- Die neue politische Obdachlosigkeit
Kolumne Grauzone: Die Stimmung in Deutschland scheint vor allem eines zu sein: ratlos. „Wen soll man wählen?“ fragen sich viele – das Vertrauen gegenüber etablierten Parteien ist verloren gegangen. Ausgerechnet das Bürgertum in Deutschland wird politisch zunehmend heimatlos
Es ist erst ein paar Tage her. Da saß ich, wie man das mitunter so macht als Schreiberling, mit meinem Notebook in einem Café, um dem familiären Trubel daheim zu entfliehen. In der Öffentlichkeit zu arbeiten, das erweckt mitunter Neugier. So auch an diesem Tag, als mich ein freundlicher Herr ansprach und fragte, was ich denn so mache.
Die ehrliche Auskunft darüber, wie ich mein Geld verdiene, provoziert in der Regel zwei Reaktionen: freundliches Desinteresse (angenehm) oder ein dringendes Mitteilungsbedürfnis (mitunter überaus spannend). Besagter Herr nun gehörte zur Fraktion der Mitteilungsfreudigen. Umgehend hob er zu einem längeren Monolog an über die Flüchtlingspolitik, über die Griechenlandhilfe, die EU, über den Niedergang der SPD, über die CDU im Allgemeinen und Kanzlerin Merkel im Besonderen. Alles, aber auch alles erschien ihm verhängnisvoll. Die Flüchtlingspolitik: nicht zu verstehen und fatal. Die große Koalition: eine Katastrophe. Die SPD: zu Recht bestraft. Die CDU und ihre Chefin: eine Zumutung.
Einfach nur ratlos
Und dann erzählte er von engen Freunden, die plötzlich beabsichtigten, AfD zu wählen, und von den vielen Bekannten in seinem Umfeld, die so ähnlich dächten. Er könne das alles nicht verstehen, ihn mache das einfach nur ratlos.
Schließlich stockte er für einen Moment, doch dann brach es aus ihm heraus: „Aber wen soll man denn wählen?“ SPD und CDU seien doch für den ganzen Wahnsinn verantwortlich. Die Grünen könne man nicht ernst nehmen. FDP und die Linke – außerhalb jeder Diskussion. Und während sein Blick irgendeinen Punkt auf der anderen Straßenseite fixierte, wiederholte er seine Frage: „Wen soll man denn noch wählen?“
Wen soll man wählen?
Ich weiß nicht, wie repräsentativ jener Herr für die Stimmung in Deutschland ist. Ich fürchte jedoch: Seine Ratlosigkeit ist überaus repräsentativ.
Das Bürgertum in Deutschland, die nach wie vor von fast allen Parteien so eifrig hofierte Mitte, wird politisch zunehmend heimatlos. Verunsicherung greift um sich. Menschen, die noch vor wenigen Jahren, wenn vielleicht zögerlich und ohne Begeisterung, irgendwo ihr Wahlkreuzchen gemacht haben, sind frustriert. Wen sollen sie noch wählen?
Natürlich gibt es viele einschlägige Erklärungen für dieses Phänomen: Die Pluralisierung der Gesellschaft, die daraus resultierende verlorene Bindungskraft politischer Parteien, die Individualisierung, die soziale und räumliche Mobilität, die Medien.
Es hat ein Stimmungswandel stattgefunden
All das stimmt ja auch. Aber es reicht nicht als Erklärung. Denn in den letzten Monaten hat ein Stimmungswandel stattgefunden, der nicht allein mit dem sozialen Wandel begründet werden kann. Es ist Vertrauen verloren gegangen. Psychologisch könnte man auch von dem Verlust eines Urvertrauens in die politischen Parteien und ihre Akteure sprechen. Und dieser Verlust an Urvertrauen geht weit über die übliche Politikschelte hinaus.
Nun könnte man argumentieren: Ist doch kein Wunder. Weder hinsichtlich der EU noch bezüglich der Einwandererpolitik und des Themas „Islam“ vermittelt die Politik der Bevölkerung das Gefühl, die Lage im Griff zu haben. Schlimmer noch: Viele Signale, die in der Bevölkerung zu einer gewissen Beruhigung beitragen könnten, werden ausdrücklich abgelehnt oder sogar diffamiert.
In diesem Fall aber müssten die Wahlergebnisse der AfD ganz anders aussehen. Denn man kommt nicht umhin: Die Frustration über die Politik ist ungleich höher als die Zustimmung für Frauke Petrys Partei. Was also ist los?
Das Extremismuspotenzial ist relativ konstant
Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist eine Studie des Allensbacher Instituts, die Anfang der Woche in der FAZ veröffentlicht wurde. Darin finden sich eine Reihe interessanter Zahlen, etwa über das Demokratieverständnis der Deutschen. Besonders spannend aber ist ein Detail. Die Überzeugung, dass unsere Gesellschaft unaufhaltsam auf eine große Krise zusteuert und diese nur mit einem radikalen Systemwechsel abzuwenden ist, so weiß Allensbach, vertritt etwa nur ein Drittel der Bevölkerung – seit Jahrzehnten.
Das ist zunächst positiv: Das Extremismuspotenzial ist relativ konstant und hat sich in der aktuellen Krise kaum verändert. Andererseits bedeutet das jedoch nicht, dass die Menschen dem aktuellen System und seinen Akteuren eine Lösung unserer Probleme zutrauen.
Resignation und politische Melancholie
Und damit sind wir bei der eigentlichen Ursache für die politische Obdachlosigkeit, die sich unter den Wählern breit macht: Resignation. Die Menschen sehen Deutschland in und vor gewaltigen Krisen. Doch den etablierten Parteien trauen sie eine Lösung nicht mehr zu.
Zugleich sind die Menschen realistisch genug, um festzustellen, dass radikale Lösungen weder möglich noch wünschenswert sind. Man hat den Eindruck, von den Regierenden in eine Sackgasse gelotst worden zu sein. Das Ergebnis ist Hilflosigkeit und ein Gefühl von politischer Melancholie. Die allerdings ist auch kein guter Ratgeber für die Zukunft.
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