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Arbeitszeit - Sind die Deutschen faul?

Cicero Klassiker: Zum zehnjährigen Jubiläum präsentieren wir Ihnen zehn großartige und zeitlose Texte aus zehn Jahren Cicero: Nirgendwo werde weniger gearbeitet als in Deutschland. Arbeit sei als Leitmotiv innerhalb einer Generation aus unserer Kultur verschwunden, verkündete Paul Nolte im April 2004 in der ersten Ausgabe des Cicero

Autoreninfo

Paul Nolte lehrt Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin. Im März erscheint „Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart“.

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Wo ist die Arbeit geblieben? Der Verlust und die Wiedergewinnung von Arbeit und Arbeitszeit stehen im Mittelpunkt der innenpolitischen Reformdebatten, aber die Lage scheint widersprüchlicher, verwirrender als je zuvor. Gerade hatten wir uns an großzügige Vorruhestandsregelungen gewöhnt, die den Arbeitsmarkt entlasten und gleichzeitig den „jungen Alten“ mehr Freizeit- und Konsumfreuden gönnen sollten – da wird die Lebensarbeitszeit wieder verlängert, das Renteneintrittsalter hochgeschraubt. Gerade bildete sich ein Konsens heraus, dass die Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 35 oder noch weniger Stunden ökonomisch ein Irrweg gewesen sein könnte – da treten namhafte Unternehmen wie Opel oder die Deutsche Telekom mit neuen Plänen der Arbeitszeitverkürzung zwecks Beschäftigungserhalt an die Öffentlichkeit. Aber arbeiten die Deutschen, mit statistisch unter 1500 Stunden jährlich, nicht ohnehin schon weniger als ihre Nachbarn in Europa und ihre ökonomischen Konkurrenten weltweit?

Arbeit als wesentlicher Aspekt der Kultur
 

Die Hilflosigkeit erinnert daran, dass Arbeit mehr ist als Ökonomie, mehr ist als betriebswirtschaftlicher Einsatz und volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Arbeit ist ein wesentlicher Aspekt der Kultur, der Mentalität einer Gesellschaft. Angesichts von über vier Millionen Erwerbslosen, von Frührentnern und „Brückentagen“ mögen Ökonomen nach dem Verlust der Arbeit in Deutschland während der vergangenen zwei oder drei Jahrzehnte fragen. Doch reicht diese Perspektive nicht aus: Denn den Deutschen ist die Arbeit nicht nur ökonomisch, sondern zusehends auch mental abhanden gekommen – in ihren Utopien und Idealen, in ihrem Alltagsleben.

Wie konnte es dazu kommen? Die klassische Industriegesellschaft begann im 19. Jahrhundert bereits mit einem Paradox. Sie sog frühere Formen marginaler Beschäftigung in Haus- und Dorfgemeinschaft auf und setzte wie kein Produktivsystem zuvor auf den (männlichen) Vollzeiterwerb, auf lange Arbeitsstunden bei hoher Produktivität und möglichst auf Vollbeschäftigung. Zugleich aber brachte sie von Anfang an die Utopie einer wenn nicht arbeitsfreien, so doch arbeitsreduzierten Gesellschaft hervor. Entfremdete Arbeit sollte beseitigt, selbstbestimmte Zeit gewonnen werden. Karl Marx’ berühmte Vision freier Tätigkeit – „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben“, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt zu werden – brachte dieses Ideal schon vor 150 Jahren einflussreich auf den Punkt. Vielleicht sind wir in unserer fragmentierten Arbeits- und Freizeitgesellschaft, auf unerwartete und unmarxsche Weise, nah an diese Vision herangerückt.

Doch die politische Strategie sah anders aus. Sie zielte schon früh auf die Norm des Achtstundentages (bei einer Sechstagewoche), weil damit auf überzeugende Weise auch ein kulturelles Ideal der Gestaltung von Lebenszeit zum Ausdruck gebracht werden konnte: ein Drittel Arbeit, ein Drittel Ruhe und Schlaf und ein Drittel freie, souveräne Zeit in der Verfügung jedes Einzelnen. Als dieser Kampf gewonnen und später der arbeitsfreie Samstag dem Wochenende zugeschlagen war, visierte die Arbeiterbewegung neue Ziele an. Hinter der 35-Stunden-Woche tauchte am Horizont die „30“, vielleicht gar die „25“ auf: Projektionen, die sich noch immer in gültigen Programmen der SPD und der Gewerkschaften finden lassen.

Das Ende der goldenen Jahre
 

Die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts sind eine Schlüsselzeit für die kulturelle Transformation von Arbeit in den westlichen Gesellschaften gewesen, und ganz besonders in der Bundesrepublik. Unglücklicherweise breitete sich das Gefühl, der Wiederaufbauanstrengung der Nachkriegszeit endlich entsagen und es etwas ruhiger angehen zu können, just in dem Moment aus, als die „Goldenen Jahre“ der Nachkriegsprosperität in Ölkrise und Stagflation mündeten.

Die beginnende Massenarbeitslosigkeit begriffen die Menschen aber nicht als Herausforderung, Wirtschaft und Gesellschaft zu reformieren, dynamischer und innovativer zu machen. Stattdessen setzte sich in einem Klima, das ohnehin von den viel zitierten „Grenzen des Wachstums“ und dem Glauben an die große Stagnation aller Verhältnisse in „Posthistoire“ bestimmt war, die Nullsummenmentalität endgültig durch: Alles war nur eine Frage der Umverteilung. Die Menge an vorhandener Arbeit schien wie schicksalhaft begrenzt und langfristig schrumpfend, also galt es, sie geschickter zu verteilen und damit die Arbeitszeit der „Arbeitsplatzbesitzer“ zu senken. Diese Theorie ging zur selben Zeit eine unheilige Allianz mit der heraufziehenden postmodernen Freizeitgesellschaft ein: Wenn ohnehin Konsum und Hedonismus, Lifestyle und Lebensglück außerhalb der Erwerbsarbeit auf der Tagesordnung standen, dann fügte es sich ja gar nicht so schlecht, wenn vermeintlich nur noch weniger Arbeit zur Verfügung stand.

Demografische und soziale Veränderungen leisteten gleichfalls einen Beitrag zur schwindenden Präsenz von Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft. Verlängerte Adoleszenz, längere Ausbildungszeiten sowie eine höhere Gymnasial- und Studierquote bewirkten einen verspäteten Eintritt der Jüngeren in den Arbeitsmarkt; nicht zuletzt hier öffnete sich eine Schere zwischen Deutschland und anderen westlichen Ländern. Der teils staatlich subventionierte Rückzug in den vorzeitigen Ruhestand – nicht nur von Arbeitern und Angestellten, sondern auch von Lehrern und Polizisten – verband sich mit der demografischen Alterung, mit dem Umbau der Bevölkerungspyramide.

Mitleid mit den Arbeitnehmern
 

So wurde das, was man früher den „tragenden“ Teil der Bevölkerung nannte, von unten wie von oben in die Zange genommen und kleingedrückt. Wiederum ist das mehr als ein statistisches Phänomen. Es ist zur Realität geworden, die unseren Alltag in elementarer Weise bestimmt. Jetzt und erst recht in Zukunft gibt es immer größere Straßenzüge, in denen morgens nur noch eine Minderheit der Bewohner zur Arbeit aufbricht. Was das bedeutet, ist in unser Bewusstsein noch nicht vorgedrungen. Wohl aber haben wir uns daran gewöhnt, an ganz normalen Werktagen Einkaufszentren oder Fernzüge voll von nicht arbeitenden Menschen zu finden, die im besten erwerbsfähigen Alter stehen.

Da kommt geradezu Mitleid mit denen auf, die dennoch arbeiten müssen. In der Tat ist nicht zufällig das Leiden an der Arbeit zu einer massenkulturellen Suggestion geworden, die einem in den populären Medien von früh bis spät entgegenschallt. Kaum ist „I don’t like Mondays“ verklungen, erinnert der Radiomoderator schon daran, dass es – die Uhr zeigt Montagmittag – „nur noch vier Tage bis zum Wochenende“ seien. Paradox: Im Laufe der Jahrzehnte ist die Erwerbsarbeit überwiegend weniger anstrengend, jedenfalls körperlich ungleich leichter erträglich geworden. Millionen schuften nicht mehr unter Tage oder am Hochofen oder in stickigen Nähmaschinenhallen, sondern im Bürostuhl, am PC, am Telefon. Sich mit der Arbeit zu identifizieren, die im vergangenen Jahrzehnt endgültig zum „Job“ geworden ist, gilt dennoch als uncool. Die protestantische Arbeitsethik hat sich verflüchtigt.

Aber stimmt die These vom Verlust der Arbeit überhaupt? Tatsächlich liegen die Dinge bei näherem Hinsehen etwas komplizierter. Manche arbeiten viel und mehr als früher. Das aus der Krise geborene Arbeitszeit-Arrangement bei Opel könnte in seiner Janusköpfigkeit nicht typischer sein: Die Beschäftigten in der Produktion verringern ihre Arbeitszeit. Verwaltung und Führungsebene reduzieren auch – ihre Freizeit, zum Beispiel durch den Verzicht auf Urlaubstage. Der Trend zu einer sozialen Spaltung der Arbeitszeit ist seit längerem unverkennbar. Arbeitszeit ist zunehmend zu einem Merkmal von sozialer Distinktion und Sozialprestige geworden. Wer viel beschäftigt ist, gilt auch viel. Das klingt trivial, weil wir uns daran inzwischen gewöhnt haben. Doch früher war es meistens umgekehrt: Die Reichen, die Herrschenden hatten Freizeit, die anderen mussten arbeiten. Das galt für den Adel ohnehin, aber auch noch für den klassischen bürgerlichen Kaufmann, der vom Kontor mittags zu seiner Familie und nachmittags in den Club ging. Heute dagegen ist marginalisierte Arbeitszeit – im Tarifvertrag, als Teilzeitarbeit, als stundenweise Beschäftigung – meist an marginale soziale Stellung gekoppelt. Der Weg zum sozialen Aufstieg führt also über mehr, nicht weniger Arbeit.

Mythos Arbeitszeitverkürzung
 

Eine zweite Komplikation betrifft die Formen der Arbeit. Neben regulärer Erwerbsarbeit existieren Haus- und Familienarbeit, ehrenamtliches soziales Engagement („Bürgerarbeit“) und schließlich auch vielfältige Formen der Schwarzarbeit. Doch haben sich zwei wesentliche Annahmen, die „Arbeitszeitverkürzer“ seit den achtziger Jahren immer wieder ins Feld führten, als falsch erwiesen. Kürzere Erwerbsarbeit sollte mehr Zeit für Familie, und vor allem für freiwillige soziale und kulturelle Tätigkeit zur Verfügung stellen. Noch ein Irrtum der simplen Umverteilungstheorie: Denn wer in der Erwerbsgesellschaft am Rande steht, zieht sich auch aus anderen Bereichen zurück; wer sich hingegen in der Erwerbsarbeit stark engagiert, der findet auch noch Zeit für Kommunalpolitik oder Schulverein – diese Faustregel ist empirisch immer wieder bestätigt worden. Kürzere Erwerbsarbeit der Männer sollte außerdem eine gerechtere Rollenverteilung im Haushalt, bei der Kindererziehung ermöglichen. Auch diese Erwartung ist weithin ins Leere gelaufen, jedenfalls außerhalb einer idealistisch gesinnten akademischen Mittelschicht. Das Nullsummenspiel des Zeitbudgets, es funktioniert nicht.

Nur eines wird damit bestätigt: Wir haben die Verdrängung der Arbeit an den Rand unserer Kultur und Gesellschaft teils widerstandslos hingenommen, teils bewusst vorangetrieben, weil wir davon ökonomische Stabilität und gesellschaftspolitischen Fortschritt erwarteten. Doch dieser Weg hat sich nicht nur im ökonomischen Sinne als eine Sackgasse erwiesen. Es reicht nicht aus, das Renteneintrittsalter um zwei Jahre oder die tarifliche Wochenarbeitszeit um zwei Stunden zu erhöhen. Es gilt vielmehr, die leichtfertig preisgegebene Mentalität einer Arbeitsgesellschaft zurückzuerobern. Die Wiedergewinnung von Arbeit muss sich zuerst in den Köpfen vollziehen, sie erfordert eine kulturelle und gesellschaftspolitische Anstrengung.

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Dieser Text stammt aus der ersten Ausgabe des Cicero vom April 2004. Wenn Sie keine Ausgabe mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abo bestellen.

 

 

 

 

 

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