- Auf dem Grund des Meeres liegen Leichen
Auch in diesem Sommer haben viele Deutsche ihren Urlaub am Mittelmeer verbracht. Es ist die Quelle unserer Zivilisation und Sehnsuchtsort. Heute lässt Europa darin Tausende Flüchtlinge sterben. Können wir allen Ernstes noch Freude an unserem Meer empfinden?
Vor ein paar Tagen meldete die italienische Küstenwache wieder 3000 Menschen in Seenot. Auf vollkommen überfüllten Booten trieben die lybischen Flüchtlinge auf dem Wasser Richtung Europa. Tausende von Flüchtlingen sind bisher auf der gefährlichen Fahrt übers Mittelmeer umgekommen. Und jeden Tag kentern weitere Boote.
Die Auffanglager an der Küste sind vollkommen überfüllt, die ehrenamtlichen Helfer handeln am Rande des Irrsinns. Aus Kontinentaleuropa kommen die üblichen, wohlgefeilten Worte der Betroffenheit. Die pastoralen Bausätze erfassen die Dimension längst nicht mehr, die sich vor unseren Augen in diesem Meer aus Blut und Wunden ereignet.
Vor etwa 150 Jahren halluzinierte Arthur Rimbaud in seinem ausschweifenden Poem „Das trunkene Schiff“ die Zeilen: „Des Meers Gedicht! Jetzt konnt ich mich frei darin ergehen, Grünhimmel trank ich, Sterne, taucht ein in milchigen Strahl und könnt die Wasserleichen zur Tiefe gehen sehen, ein Treibgut, das versonnen und selig war und fahl …“ Oft genug war er im Mittelmeer unterwegs – Marseille, Larnaca, Alexandria, manchmal hoffnungsfroh und heiter, gelegentlich auch verstört und am Ende tödlich verzweifelt. Rimbauds orkanhafte Balladen inspirierten Henry Miller, Klaus Mann, die Doors, Patti Smith, Dylan und die Beatniks.
Die Schlepper tragen nicht die alleinige Schuld
Es ist anzunehmen, dass Thomas de Maizière, ein Fan der Triton-Mission zur Sicherung der Grenzen, wenig von Rimbaud kennt. Für die Millionen armer Teufel, die abgemagert und geprügelt rund um die Küsten des Meeres hin und her flüchten, sind in seinen Augen hauptsächlich die kriminellen Schlepper verantwortlich. Hauptsache es gibt ein Stigma, eine Schuld, ein Opfer, eine Erleichterung des Gewissens. Um gegen diese Banden vorzugehen, musste man offenbar die Rettungsmission Mare Nostrum mit mehr als 150.000 geretteten Menschenleben abschaffen, ein Organismus, der bis 2014 als letzte intakte maritim-moralische Instanz einer in Zynismus ersaufenden EU gelten durfte.
Statt Nächstenliebe und Hilfe beherrschen jetzt apokalyptische Katastrophenszenarien die vollklimatisierten Albtraumetagen in Brüssel – Serien neuer Visagesetze, Abschaffung der Seenotrettung, Auslagerung der Asylprüfung, Bau absurd-konzentrierter Willkommenszeltcamps in Nordafrika, Helikopter, Drohnen, Satelliten und allerlei High-tech-Sensoren zur Erfassung der Fluchtobjekte. Es geht dabei längst auch um Milliardendeals zwischen EADS, den israelischen Rotem Technology Solutions und diversen US-Forschungsinstituten, und es geht um viele neue Anträge auf dicke Subventionen beim EU-Forschungsförderprogramm Horizont 2020.
Egal. Egal? Während die Renaissance der Menschenverachtung stattfindet, liegt es an uns allen, eine Antwort, die keine Lösung sein muss, auf das Drama zu finden. Dazu gehört die simple Frage, ob wir im Sommerurlaub noch halbwegs entspannt auf dem Peloponnes ein Charity-Golfturnier bestreiten dürfen, vor der Kulisse Bonifacios surfen oder einfach nur abtauchen, etwa vor Ustica, wo es das schönste Blau unseres geliebten Meeres gibt. Wollen wir die Saison in der Hölle einfach noch einen Sommer lang ignorieren und im Thalassowahn unserer Unsterblichkeit entgegenkuren?
Sehnsuchtsort der Deutschen
Gerade für die Deutschen ist das Mittelmeer die Seele des Universums, das arkadische Eden, die spirituelle Endstation unserer mannigfaltigen Sehnsüchte. Paulus segelte in müden Barken gegen alle Stürme und Wetten an, über Ephesus, Saloniki nach Korinth, und veranstaltete die mächtigste Mission der Weltgeschichte. Er trug das neue Buch über dasselbe blaue Meer, welches auch Homer und Herodot dazu verhalf, ihre zeitlosen Werke, Gesänge und Kriegsreportagen unter die Menschheit zu bringen. Ohne die Testamente, ohne die Ilias, die Odyssee und all die epidaurischen Spektakel hätten wir bis heute keine Theater, Opern, Museen. Ohne die manchmal grausamen mediterranen Winde stünden kein Goethe, kein Dante und kein Fitzgerald in unseren Bibliotheken. Das Mittelmeer ist die Quelle unserer Zivilisation, unserer Inspiration und unserer Kultur.
Wir größtenteils küstenfernen Germanen sind auf absurde Art verliebt in unsere eigentliche Heimat südlich der Alpenkämme. Niemand schwärmte ent- und verrückter über das antike Italien und Griechenland als die Tübinger Stiftspoeten Hölderlin und Hegel, wobei sie doch keinen blassen Schimmer hatten vom schönsten aller Meere. Was wohl unser Schiller Fritz, der stets eine gewisse Zuneigung zu Tauchern hatte, heute in sein Sechser-iPhone tippen würde am Hafen von Lampedusa, wo die Fischer statt zappelndem Seeteufel die zernagten Torsi syrischer Kinderleichen aus ihren Netzen pflücken?
Wir verwöhnten Schnösel, geboren so zwischen 1950 und 1970, kennen das Mittelmeer nur aus den Zeiten des Friedens und betrachteten es lange als ein von jeder Tragik befreites Ferienidyll. Immer schon stand es für die große Versöhnung und für hedonistischen Pazifismus, mit bunten Kuttern, einsamen Buchten, weißsandigen Stränden. Wie in einem Krippenspiel aus dem Märklin-Katalog bedienen heitere Archetypen das Klischee: Kapitäne, Bootsverleiher, Boutiquendamen, Kneipiers, Hafenmädchen, Leuchtturmwächter, Tauchlehrer, Hotelbesitzer, Gigolos, Casinogänger, braun gebrannte Hetären, damals noch ohne Tattoos.
Verrostete Kutter und Freundschaften
Meiner Generation erschien dieses Meer als ein flirrendes Wunder mit einer eingebauten Garantie für Würde, Ethik, Solidarität und auch Völkerverständigung. Auf den Decks der verrosteten Kutter zwischen Palermo und Cagliari, Genua, Bastia und von Patras nach Ancona wurde uns naiven Nach-Hitler-Jungs durch die Begegnungen mit anderen Menschen die historische NS-Schuld genommen, und eine befreiende Leichtigkeit schuf neue Freundschaften und etwas Sicherheit in der Weltbegehung. Ich tauschte den zerfledderten „Steppenwolf“ gegen ein zerfleddertes „On the road“, meine Gitarre gegen einen Fußball.
Jede Menge Joints, Ouzo und Acid befeuerten Glück, Ekstase, Zauber, Affären und Amouren, und während das blaue Blau um uns herum tanzte, sangen wir mit Spaniern, Israelis, Hawaiianern und allerlei anderen Leichtmatrosen zusammen, etwas textschwach, Lieder wie „Bird on the wire“, „Longer boats“, „Atlantis“, „Salty Dog“, „Under the boardwalk“ oder Dylans grimmiges „When the ship comes in“ – bis irgendwann der letzte Amex-Traveller-Scheck verprasst war. Zu Hause hing eine Europakarte unterm Hochbett, auf der kleine blaue Flaggen alle Orte dokumentierten, an denen einen das heilige Meer umarmt hatte. Mit jedem Jahr wurden es mehr.
Parallel zur subjektiven Euphorie erlebten die meisten Länder des maritimen Südens Mitte der Siebziger eine einzigartige Katharsis. Portugal lieferte eine Nelkenrevolution, in Italien stand die KP kurz vor dem historischen Kompromiss, Ende 1974 kehrten Theodorakis und Mercouri aus dem Exil zurück nach Athen und feierten das Ende der Junta, Spanien bejubelte ein Jahr später Francos Herzinfarkt, in Paris bahnte sich der Triumph von Mitterrands Sozialisten an, Tito zog in Jugoslawien seinen antistalinistischen Kurs durch, die dunkle Welt des Gladio zog sich für einen Moment zurück, und Willy Brandt fehlte zum ganz großen Glück nur ein deutscher Mittelmeerhafen.
Ein „dunkles und vergessliches Reich“
Henry Miller antizipierte diesen ozeanisch-orgiastischen Flow in seinem kolossalen Hellashymnus aus dem Jahre 1939: „Seit ich in eurem Land bin, weiß ich, dass das Licht heilig ist. Griechenland ist für mich ein heiliges Land … Gott hat alles im Voraus bedacht. Wir brauchen keine Probleme zu lösen, es ist alles für uns gelöst worden. Wir müssen nur zerschmelzen, uns auflösen, um in der Lösung zu baden.“
Und wir naiven Kinder des Olymp verschmolzen und badeten in dieser salzbitteren azurblauen Lösung, die Swinburne als „heiliges Meer“ und „verlorenes Paradies“ bezeichnete und Vergil als „dunkles und vergessliches Reich“. Der 30-jährige Dichter Shelley opferte im Juli 1822 während eines humorlosen Orkans vor Viareggio sein Leben beim Versuch, in der göttlichen Tiefe „das große Rätsel zu lösen“. Wir heillosen Spätromantiker sehnten uns nach dem Sprung in die Fluten, nach dem abstrakten Liebesakt, der Metamorphose, umgeben von lavendelblauen Luftblasen und elfenbeinweißen Korallenkathedralen.
Wie für Lord Byron bot uns das Versinken im Mittelmeer die Erlösung von Leere, Langeweile und Lebensekel. Sofern man Latein als Hauptfach hatte, ließ sich auf Ovid zurückgreifen: „Ungünstige Winde nicht, nicht zornige Seen vermögen aufzuhalten den, der unter dem Befehl der Liebe steht.“ War also dieses Meer bis vor ein paar Jahren noch eine so grenzenlose und intime Liebesaffäre, erschien uns verträumten Gymnasiasten die restliche Welt, die Berge, Straßen und Städte bestenfalls als ein Kontinent der gestrandeten Existenzen?
Suiten mit Alptraum-Blick
Jeden Tag erreichen uns neue Horrorzahlen, die die verbeamteten Außendienstler entlang der Grenzen unserer Festung Europa verlesen, 300 Tote, 5000 Tote, Überlebende, Vermisste – es fehlt nur noch das Spiel 77. Europa nimmt Notiz, koordiniert, observiert diesen mediterranen Hygiene-Service wie eine Art aktive Sterbehilfe.
Die schiere Masse der Boatpeople in ihren seeuntauglichen Holzkuttern und Gummiwürsten aus Mali, Niger, Iran, Irak, Somalia, Pakistan, Afghanistan, Sri Lanka, Libyen, Irak, Eritrea, Kongo, Tunesien und Syrien lässt irgendwann kein Mitleid mehr entstehen. Sie haben keinen Moses, der in die Hände klatscht und ihnen eine Brücke ins gelobte Land baut.
Können wir allen Ernstes im Sommer 2015 noch Freude an diesem Meer empfinden? Können wir mit der gewohnten Euphorie auf die Ithakas zusegeln, welche von den regionalen Fischern auf ihren Seekarten mit einem Totenkopf markiert sind? Wollen wir wirklich im Blut baden und uns auf dem leichenbleichen Sandstrand bräunen? Können wir uns in den warmen Dünentälern lieben, wenn wir statt dem Gesang der Sirenen erstickte Schreie hören und gezielte Warnschüsse? Die hübschen Suiten mit Meerblick offenbaren in diesen Tagen nur noch einen einzigen Albtraum.
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