- Zimmer mit Aussicht
Seit über 30 Jahren hat Heike Straube einen Logenplatz: Von der 26. Etage eines Hotels schaut sie auf die Stadt
Heike Straube schaut aus dem Fenster. Nicht so, wie andere vielleicht aus dem Fenster schauen. Wenn die Frau mit den blonden und leicht zurückgebundenen Haaren von ihrem Panoramaplatz nach unten blickt, dann geht es 97 Meter in die Tiefe. Und wenn sie ihren Blick von hier in die Weite schweifen lässt, dann sieht sie weit über die Dächer der mittelsächsischen Metropole hinweg – bis hinüber ins Erzgebirge. C the Unseen! Das Motto der Kulturhauptstadt 2025 ist Heike Straube in Fleisch und Blut übergegangen. Nicht erst jetzt. Vor Jahrzehnten schon. Denn Straube sieht, was andere nicht sehen. Jetzt gerade zum Beispiel ist die Sonne über der Stadt aufgegangen. Prächtig funkelt sie auf den Dächern von Chemnitz.
Es riecht nach Kaffee, nach gebratenem Speck und nach Rührei. 8 Uhr. Im Panoramarestaurant des Dorint Hotels, in dem Heike Straube Tag für Tag ihrer Arbeit nachgeht, herrscht um diese Zeit munteres Treiben. Das allein, es wäre natürlich nicht ungewöhnlich. So oder ähnlich findet es jeden Tag in Hunderten Hotels des Landes statt. Doch hier, in der 26. Etage eines gewaltigen Hochhauses inmitten der Chemnitzer Innenstadt, genießt man eben nicht nur seinen Kaffee. Man hat auch einen gigantischen Rundumblick über nahezu alles, was die so oft übersehene Stadt zu bieten hat.
Auf Distanz und doch nah dran
Das Dorint, es ist mit Abstand das höchste Gebäude der Stadt. Und es belegt immerhin Platz 86 im Ranking der höchsten Gebäude Deutschlands. Ein Koloss. Und genau hier, im obersten Stockwerk, schlägt sein eigentliches Herz: das große Frühstücksrestaurant, in dem sich seit der Hotel-Eröffnung im Jahr 1974 den Besuchern eine atemberaubende Aussicht bietet. Was hat man von hier oben nicht schon alles gesehen? Die Chemnitzer, wie sie lebten und liebten. Den Aufbau der sozialistischen Stadt. Die Wende. Den Wandel der Nachwende-City. All das konnte Heike Straube von hier aus aus sicherer Distanz betrachten. Weit weg und doch ganz nah dran.
Vielleicht ist es genau diese schier unvorstellbare Weite, die die Frau mit dem einnehmenden Lachen so gelassen und sympathisch gemacht hat. Straube kennt das hohe Haus wie kaum eine Zweite. Einen Lieblingsperspektive habe sie dennoch nicht, sagt sie gleich zur Begrüßung. Die Aussicht sei doch überall schön. Und wer wüsste das besser als sie: die Frau, die von hier oben ganz sicher jeden Standpunkt und jede Perspektive bereits mindestens einmal ausprobieren konnte? Im Dorint angefangen nämlich hat die heutige Bankettleiterin des Hotels bereits vor 43 Jahren. Damals wollte sie unbedingt Kellner werden. Nicht irgendwo, sondern genau hier. Im höchsten Haus der Stadt. Zu DDR-Zeiten ein Privileg. Nicht jeder konnte im damaligen Interhotel so ohne Weiteres eine Lehrstelle bekommen. Sie hatte Glück. Vielleicht, weil sie immer schon nach ganz oben gewollt hat. So genau kann sie sich an die Gründe gar nicht mehr erinnern.
Einsichten und Aufsichten
Vieles ist eben längst verblasst. In Straubes Erzählungen geblieben aber ist ein in der DDR übliches Maskulinum. Sie nutzt es noch heute. Zum Beispiel wenn sie über ihren Beruf spricht: Kellner sei sie. Nicht Kellnerin. Diese männliche Form sei für sie vollkommen normal. Das hieß damals eben so. Doch auf dem Weg durch ihre zweijährige Lehre hat Heike Straube nicht nur Namen und Titel gelernt. Die wichtigste Lektion: Diskretion und Respekt. „Ein Kellner hat nicht schöner auszusehen als der Gast.“ Für die Frauen hieß das: kein Make-up, kein Schmuck, keine manikürten Fingernägel. Für die Herren wiederum waren Bärte tabu. Diese Ausbildung, erinnert sie sich, war hart und streng und Pünktlichkeit eine wichtige Tugend. Zehn Minuten vor Dienstbeginn hatte man da zu sein. „Wir waren immer im Dienst, auch wenn wir mal lange Party gefeiert haben. Da wurde am nächsten Tag eben durchgezogen. Streng nach dem Motto: Wer feiern kann, kann auch arbeiten.“ Der Lohn: Nach der Lehre wurde man übernommen und durfte zwei Restaurants angeben, in denen man künftig arbeiten wollte. Für Heike Straube waren zwei schon damals eines zu viel. Sie wollte immer nur nach oben. Hoch hinaus ins Panoramarestaurant. Den zweiten Wunsch ließ sie daher offen.
Später dann, als ihr größter Traum in Erfüllung ging, hat sie über den Dächern von Chemnitz die Wichtigen und Mächtigen aus Politik und Kultur gesehen. Einige von ihnen hat sie sogar bedient. Kurt Biedenkopf, Udo Jürgens, Carmen Nebel, Helene Fischer, die gesamte deutsche Volksmusik. Doch wenn es um Anekdoten über Promis geht, hält sich Straube diskret zurück. Ganz dem Ethos ihres Berufes entsprechend. Ganz Kellner. Man steht im Hintergrund und ist verschwiegen. Einsichten und Aufsichten. Heike Straube hat von den großen wie kleinen Blicken auf das Leben wohl mehr als irgendjemand sonst in Chemnitz genossen. Von ihrem Panoramaplatz aus kann sie sogar die Karl-Marx-Büste sehen. 1971, bei der Einweihung, war sie mit dabei. Nach 43 Dienstjahren hat sie zwölf Direktoren kommen und gehen sehen. Ob sie je woanders hätte arbeiten wollen? „Natürlich nicht!“ Chemnitz, das sei ihre Heimat. Auch wenn sich vieles hier verändert habe. Manches bemerkt man erst beim Draufschauen.
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol.
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