- Das Gesamtkunstwerk
Ein Besuch bei der Künstlerfamilie Kummer in Chemnitz, wo am Küchentisch sämtliche Probleme der Stadt gewälzt werden
Ankommen in Chemnitz: westsächsischer Singsang in den Straßenbahnansagen. Lokalkolorit, anderswo längst abgeschafft. Hier wird die Haltestelle Hauptbahnhof nicht im international verständlichen Englisch verkündet. Zynische Zeitgenossen würden vielleicht sagen, weil sich so selten jemand von außerhalb hierher verirrt. Ich stehe vor einem alten Fabrikgebäude, sehr lofty, beinahe zu cool für die Stadt, und besuche den bildenden Künstler Jan Kummer. Er ist Mitglied des Programmrats, der das Konzept für die Chemnitzer Bewerbung zur Kulturhauptstadt entwickelt. Seine Begrüßung ist herzlich – und wie immer im breiten Sächsisch. Kummer ist hochgewachsen, trägt eine große Hornbrille: Brillengläser wie Fensterscheiben, beinahe ein leichter Erich-Honecker-Style. Was an diesem Tag fehlt, ist die sonst bei Kummer übliche Zigarette, die sich der kettenrauchende Künstler anscheinend abgewöhnt hat.
Ich werde am Küchentisch platziert und sogleich mit Kaffee versorgt. Meine mitgebrachten Kekse sind leider zerbröselt. Auch Beate Düber, Kummers Frau, sitzt mit am langen Tisch. Schließlich betritt Nina, eine der beiden Töchter, die Küche. Sie ist groß gewachsen wie ihr Vater. Vielleicht sind Küchentische perfekte Orte, um gravierende Probleme zu erörtern. Nicht umsonst sprach man im einstigen Ostblock auch gern mal von der „Küchenopposition“, wenn es um das heimliche Aufbegehren gegen das Establishment ging.
Rechtsruck in Chemnitz
Die Kummers sind gewissermaßen die Rockstars in der Chemnitzer Kulturszene: Die Söhne Felix und Till gründeten die Band Kraftklub. Jan Kummer war Mitglied der legendären DDR-Elektroband AG Geige und unterhält den Club Atomino. Beate Düber, Museumspädagogin und Darstellerin im Film „Die Mechanik oder: Wie man auf sich Acht gibt“, war an dem Projekt „Chemnitz CityResort“ beteiligt, das die Chemnitzer Innenstadtentwicklung kritisch beleuchtet hat. Die Töchter Nina und Lotta wiederum machen mit ihrer Band Blond Indiepop. Familie Kummer ist ein Gesamtkunstwerk.
Bevor wir aber über Kultur sprechen, müssen wir über das Schmuddelkind-Image, das Chemnitz seit den Ereignissen vom Stadtfest am 26. August 2018 hat, reden. „Wir sind bekannt bis nach New York“, sagt Beate Düber trocken. „Der Langzeitruf von Dresden muss natürlich erst erarbeitet werden“, fügt ihr Mann süffisant hinzu. Unser letztes Gespräch hatte Pegida zum Thema. Chemnitz, so glaubte Kummer damals, sei sicherer vor rechter Vereinnahmung. Andererseits, fügt er heute hinzu, sei die Form der Gewalt nun aber typisch für Chemnitz, eben „proletenhafter“. Kummer und seine Familie waren ganz praktisch beteiligt an der Organisation des „Wir sind mehr“-Konzerts. Ein regelrechter Energieschub sei das gewesen. „Die Stadt, die durch die Ereignisse in der Woche davor ordentlich – und nicht unverdient – auf die Birne bekommen hat, hat daraus ein Happening gemacht.“
Verengter Kulturbegriff
Gerade eine Stadt wie Chemnitz könne nun aber ihr Heil in Kunst und Kultur suchen. Und damit sind wir beim Thema: der Kulturhauptstadtbewerbung und ihrem Motto „AUFbrüche“. Chemnitz hat sie oft erlebt: als Industriezentrum, Ort der Massenabwanderung, vom Namenswechsel ganz zu schweigen. Permanente Umbrüche, die den einen oder anderen müde machen. „Leute wieder ein bisschen aufrütteln, in ihrem Denken, in ihrem Tun“, müsse man. „Ich glaube, es wird sich zurzeit so viel versammelt und diskutiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr.“ Kummer war klar, dass an der Bewerbung festzuhalten sei: „Das muss man gerade jetzt machen. Diese Kulturhauptstadtauszeichnung ist ja keine Urkunde, die man für Museen kriegt. Es geht ja gerade darum, derartige Verwundungen zu heilen oder in die Diskussion zu bringen. Und dann ist bei dieser Kulturhauptstadtgeschichte ja ohnehin der Weg das Ziel.“
Kummer findet es spannend, dass die Chemnitzer überzeugt werden müssen. „Ich könnte mir vorstellen, dass viele in Bezug auf Dresden sagen, die Stadt sei doch ohnehin eine Kulturhauptstadt.“ Es sei eben alles eine Frage des Selbstverständnisses. In Bezug auf Chemnitz läge das Problem in einem verengten Kulturbegriff, glaubt Beate Düber. „Die Leute hier haben ja auch eine Kultur. Die kann auch in der Bewerbung vorkommen. Aber das wird eben oft nicht mit dem Begriff ‚Kultur‘ versehen.“
Aufbrüche statt großer Narrative
Nina Kummer regt das Gerede von der Stadt, in der nichts los sei, auf. Auch Chemnitzer selbst pflegen dieses Image. „Das ist eben eine Form der Erzählung!“, ruft Jan Kummer aus. „Diese berühmten Narrative. Da muss man gucken, dass sich nichts verfestigt: Da hast du halt die Geschichte, dass in Chemnitz nichts los sei oder eben permanenter Bürgerkrieg herrsche.“ Ganz so schlimm steht es doch nicht um die Stadt. Weswegen es auch längst nicht alle jungen Leute anderswohin zieht: „Es ist natürlich super einfach, nach der Schule nach Berlin zu ziehen. Da ist alles fertig, du kannst dich treiben lassen. Hier in Chemnitz ist es so, dass du dir was überlegen musst“, sagt Nina Kummer.
Auftritt der Großeltern. „Oh, was ist denn hier schon wieder los?“, ruft Kummers Mutter, als sie die Küche betritt. Während sie ihre Enkelin begrüßt, Großvater Kummer schüchtern im Hintergrund bleibt und Jan Kummer telefoniert, nimmt mich Beate Düber zum Plaudern beiseite. An große Narrative ist nun nicht mehr zu denken. Dafür aber an Aufbrüche. Als Allererstes an meinen eigenen: auf, nach Hause!
Dies ist ein Artikel aus dem Sachsen-Sonderheft „Einblicke“ von Cicero und Monopol.
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