den Verkaufstisch.

In der Mitgliederrepublik Deutschland finanzieren die Einwohner verschiedene mehr oder wenige sinnvolle Projekte, nur weil sie diese vor zwei, sechs oder fünfzehn Jahren für zweckmäßig hielten. Jetzt verhindert ihr innerer Schweinehund, dass sie ihre Mitgliedschaft kündigen und schließt sie in Unfreiheit ein. Warum die Deutschen aber dieses Spiel angenommen haben? Ich weiß es nicht.

Am Ende habe ich meine Suche nach einem Einzeleintritt ins Fitnessstudio aufgegeben. Und damit auch meine Freiheit. Auch ich gehöre jetzt in diese Republik. Zuerst habe ich einen Probemitgliedsvertrag mit dem Fitnesscenter abgeschlossen, dann auch den Antrag auf Mitgliedschaft ausgefüllt. Dafür musste ich mit Dokumenten – idealerweise mit einem Visum oder Arbeitsvertrag – beweisen, dass ich nur für paar Monate in Deutschland bleibe und deswegen nicht den 12-monatigen Vertrag abschließen kann.

Erst nach dieser kafkaesken Zeremonie erreichte ich mein ersehntes Ziel: Ich saß auf einem Fitnessgerät, meine Muskeln zitterten, ich begann schon zu schwitzen. Da schaute ich mich um, nach den Gesichtern der anderen, die zu dieser riesigen Fitness-Fabrik gehören. Aber ich fühlte keine Zusammengehörigkeit. Nur ein bisschen Ärger darüber, dass ich nicht vorher gewusst hatte, wie kalt das Wasser ist, das hier in den Duschen fließt. Naja, zu spät, es zu ändern. Vertrag ist Vertrag.

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