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Organspende - Ein Akt der Nächstenliebe?

Mit der Gesetzesnovelle zur Organspende muss sich jeder für oder gegen die Transplantation entscheiden. Doch wie schwierig dieser Prozess ist, weiß Ingrid Schröter. In dem Buch „Zweites Leben” berichtet die Berliner Klinikseelsorgerin aus ihrem Alltag

Autoreninfo

Schröter, Ingrid

So erreichen Sie Ingrid Schröter:

Seit 1991 arbeite ich als Krankenhaus-Seelsorgerin. Von Anfang an hatte ich mit dem Thema Organtransplantation zu tun, weil in unserer Klinik in Berlin-Neukölln Menschen auf die Transplantation eines Organs warten. Bis vor zehn Jahren manchmal monatelang – je nachdem, in welcher Verfassung sie sind. Unsere Klinik transplantiert nicht, doch sie bereitet Menschen für eine Organentnahme und für die Verlegung in eines der Transplantationszentren vor.

[[{"fid":"52822","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":132,"style":"width: 120px; height: 200px; float: left; margin: 5px 10px;","class":"media-element file-teaser"}}]]Wenn jemand das Gespräch sucht, bin ich als Seelsorgerin da. Im Gespräch zeigt sich, worum es in der Seelsorge geht: um Begleitung, auch um Antwort auf die Frage nach den „vorletzten Dingen“. Wie wird das sein, wenn ich sterbe? Was bedeutet das für mich, für meine Lieben? Werden sie ertragen können, wenn ich nicht mehr leiden will? Kann ich ehrlich sein? Wie und wo will ich beerdigt werden? Häufig geht es um Beratung bei der Entscheidung für oder gegen eine Organspende und fast immer um die Gestaltung eines Abschieds von einem Verstorbenen. Das Gespräch suchen die Angehörigen, die gefragt werden, ob sie einer Organentnahme bei ihrem Angehörigen zustimmen würden, wie auch die, die auf ein Organ warten – und immer wieder mal der eine oder andere vom Personal, der Pflege oder ein Arzt.

In der Regel werde ich als Seelsorgerin und ethische Beraterin zugleich angefragt. Doch Seelsorge ist nicht Ethik: Sympathie oder Verständnis für betroffene Menschen reichen nicht aus für eine Maxime allgemeinen oder gar rechtsverbindlichen Handelns. Als Seelsorgerin bringe ich Verständnis für schwere Schicksale auf. Ich lasse mich auf die Fragen der Menschen ein. Auch dann, wenn ich die Lösung, die sie anstreben, problematisch finde. Ich habe die Gespräche ergebnisoffen zu gestalten.

Fühlten sich Angehörige vor gut 20 Jahren durch die plötzliche Anfrage nach Organentnahme – ohne weitere Begleitung – eher fremdbestimmt und genötigt, so hat man sich seither bemüht, aus dem unglückseligen Umgang mit allen Betroffenen zu lernen. Die kritischen Stimmen gegen die voreiligen offiziellen Stellungnahmen unserer christlichen Kirchen wurden zum Teil gehört. Ein kirchliches Beispiel ist die Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der Evangelischen Kirche zur Organtransplantation von 1990. Sie spricht unter anderem von „Rettung“ und „Akt der Nächstenliebe“, ohne zu bedenken, was diese medizinische Entwicklung für unser Menschenbild, für Sterben, Tod und Auferstehung bedeutet.

Stellvertretend für die kritischen Stimmen nenne ich den emeritierten Berliner Religionssoziologen Klaus-Peter Jörns. Seine These: Die theoretische Basis der heutigen Organtransplantationspraxis stellt wissenschaftstheoretisch, anthropologisch und ethisch eine Grenzüberschreitung dar. „Niemand, auch die Kirche nicht, hat das Recht, von den eigenen Prämissen her die Prämissen anderer in Richtung auf die Organ-,Spenden‘ zu majorisieren. Ich sehe es als ein unerlaubtes Verfahren an, wenn das christliche Liebesgebot, das der Gemeinde Christi gilt, dazu herhalten muss, ein ‚Lebensrecht‘ im Sinne eines Lebensverlängerungsrechts oder eines Rechts auf Verbesserung der Lebensqualität durch Implantation fremder Organe zu begründen. Ist ein solches Anspruchsdenken erst einmal praktisch etabliert und die Organ-,Spende‘ damit zugleich zur Pflicht gemacht, so ist prinzipiell kein Sterbender mehr davor bewahrt, als ‚Spender‘ behandelt zu werden, wenn er in Todesnähe gerät“.*

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*Klaus-Peter Jörns, Organtransplantation – Eine Anfrage an unser Verständnis von Sterben, Tod und Auferstehung. Zugleich eine Kritik der Schrift der Kirchen „Organtransplantationen“, in: Johannes Hoff / Jürgen von der Schmitten, Wann ist der Mensch tot? Reinbek 1995

Ich habe nicht vor, eine dezidierte Stellungnahme pro oder kontra Organspende abzugeben. Ich erzähle aus meinem Praxisfeld, weil mir in der Debatte um die Organtransplantation etwas zu kurz kommt, nämlich der individuellbiografische Blick. Also das, was in letzter Zeit „narrative Medizinethik“ genannt wird. Denn gerade damit, mit den verschiedensten Lebensgeschichten und mit der Beziehungsebene habe ich es in der Seelsorge zu tun.

Wie mögen Menschen den Titel der Stellungnahme des Nationalen Ethikrates zur Organspende hören „Die Zahl
der Organspenden erhöhen – zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland“ (2007)? Die Stellungnahme reagiert darauf, dass in Deutschland pro Jahr dreimal mehr Menschen auf eine Organtransplantation warten als Organe zur Verfügung stehen. Der Bundestag hat 2012 einen Schlusspunkt unter die jahrelange Diskussion zur Organspende gesetzt. Die Krankenkassen, korrekter die Gesundheitskassen, werden alle zwei Jahre die Bereitschaft zur Spende abfragen. Ein Brief informiert den Versicherten darüber, dass die Entscheidung zur Organspende das Leben von schwerkranken Menschen retten kann.

Jeder kann mit Ja, Nein oder Ich weiß nicht antworten. Diese sogenannte Entscheidungslösung ist nicht nur Antwort auf den immer wieder beschriebenen Organmangel. Sie soll die Angehörigen entlasten. Aus gutem Grund: Vor ein paar Jahren habe ich miterlebt, wie es Angehörigen ergeht, wenn sie am Bett eines „hirntoten“ Menschen stehen.

Meine Kollegin – ich nenne sie Regina – war an ihrem letzten Arbeitstag vor unserer Klinik tödlich verunglückt. Stammhirnblutung. Ich wusste, diese Diagnose bedeutet Tod durch Hirntod. Regina lag in einem Wärmebett. Sie war mit zahlreichen Schlauchsystemen verbunden, die zu jeder Menge Infusions- und Perfusionspumpen führten. In gleichmäßigem, monotonem Rhythmus arbeitete das Beatmungsgerät. Die Apparate waren der einzige Hinweis auf die Schwere des Befundes. Sie sah so gut wie unverletzt aus. Ich setzte meinen Verstand gegen mein Gefühl: Es sind die Geräte, die Reginas Körperfunktionen in Gang halten.

Im Gespräch mit Reginas Schwester wurde deutlich, dass es sie trösten würde, wenn Regina durch ihre Organe in einem anderen Menschen weiterleben könnte. Als ich entgegnete: „Regina ist tot“, beunruhigte sie das. Plötzlich wehrte sie sich gegen eine  Organspende und flüchtete aus der Klinik. Ich versprach ihr, beim Abschalten der Beatmung bei Regina zu bleiben.

Als Regina dann, drei Tage später, beim Abschalten der Beatmung eine für sie sehr typische Geste zeigte – sie hob ihre linke Hand und legte sie aufs Herz, mit dieser Geste hatte sie mich immer angesprochen, wenn sie tief bewegt war und nach Worten suchte –, habe ich mir wie ein Mantra immer wieder gesagt: Es sind Spinalreflexe. Das Gehirn ist so kaputt, dass sie gar nicht mehr leben kann. Mich tröstete, dass Regina für sich rigoros sowohl die Apparatemedizin als auch die Organspende abgelehnt hatte. Sie hatte nie etwas schriftlich niedergelegt, doch immer unmissverständlich ihren Willen kundgetan.

Es war für mich so etwas, wie ihr den letzten Wunsch zu erfüllen: „Nicht diese Maschinerie!“

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Den Hirntod als sicheres Todeszeichen zu werten, ist eine weltweit gültige Übereinkunft der Intensivmedizin. Zwei voneinander unabhängige Ärzte stellen in einem gesetzlich vorgeschriebenen mehrstufigen Diagnoseschema den Hirntod fest. Damit man ein oder mehrere Organe transplantieren kann, muss das Herz noch schlagen. Doch damit man überhaupt transplantieren kann, muss der Mensch schon tot sein.

Wie redet man nun von einem Hirntoten? Ist er tot oder nicht ganz tot? Nach unserer Gesetzgebung muss der Mensch hirntot sein. Das Zentralnervensystem ist komplett ausgefallen. Es zerfällt schnell in seiner Substanz. Von außen ist das nicht erkennbar. Nur das Herz-Kreislauf- System kann maschinell aufrechterhalten werden. Durch die Maschinen bleiben die Organe funktionsfähig. Denn Transplantation braucht Lebendorgane.

Am Bett, im Zimmer spielt sich Merkwürdiges ab. Wir erleben und behandeln den hirntoten Menschen wie einen lebenden Patienten. Unseren Sinneseindrücken zum Trotz sagen wir uns mit dem Verstand: Der, der da im Bett liegt und behandelt wird, ist tot. Doch der Verstand sagt: Tote behandelt man nicht. Der Verstand erwidert: Er wird behandelt um eines anderen Menschen willen. Welch eine Variante: Ein Teil meines Leibes – für Dich?! Der hirntote Mensch sieht nicht tot aus. Er fühlt sich auch nicht so an. So entsteht der irrige Eindruck: Der Tod wird erst durch die Explantation verursacht. Nein, sagt der Verstand: Organentnahme tötet nicht. Das Tötungsverbot wird nicht berührt. Auch wenn davon berichtet wird, dass vor und während der Explantation Menschen Schweißausbrüche, Verkrampfungen, Verzerrungen, Aufbäumen zeigen: Es sind Spinalreflexe, wie beim Huhn, das auch ohne Kopf über den Zaun fliegt, oder dem getöteten Aal, der beim Auswickeln in die Hand beißt. Darum brauchen sie auch keine Narkose, keine muskelentspannenden Mittel.

Der Verstand sagt: Bleib nüchtern, bedenke sachlich. Doch ich bin nicht nur Verstand. Ich erfahre mich auch im Gefühl, und ich stehe in Beziehung, erfahre mich in Nähe, in liebender Beziehung und Verantwortung. Du brauchst Zeit, um zu begreifen: Der, der da im Bett liegt, ist tot, unwiderruflich tot. Du brauchst mehr Zeit zum Begreifen, doch so lange kann nicht gewartet werden. Eine behutsame Stimme sagt, bemüht, nicht bedrängend zu klingen: „Es wäre gut, wenn möglichst bald …“ Die Vernunft sagt: Einen Teil seines Leibes für wenigstens einen Menschen geben – denn irgendwo, in der Ferne, wartet wenigstens einer, hofft und leidet schwer.

Wie zum Beispiel Herr Lehmann. Er ist vierundvierzig Jahre alt. Mit kurzen Unterbrechungen wartete er gut elf Monate in unserer Klinik auf ein Spenderherz. Wir sprachen viel miteinander. In elendigstem Zustand hat er seinen Antrag für die Warteliste unterschrieben. Ob er wirklich wollte, wusste er nicht zu sagen. Er war einfach nur noch am Ende, und seine Familie drängte schon lange. Herr Lehmann wollte nur noch seine Ruhe haben.

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Lange beschäftigte ihn der Gedanke, dass da einer für ihn stirbt. Es dauerte, bis er begriff: „Nein, da stirbt keiner extra für mich, sondern da ist einer gestorben und hat in seinem Ausweis dokumentiert, dass er bereit ist, ein Organ herzugeben.“ Einmal ertappten wir uns beide bei der Hoffnung: vielleicht heute? Weil der Wetterbericht mal wieder von Nebel und Nässe kündete. Dann keimte das schlechte Gewissen auf. Besser, es klappt nicht, dann brauche er sich nicht solche Gedanken zu machen.

Jederzeit musste er in Erwartung eines Organs erreichbar sein. Monatelang kreisten die Gedanken um den zu erwartenden Telefonanruf, Rettungshubschrauber und Funkgerät und versetzten ihn in Anspannung und Aufregung. Die Familie erzählte, wie sie nach und nach die Wohnung veränderte – für seine Rückkehr, für „danach“: Teppiche raus, Böden neu, Zimmerpflanzen verschenkt.

Es dauerte gut neun Monate, bis Herr Lehmann hundertprozentig bereit war, ein Organ zu empfangen. „Wenn ich zeitig genug ein Organ bekomme, wenn tatsächlich alles gut ausgeht, will ich es als gnädiges Geschenk annehmen und das niemals vergessen. Wenn ich vorher sterbe, dann hat es nicht sollen sein.“ Seit sieben Jahren feiert er nun einen anderen Geburtstag, den, „an dem mir noch einmal das Leben geschenkt wurde“. Er besucht und begleitet jetzt – ehrenamtlich – die Menschen, die auf Organe warten. Eines Tages besuchte er uns in der Klinik-Seelsorge: „Ich habe einfach mein Leben aufs Spiel gesetzt. Ich raste mit dem Motorrad bei feuchtem Nebel und überhöhter Geschwindigkeit auf Brandenburgs Alleen entlang. Und dann habe ich auch noch einem Auto ganz bewusst die Vorfahrt genommen. Es ist noch mal gut gegangen. Was ist denn los mit mir?“ Da war so eine Frage in ihm, womit er es eigentlich verdient hätte, leben zu dürfen – mit dem Herzen eines anderen in seiner Brust. Der andere wollte doch auch leben. Er weiß, in seinem Brustkorb schlägt das Herz eines jungen Burschen, wie er es nennt.

Das fremde Organ im Körper lässt Menschen nicht unberührt. Ein Mensch braucht Zeit, um das Fremde in sich zu integrieren, es sozusagen zu adoptieren, denn es berührt die eigene Identität. Auf Seiten aller Betroffenen, Empfänger wie Angehörige des Spenders, wird der Körper nie als Material gesehen, sondern er stiftet Identität und damit auch das Menschenbild.

Die Geschichte des Abendlandes mit ihrer Trennung von Geist und Materie, von Seele und Körper hat einen Dualismus hervorgebracht, der die Dinge in sehr eigener Weise vereinfacht. Der Leib wurde zunehmend entwertet; wurde zum Objekt der Beobachtung. Sein Materialwert – nur ein paar Euro: 72 Prozent Wasser, ein paar Salze, bis zu drei Pfund Kalk aus dem Skelett. Der Körper wird nur gesehen als die Hülle für das Eigentliche, den Geist, die Vernunft: „Ich denke, also bin ich.“

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Mittlerweile wissen wir viel darüber, wie was am und im Menschen funktioniert. Der Körper bekam und bekommt die Aufmerksamkeit einer Maschine. Jahrhundertelang suchte man die Seele als Organ im Körper. Ohne Ergebnis. Nun sind wir weiter: Die menschlichen Gefühle – die Psyche, der menschliche Geist – das Bewusstsein, und auch der menschliche Körper scheinen ganz und gar an das Gehirn gebunden, stofflich, materiell. Unmerklich wurde das Material zum Besitz und der Mensch sein Eigentümer.

Das biblische Menschenbild ist weit davon entfernt, den Körper wie einen Gegenstand zu betrachten oder Körper, Psyche, Geist und Seele zu trennen. Biblisch ist das Menschenbild ein anderes, unter anderem: „Der Leib des Menschen ist ein Tempel des Heiligen Geistes“ (2. Korinther 6). Der Tempel, der Leib, ist ein Ort, in dem in ganz eigener Weise Gottes Geist präsent ist. Aus der Geistesgegenwart in der Leiblichkeit resultiert das, was in unserer Verfassung die Unantastbarkeit der Würde des Menschen heißt. Heilig, unantastbar, nicht zu verzwecken.

Wenn ich diesen Gedanken auf das Menschenbild beziehe, dann heißt das: Ich, Mensch, bin Körper, bin Psyche, bin Geist, bin Seele. Und in alledem bin ich ganz. Ich bin ganz, nicht voneinander zu trennen. Ich, Mensch, bin sakraler Raum, unantastbar, „Gotteshaus“, Tempel.

Das entscheidende Kriterium für das, was zu tun oder zu lassen ist, heißt: in liebender Beziehung leben. Und Gott sprach: Es werde. Das Wort schuf, ging ein in seine Schöpfung und ward Fleisch. Dann gilt also: Was ich meinem Körper tue, das tue ich dem Körper des menschgewordenen Gottes? Was ich mit meinem Körper mache, das mache ich in Beziehung zu ihm, ja, mit ihm?

Doch ich höre auch: Was ich dem Geringsten seiner Brüder tue, das tue ich ihm. Denn der Mensch ist ein bedürftiges Wesen. In der hebräischen Bibel bezeichnet „näfäsch“ die Kehle, den Rachen, den Schlund des Menschen. Dieses Organ symbolisiert in besonderer Weise die Bedürftigkeit, das Angewiesensein des Menschen, seine Kreatürlichkeit und beschreibt zugleich den Sitz der elementaren Lebensbedürfnisse.

Nächste Seite: Nächsten- und Selbstliebe stehen auf einer Stufe

„Näfäsch“ hat zugleich die Bedeutung von Verlangen, Begehren, Sehnen. Der Mensch ist auf etwas aus, bedürftig, gierig, abhängig von Luft und Nahrung und im übertragenden Sinne von Ansehen und Liebe. Der Mensch ist darauf angewiesen, sie von außen zu bekommen, sie zu empfangen – als Geschenk. „Näfäsch“ gilt auch als Sitz und Ausdruck von Emotionen und Mitgefühl und meint im Grunde das Leben selbst. Undenkbar, dass der Mensch „näfäsch“, Seele, Körper und Bewusstsein hat. Unteilbar ist der Mensch durch und durch „näfäsch“. Ich bin durch und durch „näfäsch“, bin Seele, bin Körper, bin Bewusstsein, bin Gefühl (Psyche).

Im Verhältnis zu Gott weiß ich um meine Bedürftigkeit, Abhängigkeit und Verletzlichkeit, nicht nur um meine, auch um die der anderen. Auch sie sind Mensch – „mir gleich“ (Buber). Dann sind wir bei der Nächstenliebe. „Du sollst lieben deinen Nächsten wie dich selbst“ (3. Mose 19,18; Matthäus 22,39). Nächsten- und Selbstliebe stehen auf einer Stufe. Es ist nicht wichtig, ob die Liebe zu sich selbst das Erste ist oder die zu dem Anderen. Es geht um liebende, sorgende Beziehung, darum, den anderen im Blick zu haben, denn er ist Mensch wie ich. Doch wer erweist sich als mein Nächster?

Frau Weiland wird auf die Intensivstation zu ihrer hirntoten Tochter (achtundzwanzig Jahre) gerufen. Sie begreift nicht, dass ihre Tochter tot ist. Psychisch befindet sie sich im Schock. Auf die Information des Arztes hin, dass die Tochter einen ausgefüllten Organspendeausweis mit sich führte, lehnt die Mutter spontan eine Organspende ab. Auch wenn die beiden anderen Töchter nichts von der Spendenbereitschaft ihrer Schwester wussten, überreden sie die Mutter. Es sei doch der Wunsch der Tochter gewesen, sagen sie: „Wenn einer deiner Enkel was bräuchte, würdest du dann nicht auch …?“

Die Mutter willigt ein. Am Bett der Tochter gestalte ich eine kleine Abschiedsfeier mit Aussegnung. Die Mutter will ihre Tochter unbedingt nach der Organentnahme sehen. Das ist in Absprache mit der Pathologie am nächsten Tag möglich. Wir nehmen uns viel Zeit. Die Mutter wirkt gefasst. Sie schaut sich den Körper ihrer Tochter genau an, streicht über die Narben, sagt kein Wort. Die Bestattung findet vier Wochen später statt. Auch hier wirkt die Mutter gefasst, fast versteinert.

Sechs Wochen danach besuche ich Frau Weiland. Auch jetzt versucht sie die Fassung zu bewahren. Sie erzählt von schrecklichen Träumen und deutet sie als Botschaften ihrer Tochter. Immer wieder die gleichen Bilder, die gleichen Bitten der Tochter, und die Mutter versagt – im Traum – jedes Mal. Ihre Familie versucht das Thema zu meiden. Eine Selbsthilfegruppe verstärkt ihre schuldbeladenen Fantasien. Sie sucht ein Medium auf, wird aber nur beschwichtigt.

Nächste Seite: „Was ist übriggeblieben? Was haben wir beerdigt?”

Nach zwei Jahren will sie ihre eigene Bestattung mit mir besprechen. Sie will für sich regeln, was zu regeln ist. In meinem Beisein öffnet sie den braunen Umschlag, den sie als Hinterbliebene nach der Organspende zugeschickt bekommen hatte. Voller Entsetzen liest sie, wie viele Organe der Tochter entnommen wurden. „Was ist von ihr übrig geblieben? Was haben wir beerdigt?“

Frau Weiland hat bisher von keinem der Empfänger etwas gehört. Das nährt ihr Unbehagen. Über den Transplantationskoordinator ist es möglich, Briefe in anonymisierter Weise auszutauschen. „Sind die Empfänger einfach nur undankbar? Waren die Spenden etwa umsonst? Hätte ich mich als Mutter nicht doch über das Selbstbestimmungsrecht der Tochter hinwegsetzen sollen?“ Im Nachhinein durchkämpft Frau Weiland schwere Konflikte. Was sie zuerst tröstete – ihre Tochter wollte es so und wenigstens ein anderer, schwer leidender Mensch kann durch die gespendeten Organe weiterleben, trägt nicht.

Organspende – Ja oder Nein, ist eine verantwortliche Entscheidung im Umgang mit meinem eigenen Leben. Doch ist es – um der Zurückbleibenden willen – wichtig, mit ihnen die Entscheidung zu besprechen.

Spende meint: Ich entscheide mich beizeiten im Falle meines Hirntodes für das Überleben mindestens eines Menschen. Ich gebe von mir einem anderen und rette damit Menschenleben. Diese Kombination wird als moralischer Druck gehört. An potenzielle Spender wird appelliert: Retten Sie Menschenleben! Da liegt die Assoziation nahe, dass das Leben der Empfänger vor allem von der Spendebereitschaft abhängt. Besonders wenn der Ethikrat schreibt: „Dem ethischen Gebot, auf der organisatorischen und der rechtlichen Ebene Möglichkeiten des Helfens und Heilens zu nutzen, entspricht auf der individuellen Ebene die Beistandspflicht, wie sie sich aus dem elementaren Gebot der Nächstenliebe oder der Mitmenschlichkeit ergibt. Die Bereitschaft zur postmortalen Spende ist in diesem Sinne als praktische Bewährung jener Solidarität anzusehen, die einem von schwerer Krankheit oder dem Tod bedrohten Mitmenschen geschuldet ist.“

Organspende – Ja oder Nein, berührt im Kern unser jüdisch-christliches Menschenbild. Auch das von der Vorordnung der Menschenwürde vor der Selbstbestimmung, wie sie das Grundgesetz formuliert. Bei aller Hochachtung vor der Hochleistungsmedizin darf die Logik des Nützens nicht die Logik des Dienens übertönen. Der Mensch ist theologisch durch das Gütesiegel der Gottesebenbildlichkeit ausgezeichnet. Sie gibt ihm den Auftrag, das Schwache zu schützen und zu bewahren, ohne jeden persönlichen Nutzen. Wer jeweils das Schwache ist, darüber ist zu reden. Auch darüber, was die Definition des Hirntodes bedeutet. Wer oder was ist denn nun der hirntote Mensch? Ist er Objekt, Material, das reduziert wird auf seine messbaren Hirnaktivitäten, Gehirn und Restkörper? Oder ist er Subjekt, als das ihn sein Angehöriger sieht, der Mensch, mit dem ihn eine ganze Geschichte verbindet?

Die, die mit Hirntoten zu tun hatten, beschreiben etwas anderes als die juristische Definition des Hirntodes. Sie erleben den hirntoten Mensch als sterbend, sehen ihn als Geschöpf, als Subjekt, wollen ihn schützen, möglicherweise vor einem Übergriff. Gerade auch, weil uns die Palliativ- und Hospizbewegung endlich die Augen dafür geöffnet hat, dass Sterben ein Prozess, kein Zeitpunkt ist – auch wenn die Beatmung abgestellt wird.

Auch das ist zu bedenken. Darüber ist zu sprechen, und nicht voreilig eine Nächstenliebe zu propagieren, die einseitig einem bestimmten Bedarf zum Munde redet. Auch wenn es gut gemeint sein sollte, weil Christen sich um ihre „leibliche Auferstehung“ sorgen.

Ingrid Schröter (geb. 1958) ist Seelsorgerin im Vivantes Klinikum Berlin-Neukölln. Zuvor war sie zehn Jahre als Krankenschwester tätig. Außerdem hat sie eine Ausbildung in Logotherapie. Sie hat zwei Kinder.

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