- Hamas, Iran, Israel – und wie alles miteinander zusammenhängt
Ohne Kenntnis der langen Vorgeschichte ist der aktuelle Kampf zwischen Israel und der palästinensischen Hamas nicht zu verstehen. Besonders wichtig ist die Rolle des Iran, denn Teheran setzt die arabischen Regionalmächte unter Druck – indem es die Bevölkerungen gegen ihre autokratischen Herrscher ausspielt. Die Rechnung geht offenbar wieder auf.
Der beispiellose Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober hat die arabischen Staaten in eine schwierige Lage gebracht. Länder wie Ägypten, Jordanien und Saudi-Arabien, die sich seit langem um friedliche Beziehungen zu Israel bemühen und die Hamas zutiefst ablehnen, sehen sich gezwungen, Kritik an der extremistischen palästinensischen islamistischen Bewegung zu vermeiden und stattdessen öffentlich gegen Israel Stellung zu beziehen. Auch zwischen den arabischen Ländern und den Vereinigten Staaten hat der Anschlag zu Spannungen geführt. Für den Iran, der seit langem bestrebt ist, den Nahen Osten zu destabilisieren, um seine eigene Macht und seinen eigenen Einfluss zu vergrößern, ist die sich entwickelnde Krise ein großer Gewinn.
Biden muss Besuch absagen
Etwa 500 Palästinenser wurden Berichten zufolge am 17. Oktober bei einer Detonation in einem Krankenhaus im Gazastreifen getötet, die nach Angaben palästinensischer und arabischer Behörden durch eine fehlgeleitete Rakete der militanten palästinensischen Gruppe Islamischer Dschihad ausgelöst worden war. Dennoch haben arabische Staaten die Israelis scharf verurteilt für jenen vermeintlichen Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus, in dem im Krieg zwischen Israel und Hamas verwundete Palästinenser behandelt wurden. Angesichts der zunehmenden anti-amerikanischen und anti-israelischen Proteste in vielen Ländern der Region sagte Jordanien ein Gipfeltreffen ab, das am Mittwoch unter Teilnahme von US-Präsident Joe Biden, dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmoud Abbas sowie dem jordanischen Monarchen Abdullah II. hätte stattfinden sollen. Der Bombeneinschlag im Krankenhaus ereignete sich, als der amerikanische Präsident auf dem Weg nach Israel war, um zu verhindern, dass sich die Krise zu einem regionalen Konflikt ausweitet. Biden musste also seinen Besuch in der jordanischen Hauptstadt absagen.
Die Tatsache, dass der amerikanische Präsident nur wenige Tage nach dem Besuch von Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin ebenfalls in die Region aufgebrochen war, unterstreicht die gestiegenen Risiken eines umfassenderen Krieges im Nahen Osten. Und der Tod von Hunderten Palästinensern in dem Krankenhaus hat die Lage für die arabischen Regierungen noch verschlimmert. Sie hatten sich bereits auf hohe Opferzahlen und die Vertreibung palästinensischer Zivilisten eingestellt, da Israel sich auf eine Bodenoffensive zur Beseitigung der Hamas-Regierung vorbereitet. Das Letzte, was viele arabische Staatschefs mit einer in ihren Ländern chronisch schwachen politischen Struktur wollen, ist, dass ihre Bevölkerungen gegen Israel und die Vereinigten Staaten protestieren, weil das nämlich die Stabilität ihrer eigenen Regime gefährden könnte.
Die Rolle der PLO
Der israelisch-palästinensische Konflikt ist für die arabischen Staaten schon lange ein großes Anliegen. Seit ihrer Entstehung als unabhängige Staaten in der Zwischenkriegszeit und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren die arabischen Staaten darauf aus, den damals entstehenden jüdischen Staat zu verhindern, strebten aber kein souveränes Palästina an. Die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) wurde 1964 in Kairo mit Unterstützung des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser gegründet, um seine panarabischen nationalistischen Ambitionen zu fördern. Als die arabischen Staaten erkannten, dass selbst ihre vereinten Kräfte dem israelischen Militär nach der massiven Niederlage im Krieg von 1967 nicht gewachsen waren, hatte sich die PLO als ernstzunehmender Machtfaktor etabliert, der sich für den palästinensischen Nationalkampf einsetzte – welcher freilich den konkurrierenden Interessen Ägyptens, Jordaniens und Syriens zuwiderlief.
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Der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel von 1978 führte zu einer weiteren Divergenz zwischen den Interessen Kairos und der Palästinenser. Innerhalb eines Jahrzehnts erkannte jedoch auch die PLO die israelische Staatlichkeit an und bemühte sich auf diplomatischem Weg um die Errichtung eines palästinensischen Staates im Westjordanland und im Gazastreifen, die seit dem Krieg von 1967 von Israel besetzt waren. Es war eine Vereinbarung, die die wichtigsten arabischen Staaten nach der Intifada von 1987 (in der die Hamas als radikale islamistische Rivalin zu Jassir Arafats säkularer Fatah-Fraktion auftrat, die die PLO lange Zeit dominiert hatte) als in ihrem Interesse ansahen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich allerdings der Iran bereits als regionale Macht etabliert und seinen Einfluss in der arabischen Welt ausgeweitet. Schon in den frühen 1980er Jahren hatte der Iran die Hisbollah zu seinem wichtigsten Stellvertreter aufgebaut, und Syrien wurde zum einzigen Verbündeten Teherans unter den arabischen Staaten. Das Ende des katastrophalen achtjährigen Krieges mit dem Irak im Jahr 1988 und die Schwächung des irakischen Regimes im Golfkrieg 1991 ermöglichten es dem iranischen Regime, seinen Einfluss in der arabischen Welt auszuweiten. Die islamistische Mullah-Regierung war besonders daran interessiert, den israelisch-palästinensischen Konflikt auszunutzen, und beförderte die Gründung des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ). Es dauerte nicht lange, bis sich auch die Hamas, die wichtigste palästinensische islamistische Bewegung, in die iranische Umlaufbahn begab.
Die Hamas übernimmt den bewaffneten Kampf
Während sich die PLO auf Verhandlungen zubewegte, trat die Hamas als ihr Hauptkonkurrent auf und übernahm den bewaffneten Kampf. Im selben Jahr, als die PLO das von den USA unterstützte Oslo-Abkommen mit Israel unterzeichnete, welches zur Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PNA) führte, startete die Hamas zusammen mit dem PIJ eine massive Kampagne von Selbstmordattentaten gegen Israel. Die Unfähigkeit Israels und der PLO, in den folgenden sieben Jahren eine endgültige Einigung zu erzielen, führte im Jahr 2000 zur zweiten Intifada, die die Hamas weiter stärkte und die von der Fatah dominierte PNA schwächte. In der Erkenntnis, dass das Scheitern des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses zusammen mit den Anschlägen vom 11. September 2001 dem Iran mehr Spielraum verschafft hatten, um die Schwächen in der arabischen Welt auszunutzen, bot der damalige saudische König Abdullah im Jahr 2002 Israel einen umfassenden Frieden im Austausch für die Schaffung eines palästinensischen Staates im Westjordanland und im Gazastreifen nach dem Rückzug der israelischen Truppen auf ihre Stellungen von vor 1967 an.
Die Ablehnung des saudischen Angebots durch Israel, der Irakkrieg 2003, der einseitige Rückzug Israels aus dem Gazastreifen 2005 und der Wahlsieg der Hamas 2006 stärkten die Position Irans in der Region weiter. Der politische Stillstand nach dem Wahlsieg der Hamas führte 2007 zum palästinensischen Bürgerkrieg, der zwei getrennte palästinensische Einheiten zur Folge hatte: Die Hamas kontrollierte den Gazastreifen und die Fatah das Westjordanland. In der Zwischenzeit hatte die Hamas vom Iran Raketen erworben; seit 2008 war Hamas in vier Kriege und mehrere begrenzte Zusammenstöße verwickelt, die alle zu Krisen für die arabischen Staaten führten, die sie jedoch überstehen konnten.
Irans zynisches Kalkül
Das Ausmaß des jüngsten Hamas-Angriffs hat den Zyklus der zurückliegenden anderthalb Jahrzehnte durchbrochen, in denen es alle paar Jahre einen Gaza-Krieg gab, der mit einem Waffenstillstand endete. Es ist eine Situation entstanden, in der die arabischen Staaten, die gegen die Hamas sind und ein gemeinsames Interesse mit Israel an der Eindämmung der vom Iran unterstützten Miliz haben, gezwungen sind, deren Aktionen zu ignorieren und stattdessen Israel zu kritisieren. Die Angst der arabischen Regierungen vor regionaler Instabilität hat sie in die Defensive gedrängt. Auf diese Weise konnten der Iran und die Hamas erhebliche geopolitische Vorteile erzielen, denn je mehr palästinensische Zivilisten bei den Kämpfen zwischen Israel und der Hamas getötet werden, desto mehr profitieren sie davon.
Indem der Iran den Staat Israel mittels seiner Stellvertreter Hamas und Hisbollah unter Druck setzt, drängt er die arabischen Staaten in die Defensive. Teheran hofft, dass sie dadurch mit der Zeit geschwächt werden – und auf diese Weise mehr strategischer Raum in der Region für Teheran selbst geschaffen wird.
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Vielen Dank werter Herr Bokhari! In dem ganzen Kuddelmuddel hat man, zumindest was mich persönlich angeht, sowieso keinen Durchblick von jeher. Und wenn man bedenkt, dass wie ich irgendwo aufgeschnappt habe 50% der z.B. jordanischen Bevölkerung palästinensischer Herkunft ist oder eine Stadt wie Beirut ehemals "Paris des Ostens" genannt, die Rückkehr des Steinzeitislamismus wie im ehemals ebenfalls weltoffenen Persien betrachtet, muss es einen wirklich nicht wundern, das die fortschrittlicheren arabischen bzw. muslimischen Länder auf solche Zustände dankend verzichten können. Brüder und Schwestern im Glauben hin oder her. Aber mal ganz hypothetisch gedacht: Israel existierte nicht mehr oder hätte nie existiert. Was glauben Sie wie lange es dauern würde bis sich aufgrund alter Stammesgeschichten, Schiiten gegen Sunniten und alles dazwischen, Fatah gegen Hamas, Hisbollah usw. gegeneinander wenden würden, um jeden Meter Wüste kämpfend o. sonstigen Animositäten freien Lauf lassen würden? FG