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Kunstprojekt beziffert Syrienkrieg - Jedes deutsche Kleinkind wäre auf der Flucht

Ein Online-Projekt holt die Grauen des Syrienkrieges in deutsche Großstädte – zumindest gedanklich: „If we were Syrian“ zeigt anhand von nackten Zahlen, wie groß das Leid hierzulande wäre. Und wie winzig die Hilfe

Autoreninfo

Katharina Pfannkuch studierte Islamwissenschaft und Arabistik in Kiel, Leipzig, Dubai und Tunis. Sie veröffentlichte zwei Bücher über das islamische Finanzwesen und arbeitet seit 2012 als freie Journalistin. Neben Cicero Online schreibt sie u.a. auch für Die Welt, Deutsche Welle und Zeit Online.

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Berlin, München, Frankfurt: Wie ausgestorben. In Dortmund und Würzburg sieht es nicht anders aus. Fast neun Millionen Menschen haben ihre Wohnungen und Häuser verlassen und sind auf der Flucht. Der Großteil von ihnen sucht in ländlichen Gebieten Zuflucht – 6,5 Millionen Menschen verstecken sich hier. Rund drei Millionen versuchen, nach Frankreich, Österreich, Polen und in die Schweiz zu flüchten. Die gesamte Bevölkerung Leverkusens, knapp 160.000 Menschen, sind umgekommen, darunter auch über 10.000 Kinder. Insgesamt 2,8 Millionen deutsche Kinder müssen ihr Zuhause verlassen – jedes Kind unter sieben Jahren ist davon betroffen. Hilfsgüter werden immer dringender benötigt. Doch bisher decken Spenden lediglich 27 Prozent des Bedarfs ab. Die Lage der deutschen Zivilbevölkerung scheint aussichtslos.

Es ist ein Szenario, das einem Science Fiction-Roman entsprungen sein könnte und einer düsteren Zukunfts-Utopie gleicht. Unweigerlich hält der Leser inne, vor dem inneren Auge tauchen Bilder auf: Verlassene Berliner Straßen, ein zerstörtes Dortmund, Flüchtlingsströme an der Grenze zu Frankreich. Beklemmende Fragen drängen sich auf: Wo wäre ich inmitten dieser Katastrophe, wie könnte ich meine Familie schützen, wo würden wir Zuflucht finden, wie unser Hab und Gut retten, wer würde uns helfen?

Diese Fragen werfen die kanadischen Journalisten Shannon Gormley und Drew Gough auf. Nicht nur Deutschland wird bei ihnen zum Schauplatz einer humanitären Katastrophe: Sämtliche G7-Staaten stellen sie auf der Webseite „If We Were Syrian“ in jenem fiktiven Szenario dar, das in Syrien bittere Realität ist. Seit dem Aufstand gegen das Regime Baschar al-Assads vor über drei Jahren versinkt Syrien im Bürgerkrieg – die Opferzahlen sind so hoch und die Quellen so unzuverlässig, dass sich die Vereinten Nationen seit Juli 2013 nicht mehr im Stande sehen, Zahlen zu veröffentlichen. Man geht von mindestens 160.000 Toten und über 9 Millionen Flüchtlingen aus. „Würde eine Krise diesen Ausmaßes ein Land wie Kanada treffen, würde die internationale Gemeinschaft ganz anders und viel aktiver reagieren“, ist Shannon Gormley überzegt. 

Der Schlüssel: Empathie


Gormley berichtet seit mehreren Jahren über den Syrien-Konflikt, momentan von Istanbul aus. Zuvor lebte und arbeitete sie im Libanon. Dort erlebte sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Drew Gough täglich, wie die enormen Flüchtlingsströme aus Syrien den kleinen Zedernstaat an die Grenzen seiner Belastbarkeit bringen: „Wir sahen, wie wenig die internationale Gesellschaft tat, um Libanon bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu unterstützen und wie wenig Hilfe vor Ort ankam“, erinnert sich Gormley. Mit jedem Artikel, den sie über Syrien schrieb, sei ihr bewusster geworden, wie schwierig es für die Leser sei, einen eigenen Bezug zu der humanitären Krise herzustellen, die doch so weit entfernt stattzufinden scheint. Gormley ist überzeugt: „Die Aufmerksamkeit, die diesem Problem geschenkt wird, wird in keinster Weise dessen Ausmaßen gerecht.“

Also überlegten Gormley und Gough, wie sie Menschen fernab der Region dazu bringen könnten, sich nicht weiterhin vom Leid der syrischen Zivilbevölkerung abzuwenden. Der Schlüssel: Empathie. „Wenn man den Menschen hilft, sich in die Lage anderer zu versetzen, öffnen sie sich und hören auf, die Untätigkeit ihrer eigenen Länder und Regierungen zu verteidigen“, so Gormley. Wie wäre das, wenn der Krieg plötzlich nicht mehr tausende Kilometer entfernt tobt, sondern direkt vor der Haustür, im eigenen Land und im eigenen, so sicheren Leben? Gerade für jüngere Generationen in Deutschland finden Kriege stets weit entfernt statt, sie kennen sie allenfalls aus Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern. Der Gedanke, das eigene Land und die unmittelbare Umgebung könnten plötzlich von Krieg betroffen sein, stimmt ratlos. Eines steht jedoch fest: Man würde auf Hilfe hoffen. Doch die kommt in Syrien nach wie vor nur zögerlich und in viel zu kleinem Rahmen an. Das bittere Fazit des deutschen Katastrophenszenarios lautet dann auch: „Deutschland würde mehr erwarten“.

Anfang Juni gingen Gormley und Gough mit der Seite „If We Were Syria“ online. Akribisch trugen sie Zahlen zusammen, übertrugen sie auf andere Länder, zogen Vergleiche. Bewusst entschieden sie sich dabei für die G7-Staaten, weil diese die Kapazität – und nach Ansicht der beiden Journalisten auch die Pflicht – haben, der syrischen Zivilbevölkerung in größerem Rahmen zu helfen als bisher. Der Verzicht auf Theatralik und Inszenierung macht diese Vergleiche und Szenarien so eindrucksvoll und beklemmend zugleich: Die zwölf größten Städte Italiens – alle verlassen. Sämtliche Einwohner von Cannes und Avignon – ums Leben gekommen. Flüchtlingsströme hätten London nahezu leer zurückgelassen, fast drei Millionen US-Amerikaner würden nach Kanada, Mexiko und Europa fliehen. Neben den Ländervergleichen stehen auf der Seite auch Schreiben bereit, die Besucher der Seite direkt an politische Volksvertreter der einzelnen Staaten senden können, um mehr Engagement in Syrien zu fordern.

Obwohl das Projekt erst vor wenigen Wochen online ging, erlangt es bereits viel Aufmerksamkeit: „Hilfsorganisationen wie CARE, World Vision und UNICEF kamen auf uns zu, weil sie das Potenzial unserer Seite und der Methode für den gesamten Hilfssektor erkennen“, berichtet Gormley von den ersten Reaktionen. Denn auch die großen Organisationen kämpfen mit dem Problem der niedrigen Spendenbereitschaft im Falle Syriens.

Sie griffen bereits zu ungewöhnlichen Mitteln und Kunstgriffen, um potenzielle Spender für sich zu gewinnen: Im März veröffentliche die Kinderhilfsorganisation „Save the Children“ ein Video, das ein Jahr im Leben eines kleinen britischen Mädchens zeigt. In die unbeschwerten Szenen einer Kindheit mischen sich immer mehr Anzeichen für die angespannte Lage im Land, die Eltern diskutieren schließlich im Hintergrund über eine mögliche Flucht. Während der Blick des Mädchens zunehmend leerer und ängstlicher wird, verändert sich auch die Umgebung: Kinderlachen und Teddybären weichen Bildern von  Zerstörung, zu wenig Wasser und knapp bemessenen Medikamenten. Nach den Wirren der Flucht endet das Video mit dem Geburtstag des Mädchens in einem Flüchtlingslager. Das Video verbreitete sich rasend schnell im Netz und verfehlte seine emotionale Wirkung nicht – doch viel mehr als ein kollektives Bedauern der syrischen Zivilbevölkerung vor allem in sozialen Netzwerken kam bei dieser Aktion nicht heraus.

„Was würdest du tun? Warum hilfst du nicht?“


Erfolgreicher war da schon Philipp Ruch mit seinem „Zentrum für politische Schönheit“. Im Mai hatte eben dieses Zentrum täuschend echt die Aufnahme von 55.000 syrischen Flüchtlingskindern in Deutschland öffentlich angekündigt. Im Namen von Familienministerin Manuela Schwesig, jedoch ohne deren Wissen. „1 aus 100“, so lautet der bewusst provokante Titel der Aktion – schließlich könne nicht jedes der Millionen syrischer Flüchtlingskinder gerettet werden. Das Medienecho war groß, auch die Politik reagierte. Ende Mai wurde Ruch im Kanzleramt empfangen, um seine konkreten Forderungen zu erläutern. Die Aktion erntete auch viel Kritik: Über 350 Menschen hatten den Aufruf, ein syrisches Kind aufzunehmen, zuvor ernst genommen und sich beim Ministerium gemeldet. Viele von ihnen zeigten sich schockiert, als sich das Ganze als eine Kunstaktion entpuppte. Die Glaubwürdigkeit anderer, tatsächlicher Hilfsorganisationen werde mit Aktionen wie dieser untergraben, lautete ein Vorwurf.

Auf die Selbstinszenierung eines Philipp Ruch verzichten Shannon Gormley und Drew Gough ebenso wie auf filmische Mittel. Für groß inszenierte Kunstgriffe fehlt ihnen auch die Zeit. Sie betreiben ihre Webseite ehrenamtlich, nach Feierabend. So manche Nacht verbringen sie deshalb auch schlaflos: „Wir sehen die viele Zeit, die wir für die Seite verwenden, als unsere Spende an, die hoffentlich viele Menschen weltweit zu weiteren, auch finanziellen Spenden inspiriert“, erklärt Gormley unprätentiös. Kommentarlos halten die zwei Journalisten den Menschen fernab von Krieg, Hunger und Lebensgefahr einen Spiegel vor und provozieren damit einfache Fragen: „Was würdest du tun? Wer würde dir helfen? Warum hilfst du nicht?“

Für Gormley und Gough ist im Falle Syriens eines klar: „Es gibt keine Entschuldigung dafür, nichts zu tun.“

Hier geht es zu der Webseite „If we were Syrian“.

 

 

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