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Der „kriminelle Ausländer“ - Rassismus bis in die Lüneburger Heide

Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Jugendliche mit Migrationshintergrund verüben nicht mehr Straftaten als ihre deutsch-deutschen Pendants. Trotzdem werden sie häufiger angezeigt. Gegen die „kriminellen Ausländer“ solle die Polizei gefälligst endlich etwas tun, heißt es sogar in der sichersten, migrationsfernsten Peripherie Deutschlands

Autoreninfo

Marie Amrhein ist freie Journalistin und lebt mit Töchtern und Mann in der Lüneburger Heide.

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Vor etwa einem Monat gründete sich eine Gruppe bei Facebook mit dem Namen Nordheide aufgepasst. Mittlerweile sind hier über hundert Mitglieder zugegen, die sich über kriminelle Umtriebe in ihrer Gegend gegenseitig auf dem Laufenden halten wollen. Hier wird nicht offen gepöbelt, eher ist eine perfide Art der Hetze im Gang. Dabei heißt es in der Beschreibung: „Bitte postet Eure Beobachtungen so, als würdet Ihr die Polizei benachrichtigen. Jeder Teilnehmer wird dann über Aktivitäten und Vorgehensweisen trickreicher Banden informiert. Weiterhin können hier vorbeugende Maßnahmen gegen Einbruch/Diebstahl eingestellt und diskutiert werden. Die Meldungen müssen bitte sachlich und frei von Anschuldigungen sein. Danke.“

Daran gehalten wird sich aber nicht. Der erste Aufruf in der Gruppe galt einem jungen „dunkelhäutigen“ Mann im Wald, der angab, sich als Patient der hiesigen Klinik beim Spazierengehen verlaufen zu haben. Sehr verdächtig also. Die Gruppe debattierte so lange, bis die Initiatoren bei der Polizei anriefen, um seine Personalie überprüfen zu lassen. Als sich herausstellte, dass es sich tatsächlich um einen Patienten gehandelt hatte, löschte man den Post schnell wieder. Und nun? Wurde ein Sparkassenautomat zerstört – und plötzlich finden wir uns in der schönsten Einwandererdebatte. Es ist unheimlich, wie schnell aus der Meldung einer Straftat – wohlgemerkt ohne Hinweis auf die Nationalitäten der Täter – ein akzeptierter „Ausländer-Raus“-Ruf ertönt. Erstaunlich ist es nicht.

Jugendliche mit Migrationshintergrund: Weniger Straftaten, mehr Anzeigen


Der Kriminologe Christian Walberg hat vor kurzem in seinem Gutachten für den Mediendienst Integration über Migration und Jugenddelinquenz resümiert: Die Migrationskonstellationen seien so vielfältig, dass es rein wissenschaftlich völlig unzulässig sei, das Merkmal „kriminell“ auf eine sozial konstruierte Gruppe wie „die Ausländer“ anzuwenden. Trotzdem aber wird genau das getan. Ständig. Deshalb hält Walberg fest, dass „Erwachsene Einwanderer eher nicht vermehrt durch Straftaten auffallen“ und dass bei allen Jugendlichen, sowohl bei jenen mit als auch bei denen ohne Migrationshintergrund, die Zahlen der Gewalttaten zurückgehen. Allerdings bemerkt er in seinem Gutachten auch: Jugendliche mit Migrationshintergrund, die in einen Konflikt geraten, werden häufiger angezeigt als ihre deutsch-deutschen Pendants.

Trotz dieser Fakten herrscht nicht nur in dieser Selbsthilfe-Facebookgruppe das Gefühl vor, dass man selbst, ja das ganze Land in Gefahr sei. Der Erfolg der AfD spricht für sich. Auch hier im Landkreis Harburg lag die Partei, der täglich ein Mehr an rechten Tendenzen vorgeworfen wird, bei erklecklichen 5,7 Prozent. Dabei lebe ich seit meinem Umzug von Berlin aufs Land objektiv gesehen an einem der friedlichsten Orte der Welt. An einem der spießigsten übrigens auch. Die Kriminalstatistik verzeichnete noch im Jahr 2006 603.597 bekannt gewordene Straftaten für das Land Niedersachsen, neun Jahre später sind es fast 58.000 weniger. Trotzdem kündigt einer der Wehrhaften an, er werde bei diesen Zuständen gefühlter Gefahr durch die „kriminellen Ausländer“ demnächst „einen Waffenschein beantragen“ und die Polizei solle gefälligst endlich etwas tun!

„Deutsche Mehrheitsgesellschaft“ pocht auf Vorrechte


Es muss keinen wundern, dass sich in einem solchen Land viele „Deutsche als Fremde fühlen“, wie es jetzt in einer repräsentativen Studie der Universität Bielefeld und der Stiftung Mercator heißt. Die Befragten überschätzten demnach ihre eigene Toleranz und Integrationsbereitschaft. Ändern nämlich sollen sich nach den Erkenntnissen der Wissenschaftler nur die anderen. Befragte Deutsche mit und ohne Migrationshintergrund befänden, dass jemand dann dazugehöre, wenn er die Sprache spräche und die Gesetze achte.

Im nächsten Schritt aber wird es diffizil: Denn während Menschen mit Migrationshintergrund glauben, dass sie sich durch einen festen Job oder ehrenamtliches Engagement in die Herzen der Ureinwohner vorarbeiten können, fordert die „deutsche Mehrheitsgesellschaft“, zum echten Dazugehören sei die deutsche Staatsangehörigkeit von Nöten, besser noch – Achtung: Quadratur des Kreises – Deutschland als Geburtsland. Noch perfider werden die Ansprüche in Sachen Gleichheit: 86 Prozent der Befragten sagen zwar, dass alle Menschen über die gleichen Rechte verfügen sollten, bisherige Privilegien und Vorrechte der deutschen Mehrheitsgesellschaft sollen aber auf keinen Fall abgegeben werden. Wie das alles gehen soll, weiß kein Mensch.

Seit Jahren zeigen Studien des Mercator Instituts, in deren Reihe auch diese letzte erschien, immer wieder eines: So stark auch die Bemühung um Integration in Deutschland ist – dementgegen stehe immer und immer wieder, „schwerwiegend und stabil“ eine „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“.

Schämen sollte man sich.

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