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Thilo Sarrazin warnt vor Utopien

Thilo Sarrazins „Wunschdenken“ - Früher war mehr Alarm

In seinem neuen Werk zeigt sich Thilo Sarrazin von bekannter Seite: Die Einwanderung müsse begrenzt, die kulturelle Identität der Deutschen gewahrt bleiben. Der SPD prophezeit er düstere Zeiten, die Kanzlerin kritisiert er. All das taugt nicht zu Skandal oder Aufschrei, die Berliner Republik hat den einstigen Tabubrecher eingemeindet. Die Buchvorstellung bewies es

Alexander Kissler

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Polizei vor der Tür, Leibwächter im Saal und ein um größtmögliches Inkognito bemühtes Hinweisschild mit der neutralen Aufschrift „Buchvorstellung“: Wenn Thilo Sarrazin ein neues Werk präsentiert, ist Alarm. Der vom Magazin Focus gerade zum „Minenhund“ gesellschaftlicher Fehlentwicklungen geadelte Sachbuchautor hat seit „Deutschland schafft sich ab“ einen Ruf wie Donnerhall. Proteste und Verkaufsrekorde pflastern seinen Weg. Und doch gilt für den Sarrazin des Jahres 2016, frei nach Loriot: Früher war mehr Alarm.

Das schlichte „Tagungszentrum Jerusalemkirche“ liegt in Berlin-Kreuzberg zwischen Jüdischem Museum und Orientalischem Imbiss (halal) und sah schon düsterere Tage; heiterere gewiss auch. Die profanierte protestantische Kirche war 1968 neu erbaut worden, wie man eben damals so baute, aus Beton, roten Steinen, Glas. Schmaler Turm, breites Becken. Insofern ist der Verlust ihrer Ursprungsfunktion symptomatisch für jenen Argwohn, den Thilo Sarrazin sich gerne bestätigen lässt: dass der „utopische Überschuss“ der Achtundsechziger nichts Dauerhaftes zu schaffen vermag, nicht einmal Kirchenbauten.

Der „utopische Überschuss“ war ein Schlüsselbegriff bei der Vorstellung von „Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – Warum Politik so häufig scheitert“. Der zweite Zentralbegriff hieß „Folgeschäden“, beide bedingen einander. Sarrazin zufolge befindet sich die Politik – besonders in Deutschland – im Würgegriff der Utopisten. Und Utopien hätten „fürchterliche Folgen“. Positive Utopien, Vorstellungen vom richtigen Los der Menschheit, soziale Vollendungsszenarien mit transzendenter Tiefenspur kommen bei Sarrazin nicht vor. Im Buch heißt es: „Ich spreche von einer Utopie, wenn in einem Gesellschaftsmodell ein bestimmtes Verhalten der Menschen erzwungen werden soll, das einem vorgegebenen Ordnungsmodell folgt. (…) Utopisches Denken hat (…) in der Politik des 20. und 21. Jahrhunderts katastrophale Spuren hinterlassen“ (Seite 74). In der islamischen Welt erblickt er „neue Utopien vom irdischen Gottesstaat“ (Seite 78).

Einwanderer machten „Deutschland nicht reicher, sondern ärmer“


Sarrazin wünscht sich statt politischer Utopien vernünftige Leitbilder und eine Politik der kleinen Schritte – der Kaufmann als Kanzler, gewissermaßen. Was aber macht die gegenwärtige Kanzlerin? Sie begeht die „größte politische Torheit“ eines deutschen Politikers seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, indem sie durch die Grenzöffnung von September 2015 eine ungesteuerte Zuwanderung in Gang setzt, und bemäntelt dieses Versagen mit moralischen Pflichten. So gerate die „offene Gesellschaft“, wie Sarrazin sie versteht, in Gefahr, jene aus seiner Sicht ideale Gesellschaft, in der die Menschen sich „möglichst wenig behindern, wenn sie ihre individuellen Ziele verfolgen“. Mit den Einwanderern kamen nämlich, „wenn sie bleiben, Menschen, die Deutschland nicht reicher machen, sondern ärmer“. So sagte er es tags zuvor im Radio. Im Buch steht geschrieben: „Die ethnisch und kulturell fremde Einwanderung darf ein gewisses Maß nicht überschreiten, so dass eine Entwicklung mit entsprechender Anpassung und Absorption möglich ist. Nur so ist unsere kulturelle Identität auf Dauer zu wahren“ (Seite 379).

Am gefährlichsten, fuhr Sarrazin in der leergeräumten Jerusalemkirche vor rund 70 Journalisten fort, sei es, „wenn der Politiker sich aus ideologischen Gründen nicht für die Nebenfolgen seiner Politik interessiert“, für die „Folgeschäden“. Frau Merkel soll sich gemeint wissen. Deren Abstürze im Ansehen wie auch ihre schwindenden Handlungsoptionen namentlich im Verhältnis zur Türkei erfüllen den ehemaligen Bundesbanker (ehemalig, da Merkel auf Ablösung drang) mit einer Prise Genugtuung. Er sieht „gewisse geistige Parallelen“ zwischen dem Umgang Merkels damals mit ihm und dem Umgang Merkels mit ihren Kritikern heute, und entdeckt in Merkels großen Problemen „einen gewissen historischen Ausgleich für die Probleme, die ich damals hatte“. Das ließe sich übersetzen in ein schlichtes: Geschieht ihr ganz recht!

Wie lautet jene Utopie, vor der Sarrazin in der Flüchtlingskrise warnen muss? Allen Menschen dieser Erde helfen zu können. Und was sei stattdessen zu tun? Die Einwanderung müsse begrenzt und gesteuert werden, „Flüchtlinge, Asylbewerber und illegale Einwanderer, die sich zuletzt in einem sicheren Herkunftsstaat aufgehalten haben, müssen wir an der Einreise hindern“ (Seite 368). Inwieweit aber der utopiehaltige Verzicht auf ein solches Grenzregiment „ein bestimmtes Verhalten der Menschen“ im Landesinnern, der „ethnischen Deutschen“ (Seite 405), erzwingt, das bleibt im Buch, das blieb nun in Berlin offen.

Normalisierung der Debattenlage


Offen blieb nicht, was der Mainzer Historiker Andreas Rödder in seiner klugen und tatsächlich „kritischen Würdigung“ bemängelte. Sarrazin argumentiere zu knapp, wenn er Kultur und Genetik derart eng koppele, dass er sich auf einen „genetischen Determinismus“ zubewege, und verlasse sich dabei zu stark auf ausgewählte Statistiken. Die „große Stärke“ des Buches sei die Entlarvung des hohen Maßes, in dem Politik auf „Selbst- und Fremdtäuschung“ beruhe. Rödder, gewesenes Mitglied im Schattenkabinett der rheinland-pfälzischen Oppositionsführerin Julia Klöckner, dürfte da nicht nur theoretisch gesprochen haben.

Dennoch war früher mehr Alarm. Man hat sich in der Berliner Republik an Sarrazin gewöhnt. Er gehört dazu, wenn er zuverlässig wiederkehrend im Gestus des Tabubrechers die medial-politische Kaste schilt, der er selbst angehörte. Und die Zeitläufte –das muss man konzedieren – haben ihm in manchem Alarmismus Recht gegeben. Die Folgekosten einer ungeplanten, ungesteuerten, unkontrollierten Zuwanderung werden noch Generationen belasten, beschweren, bedrängen. Und dass bei den Verteilungskämpfen allseitig auch um „kulturelle Identität“ gerungen wird, ist uns keinen Aufschrei mehr wert. So ist neu am neuen Sarrazin die Lässigkeit, mit der er aufgenommen wird. Nennen wir es eine Normalisierung der Debattenlage.

Ach ja, ein Zuckerl für seine Noch-immer-Partei hielt Sarrazin auch parat: Wenn die SPD weiterhin die Auseinandersetzung mit jenen Fragen verweigere, die etwa der FPÖ und der AfD die Wähler in Scharen zutreiben – dann könnte für die SPD ein Wahlergebnis von 10 bis 15 Prozent „von der Ausnahme zur Regel werden“. Wenn das Ralf Stegner hört.

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