- „Ich bereue nichts“
Hinrichtung, Todesspritze oder Herzinfarkt? In seinen letzten 24 Stunden würde Thilo Sarrazin jedenfalls ins Rheinland fahren und noch einmal auf den Ölberg steigen
Sitze ich in einer Gefängniszelle?
Dann erwartet mich morgen früh meine Hinrichtung, und ich könnte meine Henkersmahlzeit bestimmen. Oder liege ich auf dem Krankenbett? Dann fahre ich vielleicht nach Zürich, um mir dort die Todesspritze setzen zu lassen. (Hier stellt sich wohl die Frage, ob man seine Umwelt über seinen Zustand in Kenntnis setzt. Besser ist, man tut es nicht. Denn sobald klar ist, dass man mit einem Bein im Boot des Fährmanns zum Schattenreich, zum Hades steht, gefährdet das die unbefangene Kommunikation.)
Vielleicht bin ich auch kerngesund, und irgendwie hat mir der liebe Gott verraten, dass mich morgen um neun Uhr ein Herzinfarkt heimsucht. Dann würde ich versuchen, mit meiner Frau auf unser gemeinsames Leben zurückzublicken, meine beiden Söhne noch einmal zu sehen, meine Eltern und auch meine Geschwister. Ich würde ins Rheinland fahren und durch Bonn spazieren, würde noch einmal im Siebengebirge auf den Ölberg steigen. Da blickt man ganz wunderbar ins Rheintal. In einem guten Weinlokal trinke ich noch einen vernünftigen Riesling. Und ich würde ein Buch zur Hand nehmen. Jane Austen. Vielleicht „Emma“ oder „Stolz und Vorurteil“.
Wie mag das wohl sein? Man verlässt abends gegen halb eins eine gemischte Party und denkt sich: Da waren ein paar Langweiler dabei, aber gut, dass ich um halb zwölf noch einmal dem und dem begegnet bin. Das war doch ein vernünftiges Gespräch! So ist auch der Rückblick auf das Leben. Von meiner Natur bin ich kein übermäßig geselliger Mensch. Das letzte Mal, dass ich in einer Disco war, war in München, 1968 oder 1969.
In einem bewegten Berufsleben trifft man viele interessante Menschen. Das werden nur selten Freunde, aber man trifft sie, weil sie etwas von einem wollen oder weil man etwas von ihnen will. Man erhält dadurch eine andere Lebensperspektive, als wenn man sein ganzes Leben lang Finanzabteilungsleiter ist und nur die Bilanzen macht.
Ich empfinde mich als privilegiert. Das ist die Art, wie man das Leben treiben muss: sich etwas vornehmen und dann stellt sich das Unerwartete ein. Und das Unerwartete ist stets das eigentliche Leben! Darum ist ja Urlaub so elementar langweilig, weil man bereits vorher weiß, was passiert. Schrecklich! In meiner Jugend habe ich meistens ein Zelt eingepackt und bin einfach drauflos. Ich habe mich an die Autobahn gestellt und hielt den Daumen in die Luft. In fünf Stunden trampte ich von Bonn nach Freiburg. Nach Bremen waren es nur vier ...
Ich bereue nichts, was ich getan habe. Aber ich bereue einiges, was ich nicht getan habe. Ich spreche sicherlich ein adäquates Englisch, mein Französisch ist jedoch rudimentär. Ich kann auch nur ein paar Brocken Italienisch. Heute würde ich diese Sprachen fließend beherrschen wollen, sodass ich die Literatur in der Originalfassung lesen kann. Das habe ich in Französisch nur einmal geschafft, mit Camus und dem „Fremden“. Sehr bedauerlich.
Es heißt immer, lebe jeden Tag so, als ob es der letzte wäre. Carpe diem. Ich sage umgekehrt: Lebe jeden Tag so, als ob es immer weiter geht. Aber lebe ihn auch so, dass du ihn nicht bereuen musst, wenn du abends zurückblickst. Die Gefahr besteht.
Aufgezeichnet von Sarah Maria Deckert
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