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Malbuch statt Mossul - Die Grenzen des Eskapismus

Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Unsere Kolumnistin wollte eigentlich über das steigende Eskapismusbedürfnis in einer von Horrormeldungen übersättigten Welt schreiben. Bis die Realität sie einholte

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Ich hatte mir diese Woche Gedanken gemacht über Müdigkeit. Gedankenmüdigkeit, Nachrichtenmüdigkeit, Kolumnenmüdigkeit. Über die verschiedensten Arten des Eskapismus, die unsere Gesellschaft erfindet, um von der grauslichen Realität nicht jeden Tag überrollt zu werden. Die Welt da draußen ist uns so nah gekommen. Die Probleme, für die es keine Lösungen gibt, scheinen überhand zu nehmen. Kein Abend, der nicht mit Hiobsbotschaften aus der Tagesschau ausklingt. Mit Terror und Tod.

Wir Bürger einer überfütterten Informationsgesellschaft kennen den Unterschied zwischen Schiiten und Sunniten, wissen von der Wut zwischen Iranern und Saudis und wo Aleppo oder Mossul liegen. Hilflos registrieren wir Klimawandel und Dürreperioden, wie die aktuelle in Äthiopien, und können uns so schon heute mental auf Millionen Hungertote vorbereiten. Manchmal ist es zu viel. Zu viele Menschen, die uns aus den Ruinen zerbombter Häuser anblicken. Zu viele, die es gar nicht in die Berichterstattung schaffen, weil sie für immer unter Trümmern liegen.

Rekordabsatz von Malbüchern
 

Wer soll da ruhig schlafen? Wer nimmt es den Menschen übel, dass sie Landlust lesen, den Bachelor oder das Dschungelcamp anschauen? 2016 soll „das entscheidende Jahr“ für die Entwicklung der Virtual Reality werden, schreibt die Welt. Die Branche frohlockt ob der vielen realitätsmüden potentiellen Kunden. Der Telegraph berichtet diese Woche von einem Phänomen, das die Print-Verlagsbranche verwundert: In den vergangenen Jahren seien die Absatzzahlen von Malbüchern in die Höhe geschossen. Jedes Jahr um 300 Prozent. Und es stellt sich heraus, dass es nicht die Kinder sind, die plötzlich einen erhöhten Bedarf an Ausmalaktivitäten erkennen lassen − sondern die Erwachsenen. Eskapismus in Reinform. Hier mache, so stellt die FAZ fest, die Ereignislosigkeit das Ereignis aus.

Ich male nicht, ich spiele nicht, ich schaue Tatort. Schablonenhafter Kriminalfall, Leiche, Verdächtiger, Täter, Aufklärung. Gut ist. Oder ich gehe hinaus, steige auf unseren Hügel, betrachte Eisblumen auf Eichenpfosten, ein Huhn, das den Anschluss an seine Herde verloren hat und die Reste des Gänsefutters aufpickt. So eskapierte ich gestern vor mich hin, als plötzlich ein Schrei über den Hof gellte.

Wenn der postmoderne Eskapismusquatsch nicht mehr greift
 

Die Kreissäge, die eben noch aus der Scheune über den verschneiten Hof hinübergeschallt hatte, war verstummt. Und aus dem großen Holztor kam der Bauer, die rechte Hand fest mit der linken umklammert, kreidebleich im Gesicht. Zunächst rannte er kopflos in Richtung Hühnerstall, dann kam er wieder zurück. „Einen Druckverband!“, krächzte er und ich griff wahllos in den Apothekenschrank, betrachtete Wattebausch und Bandage in meiner zitternden Hand und entschied mich dann für die Autoschlüssel. „Ins Krankenhaus?“ Ins Krankenhaus.

Einen Tag später ist der Finger noch dran. Er hat Glück gehabt, sagte die Ärztin. Wir haben Glück gehabt. Was ist ein Bauer ohne rechten Zeigefinger? Ich könnte hinzufügen: Was ist ein Vater von drei Kindern ohne erhobenen rechten Zeigefinger?

Wir scherzen wieder. Der erste Schock ist verdaut, die Hand ist geschient, der Verband sitzt. Aber der gellende Schrei meines Mannes, der hallt noch nach. Und das Gefühl, dass all der postmoderne Eskapismusquatsch nicht mehr greift, wenn es um die eigene Existenz, um den Allernächsten geht. Denn mit einem Mal ist da keine Müdigkeit mehr. Da ist Erleichterung. Da ist Leben. Und Glück. Und Liebe.

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