- „Deutschland hat viel besser reagiert“
Lisa Nandy gilt als Außenministerin im Schattenkabinett der britischen Labour-Partei. Gegenüber „Cicero“ greift sie den britischen Premierminister an. Boris Johnson habe die Pandemiebekämpfung vermasselt und treibe Großbritannien nun auch noch in einen harten Brexit – mit fatalen wirtschaftlichen Folgen.
Wenn die EU-Chefs sich an diesem Freitag zu ihrem virtuellen Gipfel versammeln, dann wird einer fehlen: Der britische Premier Boris Johnson hat seine Insel schon am 31. Januar 2020 aus der EU herausgeholt und nimmt nun nicht mehr an EU-Gipfeln teil. Diesen Montag hat er bei einem Videochat mit der EU-Spitze überdies klargestellt, dass er auch unter den erschwerten Bedingungen der Coronakrise nicht daran denkt, die Übergangsphase für den Brexit zu verlängern. Das Vereinigte Königreich tritt damit Ende Dezember mit oder ohne Handelsabkommen aus dem EU-Binnenmarkt aus.
„Der Brexit ist zwar entschieden“, sagt dazu Lisa Nandy, die Schattenaußenministerin der Labour-Party, im Interview mit Cicero, „aber wenn wir ohne Deal aus der EU austreten, dann wird die britische Bevölkerung im kommenden Winter unter den Folgen der Coronakrise, gekoppelt mit einem harten Brexit, sehr schwer zu leiden haben.“ Nandy ist Abgeordnete in der Stadt Wigan im Norden von England. Die Mehrheit ihrer Wähler hatte beim EU-Referendum vor vier Jahren für den Brexit gestimmt. Die 40jährige Politikerin ist Proeuropäerin, hat sich aber im britischen Unterhaus immer dafür eingesetzt, den Willen ihrer Wähler zu respektieren und den Brexit umzusetzen. „Jetzt geht es vor allem darum, auf die Regierung einzuwirken, erfolgreiche Verhandlungen mit Brüssel über ein Handelsabkommen zu führen“, sagt sie.
Nandy will die Tories treiben
Dazu wird die Zeit allerdings knapp. Bis Oktober müssen äußerst komplizierte Fragen geklärt werden: Wer darf wie viele Fische an den Küsten Britanniens fangen? Werden Güter künftig mit Zöllen belegt, wenn sie von der EU auf die britische Insel und umgekehrt exportiert werden? Wird Großbritannien auch in Zukunft ein „Level playing field“ mit der EU einhalten und nach den gleichen Regeln spielen? Die EU fürchtet, dass die Briten am Rande Europas ein Steuerparadies aufziehen und bei Arbeitsrechten und Staatshilfen ganz andere Bedingungen schaffen, die der EU als Standort schaden könnten. Bisher hat sich die Regierung von Boris Johnson nicht zu Kompromissen bereit gezeigt.
Seit Neuestem hat Boris Johnson allerdings ein weiteres innenpolitisches Problem bekommen: Beim wöchentlichen Redegefecht des Regierungschefs gegen den Oppositionschef im Unterhaus jeden Mittwoch Mittag hat er jetzt einen echten Gegner vor sich. Nachdem Jeremy Corbyn die nationalen Parlamentswahlen am 12. Dezember in Bausch und Bogen verloren hatte, folgte ihm mit Keir Starmer im April ein ehemaliger englischer Staatsanwalt als Labour-Chef nach, der mit forensischer Genauigkeit den detailschwachen Johnson in die Enge treibt. „Wir müssen eine Opposition sein, die im nationalen Interesse agiert“, sagt Lisa Nandy, die mit Keir Starmer um den Parteivorsitz gestritten hat. Als Schattenaußenministerin gehört sie heute seinem engsten Führungsteam an: „Mitten in der Coronakrise können wir nicht darauf warten, dass die Tories einen Fehler nach dem anderen machen. Wir müssen sie mit unseren Vorschlägen vor uns hertreiben, damit sie diese Fehler gar nicht erst machen.“
Es fehlen Jobs und Hoffnung
Die britische Opposition fürchtet die Konsequenzen eines harten Brexit vor allem in jenen Gebieten, in denen eine Mehrheit für den Brexit gestimmt hat. Wie in Lisa Nandys Wigan, einem Städtchen von ehemaligen Bergwerkarbeitern, deren miserable Lebensbedingungen 1937 von George Orwell in „The Road to Wigan Pier“ beschrieben wurden. Heute gibt es keine Bergwerke mehr, es fehlt an Jobs und Hoffnung. Der Brexit wird Wigan EU-Zuschüsse kosten. Die Arbeitslosigkeit wird im Herbst in die Höhe schnellen, wenn die Regierungszuschüsse für Gehälter enden, die während der Corona-Pandemie ausgezahlt werden. „Wir werden die tiefste Rezession seit Jahrzehnten erleben“, sagt Nandy: „Boris Johnson hat Covid-19 chaotisch gemanagt, die politische Führung in anderen Ländern wie zum Beispiel in Deutschland hat viel besser reagiert.“
Seit dem Lockdown kann Nandy ihre Wähler nur virtuell konsultieren, sie ist mit ihrer Familie meistens zu Hause in Wigan. Bei Videocalls aber drücken die Wiganer erstaunlich wenig Wut gegen die Regierung aus, sagt Nandy, obwohl noch immer über hundert Menchen pro Tag an Covid-19 in Großbritannien sterben: „Viele Labour-Wähler sind Frontarbeiter“, sie arbeiten in Krankenhäusern, in Supermärkten, sie sind Lehrerinnen, Müllmänner und Zusteller: „Sie alle haben keine Zeit gehabt, im Lockdown Wut zu sammeln, sie haben vor allem eines: Angst.“ Zur Zeit grassiert in Nordengland noch Covid-19; im Herbst kommt unter Umständen eine zweite Welle der Pandemie – und Arbeitslosigkeit. „Wir sind als letzte in Europa in den Lockdown gegangen und kommen auch als letzte wieder heraus.“ In Großbritannien schrumpfte die Wirtschaft im April um 20 Prozent, das Wirtschaftswachstum von achtzehn Jahren wurde in diesem Frühling schlicht ausradiert.
Mythos der britischen Einzigartigkeit
Warum Boris Johnsons Regierung so spät auf die weltweite Pandemie reagiert hat, hängt für Nandy mit „dem Mythos der britischen Einzigartigkeit“ zusammen, dem so mancher Tory-Minister anhänge: „Sie glaubten, Britannien sei eben besser als andere Nationen. Dann kam der Weckruf.“ Für die mittelgroße europäische Macht außerhalb der EU sieht die Zukunft nicht rosig aus: „Wir haben jetzt mit dem Brexit unseren engsten Freunden den Rücken zugekehrt und könnten leicht zwischen den Supermächten USA und China zerquetscht werden.“ Bei knifligen politischen Entscheidungen wie der Involvierung der chinesischen Firma Huawei in die Entwicklung des 5-G-Netzes stehe man jetzt alleine da.
Hinzu kommt in Großbritannien jetzt auch noch, dass sich die Vergangenheit zurückmeldet. In der vergangenen Woche schwappte eine Welle von heftigen, antirassistischen Straßenprotesten durch britische Städte. Was als Solidarität mit dem von einem weißen Polizisten getöteten Schwarzen George Floyd in Minnesota begann, wurde sehr schnell eine brisante britische Geschichtsstunde. Die meisten Briten haben die Geschichte des Britischen Empires bisher eher als Erfolgstory gesehen. Die dunklen Seiten des Kolonialismus wurden noch nicht breit aufgearbeitet. Ab dem 18. Jahrhundert war Britannien die dominante Kolonialmacht unter den Europäern. 1913 kontrollierten die Briten 20 Prozent der Weltbevölkerung – darunter Indien, Teile Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Ein großer Teil des britischen Reichtums entstand durch die Ausbeutung der Kolonien und die Beteiligung am Sklavenhandel.
Kulturkampf als Ablenkung
In Bristol wurde vor zehn Tagen die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston gestürzt, bald darauf musste auch Winston Churchills Statue am Parlamentsplatz zu seinem eigenen Schutz verschalt werden. Der legendäre britische Premierminister gilt den einen als größter britischer Staatsmann für seine Rolle im zweiten Weltkrieg, als er den Nazis erfolgreich Widerstand leistete. Andere halten ihn dafür verantwortlich, dass über drei Millionen ostindische Bengalesen 1943 an einer Hungernot starben, die Churchills Indienpolitik mitverursacht hat. Auf seine Anweisung hin wurde zum Beispiel Reis auch am Höhepunkt der Hungersnot weiter aus Indien nach Europa exportiert.
„Ich stamme selbst aus einer indischen Familie“, sagt Lisa Nandy. Ihr Vater ist der marxistische Intellektuelle Dipak Nandy, der aus einer bürgerlichen, bengalischen Familie aus Kalkutta stammt. Ihre Mutter Luise Byers kommt aus einer liberalen englischen Familie. „Mein englischer Urgroßvater demonstrierte hier in England in Solidarität mit den hungernden Bengalen“, sagt Lisa Nandy: „Der andere Urgroßvater in Kalkutta ging gemeinsam mit Gandhi auf die Straße und kämpfte für ein friedliches Ende der britische Herrschaft.“
Für sie ist die Diskussion über das Britische Empire nicht nur aus persönlichen Gründen wichtig. „Boris Johnson heizt den Kulturkampf an, um von seinen Problemen mit Covid-19 und Brexit abzulenken“, sagt Lisa Nandy, „wir werden aus unseren Gemeinden heraus dagegen ankämpfen“. In Wigan gibt es nur eine Statue des einzigen konservativen Abgeordneten, den die Stadt je hervorgebracht hat. Nandy hat jetzt zwei neue Statuen in Auftrag gegeben: Die erste Statue stellt die schwarze Rugby-Legende Billy Boston dar, der bei den Wigan Warriors gespielt hat. Die zweite soll an alle anonymen Männer, Frauen und Kinder erinnern, die zum Wohlstand Wigans im 19. Jahrhundert beigetragen haben.
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"Engste Freunde", von denen die Autorin in ihrem
Artikel redet u. damit die Staaten der EU meint, gibt es in der Politik nicht. Das Reden von Völkerverständigung u. weltweiter Solidarität ist idealistisch. So wünschenswert es wäre, wenn alle Menschen füreinander einstünden: Das ist u. bleibt eine Utopie.
Es geht in der Politik, besonders auch in der Wirtschaftspolitik, immer um I n t e r e s s e n:
die von Wohlhabenden, die ihren Reichtum nicht nur behalten, sondern steigern wollen, und auch die von Ärmeren, die ihren Teil vom Wohlstandskuchen haben wollen. Da stehen auch die meisten Ärmeren in jedem Staat den eigenen Landsleuten näher als denen woanders.
Die Brexit-Abstimmung hat gezeigt, daß sich
sowohl Unternehmer wie Arbeitnehmer
von einer EU-unabhängigen Wirtschaftspolitik
m e h r versprechen als vom Verbleib in der EU.
Warten wir einfach mal ab, was die Regierung des UK im kommenden Jahr unternimmt.
Rezession wird es -dank Corona- sowieso geben, u.
zwar ü b e r a l l !
Sie sollten sich informieren, bevor Sie falsche Behauptungen in die Welt setzen.
Tatsache ist, dass der Brexit etwas geschafft hat, was sonst eigentlich nie passiert: dass sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände weitgehend einig waren - und zwar G E G E N den Brexit!
https://www.bpb.de/internationales/europa/brexit/229016/positionen-zum-…
Auch nach dem denkbar knappen Ausgang des Referendums, mit freundlicher Unterstützung aus Russland:
https://www.bbc.com/news/uk-politics-51417880
...geben CBI und TUC nahezu ständig gemeinsame Erklärungen ab, um die möglicherweise verheerenden Folgeschäden des Brexit zu minimieren. Siehe hierzu z. B.:
https://www.ft.com/content/361bb8d2-4c05-11e9-bbc9-6917dce3dc62
Die V e r b ä n d e mögen sich ja anders geäußert haben, aber Fakt ist, daß
viele ihrer Mitglieder sich t r ot z d e m für den Brexit entschieden.
Gerade in Labour-Hochburgen haben Viele für den Austritt gestimmt.
Warum wohl? Glauben Sie allen Ernstes an Einfluß aus Rußland?
Sind Sie etwa ein Verschwörungstheoretiker?
Sowieso kann nur die Zukunft zeigen, ob die Entscheidung für die Briten
vorteilhaft war o. nicht. Es ist beides möglich. Warten wir's doch ab.
Ob es für Deutschland letztendlich von Nutzen sein wird, sich mit Haut und Haaren dem Projekt EU verschrieben zu haben, dürfte auch erst die Zukunft erweisen. Chancen u. Risiken halten sich da durchaus die Waage, und eine
kritische Sicht auf die real-existierende EU macht keinen zum
"Europa-Hasser". Dieser Ausdruck, der so leichtfertig benutzt wird, ist lächerlich. Ich z. B. bin gerne in ganz Europa gereist, habe Freunde in unterschiedlichen Ländern gewonnen, schätze die Kultur dort,sehe aber die heutige EU sehr skeptisch.
hatten die Briten die Wahl zwischen einer vernunftbezogenen Zustimmung zur EU, und einer emotional-verursachten Ablehnung.
Die Briten haben sich für die zweite Möglichkeit entschieden.
Man hat ihnen erzählt, dass GB ausserhalb der EU zu alter Größe aufsteigen könnte.
Natürlich in Anspielung auf Zeiten des Empires, und unterlegt mit Churchill-Zitaten.
Die "Qualität" der Regierenden hat sich in der Corona-Pandemie bewiesen: GB hat die höchste Zahl an Infizierten und Toten in Europa.
Herr Johnson hat angeblich nicht mal an wichtigen Meetings zu Anfangszeit der Pandemie teilgenommen. War ihm auch nicht wichtig.
Er sieht sich wohl als eine Art modernen Churchill; er möchte als derjenige in die Geschichtsbücher eingehen, der GB vom "Joch" der EU befreit hat.
Aber: Geschwätz über nationale Größe ist eine Sache. Die Zukunft wird zeigen, ob GB mehr kann, als der folgsame Gehilfe der USA zu sein.
Mir scheint, dass ein Verbleib in der EU-28, unter den mit Klauen und Zähnen verteidigten Dysfunktionalität aller Institutionen und deren Zusammenarbeit, und aller geradezu bösartigen Absichten eine hochgradig parasitäre, postdemokratische, föderale Exekutivdiktatur durchzusetzen, ein Höchstmaß an Emotionalität und Verantwortungslosigkeit erfordert hätte. Der Brexit, trotz all der Auswüchsen einzelner Gruppen, ist insgesamt sehr vernünftig. Die EU-27 fährt mit Vollgas, und unter lautstarkem Absingen der Beethoven-Hymne, gegen die Wand, und die Briten wollen nicht an Bord sein. Sie werden harte 5-10 Jahre haben, dann werden sie uns alle auslachen.
Opposition hat immer die besseren Ideen, solange sie nicht selbst die Verantwortung bekommen, dann gibt es eine neue Opposition. Die Autoren der eher linke. Magazine haben immer eine besondere Sicht der Dinge.
Wenn Deutschland die Corona-Krise besser gemeistert haben sollte als Großbritannien, dann hat das mit der Reaktion und den Maßnahmen der Berliner Regierung nicht sehr viel zu tun. Es liegt primär am deutschen Gesundheitssystem, das Merkel und Co. bereits vorgefunden haben und zu dem sie nicht sehr viel beigetragen haben. Und genauso kann man Johnson nicht die Schuld an den vielen Corona-Toten geben, auch er hat das britische Gesundheitssystem (über das schon seit vielen Jahren geklagt wird) so vorgefunden, wie es ist. Beide Regierungen haben übrigens viel zu spät mit Gegenmaßnahmen reagiert und zunächst nur abgewartet. Spätestens als die WHO Corona zur Pandemie erklärt hatte (das war Ende Januar), hätte man auch hierzulande erste Schritte zur Eindämmung einleiten können. Erst nachdem Österreich erste Maßnahmen ergriffen hat (das war Mitte März), wurde auch in Deutschland nachgezogen.
dass Österreich in Europa umsichtig und intelligent voranging.
So groß ist es natürlich nicht, aber wer erzählte denn Johnson und vielleicht auch Trump, man könne es evtl. wie Schweden machen?
Selbst so überlegt, während China alle Schotten dichtmachte? """Mutig"""