Blumen zum Gedenken an den ehemaligen chinesischen Ministerpräsidenten Li Keqiang / dpa

Nach dem Tod Li Keqiangs - Ökonomisches Vermächtnis

Im Gegensatz zum chinesischen Staatschef Xi Jinping war der ehemalige Ministerpräsident Li Keqiang ein Wirtschaftsliberaler westlicher Prägung. Nach dessen Tod scheint sich Xi nun ausgerechnet am Rat seines einstigen Rivalen zu orientieren.

Autoreninfo

Victoria Laura Herczegh, die fließend Mandarin, Spanisch, Französisch und Englisch spricht, ist Analystin bei Geopolitical Futures und Doktorandin für Internationale Beziehungen und Politikwissenschaft der Corvinus-Universität in Budapest.

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Chinas Führung arbeitet hart daran, die Wirtschaft anzukurbeln und die Probleme zu lösen, die einem Aufschwung im Wege stehen. Ein großes Hindernis sind die Schulden der Provinzen und die schleppende lokale Wirtschaftstätigkeit. Bis vor kurzem hatte die Regierung von Präsident Xi Jinping die Finanzen der lokalen Gebietskörperschaften jedoch weitgehend ignoriert. Dies änderte sich Anfang voriger Woche dramatisch, als Peking die Ausgabe von Staatsanleihen im Wert von umgerechnet 137 Milliarden Dollar zur Unterstützung der lokalen Regierungen ankündigte.

Damit sollte zwar der Druck auf die Zentralregierung verringert werden, doch der plötzliche Tod des ehemaligen Ministerpräsidenten Li Keqiang – der sich während seiner Amtszeit für genau diese Schritte eingesetzt hatte – könnte Peking zu mehr Wirtschaftsreformen zwingen, als es eigentlich beabsichtigt hatte.

Xi überdenkt seinen Ansatz

In China sind die ländlichen Provinzen im Landesinneren seit jeher weniger wohlhabend und stabil – und daher mehr auf finanzielle Unterstützung angewiesen – als die Küstenregionen. Jahrzehntelang hat die chinesische Führung erfolglos versucht, das Wohlstandsgefälle zu verringern. Nicht lange nach seinem Amtsantritt im Jahr 2013 stellte Xi seinen eigenen Zwei-Stufen-Plan zur Bekämpfung der Ungleichheit vor, der mit einem intensiven und langwierigen Vorgehen gegen die großen Technologieunternehmen an der Küste begann, aber nie zur Umverteilungsphase überging.

Stattdessen verwendete Xi die von der Küste abgezogenen Mittel, um den maroden Immobilien- und Finanzsektor zu stützen. In der Zwischenzeit hat sich die Haushaltslage der lokalen Regierungen, insbesondere im Landesinneren, verschlechtert. Jetzt scheint Xi seinen Ansatz zu überdenken und sich auf den Rat des verstorbenen Li zu berufen, sich auf die zurückgebliebenen Gebiete des Landes zu konzentrieren.

Symbol der besseren Jahre

Li war zwar eine beliebte Persönlichkeit, die prestigeträchtige Regierungsposten innehatte, aber in den letzten Jahren haben seine Rivalität mit Xi und seine offene Kritik an Xis Politik seinen Einfluss geschmälert, was schließlich zu seinem Ausscheiden aus der Führungsspitze und seinem Rückzug aus der Politik im März 2023 geführt hat. Das letzte Mal, dass er im Rampenlicht stand, war wenige Wochen vor seinem Ausscheiden als Ministerpräsident, als er seinen letzten Regierungsbericht vorlegte.

Darin forderte er mehr finanzielle Unterstützung für lokale Regierungen, insbesondere für die ärmeren ländlichen Provinzen, und kritisierte Xis Versäumnis, die Erlöse aus dem harten Vorgehen gegen Big Tech umzuverteilen. Seine Ratschläge stießen im Ständigen Ausschuss des Politbüros offenbar auf taube Ohren, doch nach seinem Tod ist Li zu einem gefeierten Symbol für Chinas bessere Jahre geworden – vor allem bei jungen Chinesen, die von ihren wirtschaftlichen Aussichten desillusioniert sind.

Im Gegensatz zu den meisten Persönlichkeiten, die es in den siebenköpfigen Ständigen Ausschuss schaffen, war Li ein Liberaler, dessen Ansichten zur Wirtschaft oft eher mit denen des Westens übereinstimmten. Er erlangte etwa zur gleichen Zeit wie Xi politische Prominenz und war Gerüchten zufolge ein Herausforderer für das Präsidentenamt. Aus unbekannten Gründen kandidierte er nicht für dieses Amt und konzentrierte sich stattdessen auf Dinge, die er im politischen System Chinas für problematisch hielt.

Wachstumsaussichten der Provinzen

Um das Jahr 2007 herum begann Li damit, sich mit den Kommunalverwaltungen zu befassen, da er davon überzeugt war, dass die Finanzlage und die Wachstumsaussichten der Provinzen im Landesinneren nicht so positiv waren, wie ihr Bruttoinlandsprodukt vermuten ließ. Bei persönlichen Besuchen in diesen Provinzen stellte er Probleme mit der Infrastruktur fest, die seiner Meinung nach die Bemühungen um eine Umverteilung des Wohlstands behindern würden. Er schlug Investitionen vor, um die bestehenden Handelsverbindungen zwischen den Provinzen zu verbessern und neue zu schaffen.

Vor allem aber empfahl er eine stärkere finanzielle Unterstützung der lokalen Regierungen, wobei er den kleinen ländlichen Banken besondere Aufmerksamkeit schenkte. Der damalige Präsident Hu Jintao übernahm viele seiner Vorschläge, aber Xi nahm sie nicht so ernst, da er der Meinung war, dass Li die Bedeutung des Eingehens auf die individuellen Bedürfnisse der Provinzen überschätzt. Als Chinas wirtschaftliche Probleme immer größer wurden, stellte Xi die finanzielle Unterstützung für die lokalen Regierungen ganz ein.

In den Reihen der Opposition

Li wurde 2013 Ministerpräsident der Volksrepublik China, im selben Jahr, in dem Xi seine erste Amtszeit als Staatspräsident begann. Die ersten fünf Jahre ihrer Amtszeit verliefen ohne größere Meinungsverschiedenheiten, obwohl Xi und seine Entourage damit begannen, Li dessen häufigen Austausch mit amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern übel zu nehmen – einschließlich privater Gespräche, bei denen er Rat zur Bekämpfung der Ungleichheit der chinesischen Besitzverhältnisse einholte. Diese geheimen Gespräche waren unvereinbar mit Xis Ansatz, der darin bestand, die USA auszuschließen und das Wirtschaftswachstum auf „rein chinesische Weise“ zu verfolgen.

Ihre Beziehung verschlechterte sich während ihrer zweiten Amtszeit, insbesondere als die Corona-Pandemie Ende 2019 und Anfang 2020 ausbrach. Als sich Chinas BIP-Wachstum auf ein Niveau verlangsamte, das es seit Generationen nicht mehr gegeben hatte, musste die Führung entscheiden, welche Sektoren oder Regionen sie unterstützen wollte. Xi entschied sich dafür, gegen die Korruption in den großen Technologieunternehmen vorzugehen und deren Reichtum an die ärmeren Regionen Chinas umzuverteilen, aber seine Pläne wurden durch den schwächelnden Immobiliensektor und das Bankensystem des Landes zunichte gemacht.

Misstrauisch gegenüber Kritik

Trotz der wiederholten Warnungen von Li wurden die lokalen Regierungen ignoriert. Xi sagte, die zentrale Führung konzentriere sich darauf, die Pandemie zu besiegen, und die lokalen Regierungen sollten „hart arbeiten, um sich selbst zu unterstützen“. Allmählich wurde Li damit kritischer gegenüber Xi und seinen Entscheidungen – nicht nur gegenüber seiner Vernachlässigung der lokalen Regierungen, sondern auch gegenüber dem harten Durchgreifen im Technologiebereich und der strengen Null-Covid-Politik – und schloss sich den inoffiziellen Reihen der Opposition im Politbüro an.

Angeführt von Parteifunktionären, die mit Unternehmen an der Küste verbunden sind, traten diese Oppositionsfiguren für eine Umkehrung von Xis hartem Durchgreifen im Technologiebereich und für eine staatliche Unterstützung der wohlhabenderen Regionen Chinas ein, um den Außenhandel anzukurbeln. Li konzentrierte sich auf die ärmeren Regionen, milderte aber seine Forderungen nach deren Unterstützung auf Kosten der Küstengebiete, da er zu der Überzeugung gelangt war, dass ausländische Investitionen und Handel der Schlüssel zur Umkehrung des wirtschaftlichen Abschwungs des Landes sind.

Die Rivalität zwischen Xi und Li verschärfte sich, als ersterer sich auf seine Agenda festlegte und kritischen Stimmen gegenüber immer misstrauischer wurde. Auf dem Parteitag im Oktober 2022 entfernte Xi die prominentesten Gegner aus seinem Kabinett. Li blieb vorübergehend in seinem Amt, aber es kamen Gerüchte auf, er wolle sich ganz aus der Politik zurückziehen. Nachdem Lis Mentor Hu Jintao dabei gefilmt wurde, wie er aus dem Kongress eskortiert wurde, war klar, dass auch Li's Zeit ablief.

Sehnsucht nach früher

Kurz nach Bekanntwerden von Lis plötzlichem Tod am 27. Oktober, überschwemmten Nutzer chinesischer soziale Medien diese mit beliebten Zitate und brachten ihre Sehnsucht nach Chinas „Wundertagen“ zum Ausdruck. Vor allem junge Chinesen fühlen sich angesichts der Rekord-Jugendarbeitslosigkeit hoffnungslos, was ihre Zukunft angeht. Einige seiner Unterstützer verwiesen auf die Bankenkrise in Henan im Juli 2022 als Paradebeispiel für die Folgen von Xis Entscheidung, die ländlichen Provinzen zu ignorieren. Die Situation im Landesinneren hat sich seither durch einen extrem heißen Sommer und den Zusammenbruch mehrerer kleiner Banken noch verschlimmert.

Die Regierung hat schnell reagiert. Am Wochenende zensierte sie lange Beiträge in den sozialen Medien, in denen Li gelobt wurde, und die meisten Universitäten untersagten den Studenten, Veranstaltungen zum Gedenken an seinen Tod abzuhalten. Offenbar betrachtet Xi Vergleiche zwischen ihm und Li als Bedrohung seiner Autorität und befürchtet eine von der Jugend angeführte Revolte. Es gibt sogar einige unbegründete Spekulationen, dass die Regierung bei Lis plötzlichem Tod ihre Hand im Spiel hatte.

Lis Rat wird endlich beherzigt

Wenige Tage vor Lis Tod erhöhte der Nationale Volkskongress die Haushaltsdefizitquote der Kommunalverwaltungen auf 3,8 Prozent und lag damit weit über dem im März festgelegten Ziel von 3 Prozent, das zu diesem Zeitpunkt als rote Linie galt. Dies war genau die Art von Maßnahme, die Li im Laufe der Jahre wiederholt vorgeschlagen hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass Peking nun endlich wieder Big Tech unterstützt, hat es den Anschein, dass Xi seine unerfüllte Strategie der Wohlstandsumverteilung zugunsten des von Li befürworteten freieren Marktansatzes aufgegeben.

Die chinesische Legislative verabschiedete auch einen Gesetzentwurf, der es den lokalen Regierungen erlaubt, einen Teil ihrer Anleihequote für 2024 vorzeitig zu erhöhen, um Investitionen zu fördern und die Binnennachfrage zu steigern – eine weitere Entscheidung, die schon vor Jahren hätte getroffen werden können. Die Tatsache, dass die Wirtschaft im August wieder in Schwung kam, mag der Regierung die Zuversicht gegeben haben, diese Maßnahmen umzusetzen, aber auch nach der ersten Corona-Welle – als Li noch im Amt war und sehr ähnliche Empfehlungen aussprach – stieg das BIP-Wachstum wieder an, ohne. dass etwas unternommen wurde.

Die neuen Unterstützungsmaßnahmen der lokalen Regierungen, die Berichten zufolge auf die einzelnen Provinzen zugeschnitten sein werden, sind wahrscheinlich die größte Wirtschaftsreform Chinas seit Jahren. So oder so scheint es, dass die chinesische Regierung endlich Lis Rat beherzigt. 

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Karl-Heinz Weiß | Fr., 3. November 2023 - 10:23

Die Stärkung der Provinzen setzt die Bejahung von Eigeninitiative voraus; ein solcher Ansatz ist unvereinbar mit Xi‘s Machtanspruch. Mit der abrupten Corona-Kehrtwende hat dieser nach der Korruptionskampagne den letzten Rest von Berechenbarkeit verspielt. Wenn es ihm nicht gelingt, das Problem der Jugendarbeitslosigkeit einzudämmen, sind seine Jahre gezählt. Oder er aktiviert einen äußeren Feind.