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Staatsschutz - Jüdische Familie im Fadenkreuz deutscher Ermittler

David S. soll im Internet den Beschneidungsgegner und Strafrechtler Holm Putzke beleidigt haben. Der zeigt ihn an. Plötzlich steht das Kommissariat für rechtsextreme Delikte bei David S. vor der Tür

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Pyka, Jennifer Nathalie

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„Wir sind eine kleine jüdische Familie“, betont der Münchner Familienvater Jonathan S.* immer wieder. „Völlig unbescholtene Bürger, keine Drogendealer, keine Menschenhändler“, fügt er energisch hinzu, wenn er über den 16. Januar dieses Jahres spricht. Der Tag, an dem früh morgens nicht der Wecker, sondern die Polizei klingelte. Insgesamt drei Beamte des Münchner Kommissariats 44, zuständig für Delikte mit rechtsextremem Hintergrund, rückten an diesem Januarmorgen um Punkt sechs Uhr bei der fünfköpfigen Familie an.

Jonathan S. staunt nicht schlecht, als die Staatsschützer ihm eröffnen, nun auf richterliche Anordnung die Räumlichkeiten seines Sohns, David S. (15), zu durchsuchen. Wenig später durchsuchen sie das Zimmer des Jugendlichen, konfiszieren seinen Laptop und fragen ihn, ob er Aussagen zur Sache machen möchte. „Ich war unglaublich geschockt, als plötzlich drei fremde Männer vor mir standen“, erinnert sich der 15-Jährige.

David S. hat weder jüdische Grabsteine mit Hakenkreuzen beschmiert noch den Holocaust geleugnet. Er ist auch nicht Mitglied einer autonomen Kameradschaft, sondern der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. „Beleidigung gemäß Paragraph 185 StGB“ ist es, derer die Staatsanwaltschaft München den Teenager verdächtigt. Eine Lappalie könnte man meinen – zumindest kein Grund für eine Hausdurchsuchung. Nicht jedoch in den Augen der Münchner Justizbehörden, die in diesem Fall hochmotiviert ermitteln.

Denn David S. soll nicht irgendwen, sondern den Beschneidungsgegner und Passauer Strafrechtsprofessor Holm Putzke beleidigt haben. Den Mann also, der als „geistiger Vater“ des Kölner Beschneidungsurteils gilt und in der dazugehörigen Debatte den Ton angibt. Seit vielen Jahren fordert er ein Verbot der religiösen Beschneidung, die er als „archaisches Ritual“, Körperverletzung, gar als Akt „religiös motivierter Gewalt“, der zu Traumata führen könnte, einstuft.

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Nur eines eint David S. und Putzke: Beide sind auf Facebook aktiv. Dort habe der Junge gemäß Staatsanwaltschaft im Juli vergangenen Jahres mit seinem Pseudonym „Dave 98“ eine private Nachricht an den Strafrechtler verschickt. Als „kleines dreckiges Vorhautschwänzchen“ soll er ihn darin bezeichnet haben – nicht ohne zu erwähnen, dass „Deutschland nach dem Holocaust nie wieder kleine beschnittene jüdische Jungs in die Flammen der Krematorien werfen“ werde. Worin genau hier der rechtsextreme Hintergrund besteht, und weshalb ausgerechnet für Neonazis zuständige Staatsschützer bei einer jüdischen Familie anrückten – all das verrät die Staatsanwaltschaft unter Verweis auf die Nicht-Öffentlichkeit von Jugendstrafsachen hingegen nicht.

Für Putzke zumindest sind es Zeilen, die so keinesfalls stehen bleiben konnten. Er erstattete Strafanzeige und brachte damit die Ermittlungen gegen David S. ins Rollen. „Ich informiere nicht wegen jeder Kleinigkeit die Polizei“, so der Passauer Jurist, aber er lasse sich auch nicht alles gefallen: „Wer zu weit geht, muss sowohl mit einer Anzeige rechnen als auch mit zivilrechtlichen Konsequenzen.“

Dass nun allerdings ein 15-jähriger Junge im Visier der Ermittlungsbehörden steht, habe er nicht gewusst: „Ich kenne weder den genauen Stand der Ermittlungen noch hatte ich Kenntnisse über die Person, die mich unter dem scheinbaren Schutz eines Pseudonyms beleidigt hat.“ Konfrontiert mit dem Alter von David S. betont Putzke: „Es kann sicherlich nicht schaden, früh zu lernen, dass Beleidigungen keine akzeptable Form der Kommunikation und sachlichen Auseinandersetzung sind“. Das Jugendgerichtsgesetz enthalte „genug Möglichkeiten, um angemessen auf Straftaten Jugendlicher zu reagieren“, so der Strafrechtler, zu dessen Schwerpunkten auch das Jugendstrafrecht zählt.

Das angemessene Strafmaß steht derzeit allerdings noch gar nicht zur Debatte. Vielmehr ist es die Hausdurchsuchung, die höchst unangemessen erscheint. Da eine Durchsuchung grundsätzlich einen Eingriff in das Grundrecht auf Unversehrtheit der Wohnung darstellt, muss sie in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und zur Stärke des Tatverdachts stehen.

Davon könne in diesem Fall jedoch keine Rede sein, argumentiert der renommierte Rechtsanwalt Steffen Ufer aus München. Seit über 40 Jahren ist er als Strafverteidiger tätig und kann dabei auf eine Vielzahl spektakulärer Fälle und prominenter Mandanten – darunter Rainer Werner Fassbinder und Karl-Heinz Wildmoser – zurückblicken. Nun verteidigt er David S. – und zwar mit klaren Worten. Gegen den Durchsuchungsbeschluss legte er umgehend Beschwerde beim Amtsgericht München ein. Dieser sei rechtswidrig, nicht verhältnismäßig und weit über das Ziel hinausschießend, so Ufer.

Immerhin war David zum fraglichen Tatzeitpunkt vierzehneinhalb und damit gerade erst strafmündig. Mit Vorstrafen kann er ebenfalls nicht aufwarten. Die Beleidigung gemäß §185 StGB? Ein recht harmloser Tatvorwurf betont Ufer, der „selbst bei Gelingen eines Tatnachweises zu keinem greifbaren Sanktionsergebnis geführt hätte“. Ohnehin bestünden „erhebliche Zweifel an der Täterschaft“ des David S., da die Nachricht zwar von seinem Account verschickt wurde, dies aber kein eindeutiger Beweis für eine Täterschaft sei. All dies habe das Gericht nicht hinreichend berücksichtigt, kritisiert Ufer, der den Beschluss als „klaren Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz“ bezeichnet.

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Ähnlich sieht das auch der Koblenzer Rechtsanwalt Franz Obst, der seit vierzehn Jahren als Fachanwalt für Strafrecht tätig und daneben aus Formaten wie dem „RTL Nachbarschafsstreit“ bekannt ist. „Da wurde mit Kanonen auf Spatzen geschossen“, sagt Obst. „Wenn Recht im Namen des Volkes gesprochen wird, sollten sich auch die Behörden auf diesem Boden bewegen.“ Er könne sich allerdings kaum vorstellen, dass eine Hausdurchsuchung bei einem nicht vorbestraften 15-Jährigen wegen Beleidigung im Sinne der Allgemeinheit ist. „Ein Stück aus dem Tollhaus“, so Obst, das zeige, dass hier im Staat wohl irgendetwas falsch laufe.

Nicht nur Zweifel, sondern vor allem tiefes Entsetzen macht sich indes bei Familie S. breit. „Fast alle unserer Angehörigen wurden während des Holocaust ermordet, und nun sind es wieder deutsche Beamte, die eine derart unfassbare Aktion gegen eine jüdische Familie in Gang setzen“, empört sich Jonathan S. Sein Sohn David fügt hinzu:  „Wenn es an der Tür klingelt, habe ich manchmal furchtbare Angst, dass diese drei Männer wieder zurückkommen.“

Unterstützung erfährt die Familie dagegen auch aus der jüdischen Gemeinschaft. Rabbiner Dr. Tom Kučera etwa, der die Liberale Jüdische Gemeinde München „Beth Shalom“ betreut, zeigt Verständnis für die emotionale Situation des 15-Jährigen. Nicht nur die Umstände der Hausdurchsuchung, auch das kompromisslose Vorgehen Putzkes gegen einen jüdischen Teenager kann er nur schwer nachvollziehen: „Herr Putzke fühlt sich nun verletzt. Aber er sollte nicht vergessen, dass die durch ihn angestoßene Beschneidungsdebatte mitsamt ihren unschönen Tönen – Kinderschänder, Traumata, etc. – uns Juden genauso massiv verletzt und verunsichert hat. Dies sollte man bei der Betrachtung der Sachlage berücksichtigen."

Holm Putzke hingegen kennt derzeit kein Pardon. In einem Schreiben an die Münchner Staatsanwaltschaft zur Causa David S. kündigte er bereits Strafanzeigen gegen weitere Personen an, von denen er sich beleidigt fühlt. Sein Kampf um die Vorhaut dehnt sich zum Streit um Befindlichkeiten aus. Dass er nun auch um sechs Uhr morgens zwischen Juden und Staatsschützern im Kinderzimmer verhandelt wird, macht ihn allerdings endgültig zur Farce.  

*Name geändert

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Artikels stand, die Polizei habe das Zimmer des schlafenden Jungen gestürmt und diesen geweckt. Inzwischen liegt uns das Polizeiprotokoll der Hausdurchsuchung vor, danach ergibt sich eine abweichende Darstellung der Ereignisse. Deshalb haben wir die entsprechende Passage des Textes geändert.

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