- Crème Brûlée, die Ego-Speise
Die Crème Brûlée verteidigt seit bereits mehr als 20 Jahren ihren Titel als Nachtisch der Stunde. Aber jetzt kündigt sich eine Zeitenwende an
Kein Verdikt kann so vernichtend sein wie die Bezeichnung eines kulturellen Phänomens als „Mode“. Das schmähende Etikett unterstellt, dass es sich nur um eine Laune handelt, die eine längere Aufmerksamkeit nicht verdient, weil sie ohnehin vergeht, ehe noch eine Theorie dazu entwickelt werden könnte. Dabei lassen sich gerade aus den wechselnden Moden wertvolle Erkenntnisse zur Verfassung von Epochen gewinnen. Die Speisekultur macht da keine Ausnahme.
Besonders beim Dessert, das ja immer auch eine Belohnung darstellt für den fleißigen Esser, der seinen Hunger mit salzigen Speisen bereits besiegt hat, können sich kulinarische Neuheiten prägnant entwickeln. Zum Beispiel die Mousse au chocolat: Heute spielt dieses schwere und etwas eintönige Dessert kaum noch eine Rolle und fristet im Kühlregal ein Schattendasein. Aber in den siebziger Jahren hatte jeder, der etwas auf sich hielt, ein eigenes Rezept für die Schokoladenmousse. Die mit Ei und Sahne auf Volumen gebrachte Schaumspeise symbolisiert geradezu eine Zeit, die vom Rückzug in eine üppige Häuslichkeit geprägt war. Die Grenzen des Wachstums schienen erreicht zu sein, der revolutionäre Aufbruch war in die Institutionen marschiert und hatte sich in behördlichen Planstellen verfestigt. Analog zur politischen Bewegungslosigkeit betäubte sich das Bürgertum zu orchestralen Klängen aus teuren Hi-Fi-Anlagen mit der Kalorienbombe, nach deren Verzehr man sich auf dem Schlafsofa zur Ruhe bettete.
Nach dem Regierungswechsel der achtziger Jahre änderte sich nicht nur das politische Personal, sondern vor allem die Lebenshaltung: Die Menschen legten die Angst vor dem Ungewissen ab und tanzten der Zukunft mit dem Walkman entgegen. Als adäquate Süßspeise bereitete man eine Spezialität mit reichlich aufputschendem Kaffee zu. Das Tiramisu aus der verdickten Sahne Mascarpone mit Biskuit und viel Kakaopulver ist zwar nicht minder mächtig als die französische Schokoladenspeise, macht aber mit Espresso und Kaffeelikör Lust auf eine lange Nacht. Als Hinwendung zum deutschen Sehnsuchtsland Italien begleitete sie auch den Aufstieg der Toskanafraktion.
Nach dem Mauerfall setzte wieder eine große Unsicherheit ein. Die bipolare Welt war Vergangenheit, eine neue Ordnung ließ auf sich warten. Beim Nachtisch wollte man da keine Experimente wagen. Die Crème Brûlée ist ein ganz simples Dessert, das keine Fragen aufwirft – nicht viel mehr als eine Vanillecreme, die mit einer frisch abgeflämmten Karamellschicht interessant gemacht wird. Der Kontrast zwischen dem heißen und krossen Zuckerbrand und der glatten, kalten Creme darunter macht nicht nur einen kulinarischen Reiz aus, er steht auch für ein Unterhaltungsbedürfnis, das die Berliner Republik kennzeichnet. Rückblickend klingt das Rezept wie ein gekochter Kommentar auf das Versprechen von Gerhard Schröder, er werde nicht alles anders, aber vieles besser machen als sein Vorgänger. Die zunehmende Vereinzelung der Ego-Gesellschaft findet in der Darreichungsform der Crème Brûlée ihre Entsprechung. Sie lässt sich nicht mehr in Schüsseln oder Lasagneformen zu einer Party mitbringen und dann mit Freunden teilen, sondern muss in einzelnen Portionen zubereitet und serviert werden.
Seit dem Aufkommen der Crème Brûlée sind nun bereits mehr als 20 Jahre vergangen. Warum noch kein neuer Trend an ihre Stelle getreten ist, obwohl sie inzwischen längst als Geschmacksrichtung von Joghurt und Speiseeis existiert, erscheint zunächst rätselhaft. Bisher hatten sich die Moden seit dem Krieg alle zehn Jahre gewandelt – angefangen beim Wackelpudding der Fünfziger. Gut möglich, dass die lange Regentschaft der Crème Brûlée eine Rampe für eine große Umwälzung bildet. Am Horizont zeichnet sich bereits die neue Richtung ab. In der Avantgarde von Küchen und Kochlaboratorien werden immer häufiger Elemente aus der salzigen Küche in die Confiserie transponiert. Das passt zur Banken- und Rentenkrise: Das Dessert verliert seine Sonderstellung als Abschluss des Menüs und muss demnächst auch zur Sättigung beitragen. Wer seinen Ruhestand als Dessert des Arbeitslebens angesehen hat, wird am Schicksal des Nachtischs bald erkennen, wem die Stunde geschlagen hat.
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