- Warum die Generation Instagram alles fotografiert
Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Jeder Moment wird mittlerweile dokumentiert. Wer keine Bilder gemacht hat, hat auch nichts erlebt. Getrieben wird der Fotozwang von der Angst vor dem Vergessen. Dabei sollten wir das Vergessen wertschätzen
Was macht es mit uns, dass wir jeden Moment in Bildern festhalten? Dass die urbane Parole in den sozialen Netzwerken „Pics – or it didn´t happen“ unser zwanghaftes Verhältnis zur eigenen Vergangenheit charakterisiert, dass Blumenarrangements, nackte Knie am Strand oder Selfies vor Bergpanoramen gepostet werden, als ginge es ums Überleben? Der Guardian bemängelt, dass sich die Generation Instagram durch endlose Feeds der immer gleichen Themen und Variationen derselben Objekte scrolle. Ein persönlicher Höhepunkt war im vergangenen Sommer im Hamburger Stadtpark der junge Mann, der während des gesamten Konzerts seinen Selfiestab schwenkte, ab und zu die Band, meist aber sich selbst beim Kopfnicken aufnahm.
Wer keine Bilder des Erlebten nachweisen kann, für den ist es also nicht geschehen? Was trauen wir unserem Gedächtnis eigentlich noch zu? Vergangenes Weihnachten habe ich es mir erspart, den Kindern die Linse vor die vor Aufregung geweiteten Augen zu halten. Den hell erleuchteten Weihnachtsbaum aus dem Jahr 2015 wird es nur in meinem Kopf geben, hatte ich beschlossen – und es schon am Tag danach bereut. Die Angst, dass Erinnerungen aus dem Gedächtnis verschwinden, kroch in mir hoch, sobald der Weihnachtsabend verstrichen war.
Ein schlechtes Gedächtnis kann hilfreich sein
Woher diese Angst vor dem Vergessen? Der niederländische Psychologiehistoriker Douwe Draaisma hat in seinem „Buch des Vergessens“ einen Ansatz dazu geliefert. Die Menschen wünschten sich ein Gedächtnis, das bewahre und dazulerne. Sie seien nicht willens zu akzeptieren, dass sein wichtigster Job ein ganz anderer ist. Das Gedächtnis ist vor allem dazu da, Erinnerungen zu löschen. Die Psychoanalyse, Sigmund Freuds These vom Verdrängen, halten neben Draaisma auch andere Vergessenstheoretiker für problematisch. Das Unterdrücken von Erinnerung bereite, anders als landläufig angenommen, nicht unbedingt Probleme. Untersuchungen legen nahe, dass Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen eher schlechter in der Lage sind, Dinge zu vergessen als jene, die nach traumatischen Erfahrungen nicht krank werden. Ein schlechtes Gedächtnis ist also mitnichten schlecht, sondern manchmal hilfreich.
Wir betrachten das Vergessen fälschlicherweise als Niederlage, sollten es aber wertschätzen. Ohne das Loslassen von Erinnerungen könnten wir weder lernen, noch handeln und wohl auch nicht lieben. Niklas Luhmann stellte in der „Gesellschaft der Gesellschaft“ fest, dass die Hauptfunktion des Gedächtnisses im Vergessen liege, „im Verhindern der Selbstblockierung des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen“. Erst durch das Dahinschwinden unschöner Situationen aus den Köpfen werden langjährige Beziehungen haltbar. Vergeben und Vergessen gehören zusammen. Nur so kann eine Gesellschaft bestehen, die sich andernfalls zu vieler Erinnerungen bedienen und durch Rachegelüste selbst zerstören würde.
Die meisten Fotos sind gestellt und deshalb unehrlich
Unser Festhalten in digitalen Ordnern ist zudem noch ein unehrliches Unterfangen, weil wir meist nur die schönen Dinge aufnehmen. Das Gedächtnis aber – so ist es vor allem bei Kindern – speichert wenige und dann auch noch meist unschöne Momente, um Lerneffekte zu gewährleisten. Da bleibt das Erschrecken, als der Fuß in der Fahrradspeiche klemmt oder sich der kleine Bruder ein Spielautorädchen in die Nase gesteckt hat. Die Erinnerungen an den Clown beim Kindergeburtstag oder der riesengroße Luftballon kommen dann vom Video.
Am Ende resultiert unser Grauen vor dem Vergessen natürlich aus der Furcht vor der Endlichkeit des Lebens. Je mehr Werkzeuge wir an die Hand bekommen, das Leben künstlich zu verlängern, desto mehr werden wir auch nutzen. Ich habe die Bilder wieder herstellen können, all die Gigabytes, die nun darauf warten, geordnet, sortiert und ausgedruckt zu werden. Und plötzlich meldete sich ein ganz kleiner Teil in mir, der sich mit dem Verlust bereits abgefunden hatte – und der war ein bisschen erleichtert gewesen.
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