- Eine Wende, die nicht einte, sondern trennte
Während Deutschland 1989 seine Einheit wieder erlangte, verging am 17. November 1989 auch eine andere Diktatur. Doch die führte zu einer Teilung. Aus der Tschechoslowakei wurden zwei Staaten. In Prag vermischen sich heute Feiern und Proteste gegen den Premier Andrej Babiš
30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs feiern die Menschen in Prag ein buntes Festival der Freiheit. Zugleich protestieren sie aber mit einer Massendemonstration gegen Andrej Babiš, den amtierenden Regierungschef. Die beiden so unterschiedlichen Veranstaltungen zeigen etwas gemeinsames: Es gibt vielleicht mehr Verbundenheit unter den zehn Millionen Menschen der jetzigen Tschechischen Republik als je zuvor.
Vlastimil Hejl war 30, als er im November 1989 aus der kleinen, an den Ausläufern des Adlergebirges liegenden Stadt Landskron nach Prag reiste, um an den Protesten in der Hauptstadt der damaligen Tschechoslowakei teilzunehmen. „Ich erinnere mich immer noch sehr gut an die Atmosphäre,“ sagt er. „Man spürte ein starkes Gefühl von Zusammengehörigkeit. Die Leute begrüßten sich herzlich, schüttelten einander die Hände – so was kannten wir von dem grauen und kalten Regime gar nicht,“ so Hejl.
Gegen den eigenen Premier
Jedes Jahr reist Hejl mit seiner Frau am 17. November nach Prag, dieses Jahr sind sie aber einen Tag früher angekommen, um zusammen mit etwa 300.000 Menschen aus ganz Tschechien an genau dem Ort, dem Letná-Platz, wieder zu protestieren. Dieses Mal allerdings gegen einen demokratisch gewählten Regierungschef, Andrej Babiš, den Landwirtschafts- und Medienunternehmer, den zweitreichsten Mann Tschechiens. Die EU-Kommission wirft dem Premier vor, sich in einem massiven Interessekonflikt zu befinden, er habe ungerechtfertigter Weise Subventionen erhalten.
„30 Jahre nach der Revolution gibt es nur wenige Gründe zum Optimismus. Justiz und öffentliche Medien sind gefährdet. Der Kampf um Freiheit und Demokratie endet nie,“ sagen die Organisatoren des Vereins „Eine Million Augenblicke für die Demokratie“. Die Stimmung auf den Straßen ist locker, es gibt Reden von Künstlern, Philosophen und anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Musiker singen, einige der Interpreten sangen 1989 auch schon hier. Jetzt aber fordern sie alle gemeinsam den Rücktritt von Babiš, dem „tschechischen Berlusconi“, wie er von vielen genannt wird. Gleichzeitig fordern sie zu mehr politischen Beteiligung auf.
Ähnliche Entwicklungen in Tschechien und Deutschland
Laut dem Historiker Vladimir Handl ist die derzeitige Lage in Tschechien in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit Deutschland. „Die Demokratie bleibt stabil, populistische Parteien werden aber immer stärker, und was das Vertrauen an liberalen Werten angeht, werden beide Gesellschaften gespalten. Bei einem Teil setzen sich dann Akzente auf nationale Identität, Souveränität, Sicherheit. Die Tendenz zu einer Identitätspolitik und einem konservativen Kulturwandel wächst,“ sagt der Experte aus dem Institut für Internationalen Studien der Karls-Universität in Prag.
„Die Tschechoslowakei, im Gegensatz zur Bundesrepublik, trennte sich in zwei unabhängige Länder. Das entstandene Tschechien transformierte sich nach westlichem Muster, aber auf eine eigene Weise“ sagt Handl. „Natürlich hat das Land dabei auch eigene Fehler gemacht, im Gegensatz zu Ostdeutschland war aber die Transformation mit einem Emanzipationsprozess verbunden,“ so der Experte für deutsch-tschechische Beziehungen.
Stillstand statt Reformen
Und diese Fehler zeigten sich jetzt. „Pragmatismus und passiver Konsum dominieren, die Politik beschränkt sich aufs Tagesgeschäft und wichtige strategische Fragen werden nicht angesprochen,“ sagt er. „In Tschechien sind dann die existierenden Unsicherheiten und Ängste mit einer Suche nach starken Führungspersönlichkeiten verbunden, die die Verantwortung übernähmen, wie zum Beispiel Premierminister Babiš,“ so Handl.
Vlastimil Hejl stört es, dass das Überleben der Minderheitsregierung von Babiš jetzt von der reformierten kommunistischen Partei abgesichert wird. „Mir gefällt es nicht, dass sie wieder so viel Macht haben,“ sagt er. Babiš selbst hatte vor 1989 nach Angaben des Gerichts auch mit der Staatsgeheimpolizei ‚StB‘ zusammengearbeitet, was er aber bis heute bestreitet. Am Samstag ließ Babis die Tschechen wissen, wie großartig es sei, dass die Bevölkerung ihre Meinung frei äußern dürfe. Die Gründe, gegen ihn zu demonstrieren, hält er nichtdestotrotz für ungerechtfertigt.
Der Tag, der den Studenten gehört
Die Hauptorganisatoren der Demonstration auf der Bühne sind alle jünger als 30. Und auch unten, auf dem matschigen und pfützigen Boden des Letna-Platzes, blinzeln viele junge Menschen in die Herbstsonne. Oskar Rejchrt, ein 28-Jähriger, fehlt. Der ansonsten bürgerschaftliche sehr aktive junge Mann hat aber einen guten Grund: am Sonntag beginnen die Festlichkeiten zum 30. Jahrestag der sogenannten Samtenen Revolution, die Rejchrt mit seinen Kollegen seit Monaten vorbereitet.
„Für uns feiert heute die tschechische Demokratie ihr Geburtstag, deswegen machen wir es sehr bunt und lustig,“ erklärt Rejchrt. Die Veranstaltung trägt den Titel„Danke, dass wir können“ (Diky ze muzem). Sie findet jedes Jahr hauptsächlich an der Nationalstraße (Narodni trida) im Prager Stadtzentrum statt. Es war hier, wo die Sicherheitskräfte am 17. November 1989 eine friedliche Studentendemonstration niederschlugen. Das brachte dann auch andere Teile der Bevölkerung auf die Straße, und brachte die Tschechoslowakei endgültig auf ihren Wendekurs.
Oskar Rejchrt wäre Deutscher geworden
Junge Leute wählten damals gerade den Freitag, denn er hat – ähnlich wir der 9. November in Deutschland – auch andere, viel dunklere Konnotationen. Es war in der Nacht von 16. nach 17. November 1939, als die deutschen NS-Besatzungsorgane des Protektorats Böhmen und Mähren eine Sonderaktion durchführten, in deren Folge die tschechischen Hochschulen geschlossen wurden. Tausende Studenten wurden in Konzentrationslager gebracht, andere einfach hingerichtet.
„Es ist wichtig, uns an den 17. November und die Samtene Revolution als historisches Erbe zu erinnern,“ sagt Oskar Rejchrt. Als sich die Tschechoslowakei vom Sozialismus verabschiedete, war er zwar noch gar nicht geboren, trotzdem glaubt er, dass es der wichtigste Nationalfeiertag ist. „Das prägt, wer wir heute sind und wie unser Land aussieht,“ ist er überzeugt. Wenn die Wende damals nicht passiert wäre, wäre Rejchrt heute ein Deutscher. „Meine Mutter arbeitete in Frankfurt, und sie meinte, sie wäre gar nicht zurückgekommen, wenn es sich etwas nicht bald änderte,“ sagt er.
Die Nationalstraße ist den ganzen Tag über voller Musik, Lesungen, Debatten und Ausstellungen. Die tschechische Trikolore, rot-blau-weiß, ist überall zu sehen, fast jeder träg eine kleine Bandschleife am Mantel. Auch der Anruf zur Einheit ist wieder zu hören. „Die Leute sollten hier das Gefühl der Zugehörigkeit bekommen. Wir möchten, dass die Menschen gerne hierherkommen, und sich mit Energie aufladen. Wer Geburtstag hat, sollte sich freuen, auch jene, denen es momentan nicht so gut geht, oder die Probleme haben,“ sagt Rejchrt.
Der nächste Nachbar
Drei Jahre nach der Wende von 1989 hatten sich die Regierungschefs beider Ländern gegen den Willens der Bevölkerung dafür entschieden, zwei unabhängige Staaten zu gründen: die Tschechische Republik und die Slowakei. Heute bereuen manche noch immer die Trennung, wirklich ernsthaft hinterfragt wurde sie aber nie. „Meiner Meinung nach war es damals nicht möglich gewesen, einen gemeinsamen Staat zu behalten,“ glaubt der heute sechzigjährige Vlastimil Hejl aus Landskron. Er und seiner Frau, die er in den Revolutionswochen von 1989 kennenlernte, haben zwei Söhne.
„Der ältere ist noch in der Tschechoslowakei geboren, der jüngere schon in Tschechien. Es macht keinen Unterschied,“ sagt er und lacht. „Hauptsache ist, dass wir in ein vereinigtes Europa zurückgekehrt sind, in die Europäischen Union, wir stehen uns wieder sehr nahe“, sagt Hejl.
Tatsächlich sind die Beziehungen heute sehr eng. Die meisten Menschen verstehen heute immer noch beiden Sprachen ohne Schwierigkeiten. Der Premierminister Babiš, eigentlich ein gebürtiger Slowake, verbringt die Jubiläumsfeier halb in Prag und halb in Bratislava, der Hauptstadt Slowakei. Die Protestierenden in Prag haben ihm ein Ultimatum auf die Reise mitgegeben: bis Ende des Jahres soll er seinen Interessekonflikt lösen oder zurücktreten.
Wenn Babis die Forderung nicht ernst nehme, würden sie ihre Proteste im Januar fortsetzen. „Es wird besser“, ist Vlastimil Hejl optimistisch, und zitiert auf diese Weise mit viel Ironie und Genugtuung einen von Babis‘ Wahlsprüchen.
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