- Gauck lobt den Neoliberalismus zu Unrecht
Bundespräsident Joachim Gauck irrt, wenn er dem Neoliberalismus huldigt. Denn ein Zuviel an Freiheit in der Wirtschaft kann die Freiheit des Einzelnen bedrohen. Ein Kommentar
Es ist schon verwunderlich, worüber sich unser Bundespräsident wundert – dass viele Deutsche „die marktwirtschaftliche Ordnung zwar für effizient, nicht aber für gerecht“ halten. Mit der Marktwirtschaft würden sie, klagt Joachim Gauck, zwar eine „gute Güterversorgung“ und „Wohlstand“ assoziieren, aber auch „Gier“ und „Rücksichtslosigkeit“. Seine gar zu schlichte Vermutung: Allzu viele fänden den Wettbewerb, der zum Kernbestand einer Marktwirtschaft gehört, „eher unbequem“.
Schlechte Erfahrungen mit der Marktwirtschaft
Doch es ist wohl weniger die Bequemlichkeit der Bürger, es sind eher schlechte Erfahrungen mit der Marktwirtschaft, die die verbreitete Skepsis verursacht haben. Wenn Entlassungen von Beschäftigten stets mit dem Argument begründet werden, es müsse die Wettbewerbsfähigkeit gewahrt oder wiederhergestellt werden, wenn mit dem selben Argument von Arbeitnehmern Bescheidenheit bei Löhnen gefordert wird und soziale Ansprüche gekürzt werden, gleichzeitig aber Chefs ihre Einkommen exorbitant steigern – kurzum: wenn die Besitzstände vieler über Jahre geschmälert, während die Besitzstände weniger ausgeweitet werden, dann darf sich eigentlich niemand wundern, wenn Argwohn und Zweifel an der bestehenden Wirtschaftsordnung wachsen.
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Gauck hat ja Recht, dass Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft zusammengehören (auch wenn es in der Geschichte und in der Gegenwart Gegenbeispiele gibt). Es ist aller Ehren wert, wenn er sich – auch mit seinen Erfahrungen als Bürger der DDR – für eine größtmögliche Freiheit einsetzt.
Aber es gibt eben auch ein Zuviel an Freiheit in der Wirtschaft, das gefährlich werden kann. Gerade das Ereignis, das die Freiheit vieler in Deutschland und in anderen Staaten wirklich bedroht hat und immer noch bedroht, hat seine Ursache nicht an zu viel, sondern an viel zu wenig staatlichen Regelungen: die globale Finanzkrise.
Gewissenlose Finanzjongleure bereichern sich
Gaucks Amtsvorgänger Horst Köhler, ein in Theorie und Praxis erfahrener Ökonom und gewiss ein Liberaler, hat es auf den Punkt gebracht: Wir hätten, räumte er ein, die vergangenen zehn, zwanzig Jahre mit der falschen Theorie gelebt, „dass man die Märkte und besonders den Finanzmarkt am besten sich selbst überlasse, weil der freie Wettbewerb und die ökonomische Rationalität der Marktteilnehmer schon für ausreichende Transparenz und Kontrolle sorgen würde“. Dadurch wurde einer im Weltmaßstab kleinen Gruppe gewissenloser Finanzjongleure ermöglicht, sich auf Kosten ganzer Volkswirtschaften immens zu bereichern.
Die Folgen sind bekannt: Zerstörungen von Wohlstand und Zukunftschancen gigantischen Ausmaßes, wirtschaftlicher Abschwung und zusätzliche Millionenheere von Arbeitslosen, neue gewaltige staatliche Schuldenberge, unter deren Lasten noch künftige Generationen zu leiden haben. Und da greift die Diagnose von Gauck zu kurz oder gar in die Irre, dass Staaten in Abhängigkeit geraten seien, weil sie Reformen nicht rechtzeitig durchgeführt, zu viele Ansprüche bedient hätten und deshalb ihre Schulden zu groß geworden seien.
Als Apologet der großen Freiheit stützt sich Gauck auf den Ökonomen Walter Eucken, der in schwierigster Zeit während der Nazi-Herrschaft und der Mangelwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Werk eine Blaupause für die spätere Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik geschaffen hat, zusammen mit anderen Wirtschaftswissenschaftlern, die sich selbst „ordo-“ oder „neoliberal“ bezeichnet haben – damals noch kein Kampfbegriff in der politischen Auseinandersetzung. Eucken hat viel Kluges geschrieben, vieles davon, aber nicht alles, hat bis heute Bestand. Vor allem wollte er den Wettbewerb einsetzen, um wirtschaftliche Macht zu begrenzen.
Das Ziel seiner Politik der Wettbewerbsordnung war es, „den spontanen Kräften der Menschen zur Entfaltung zu verhelfen und zugleich dafür zu sorgen, dass sie sich nicht gegen das Gesamtinteresse wenden“. Nur sein Ideal der „vollständigen Konkurrenz“ bleibt eine Illusion, weil es eine Machtbalance voraussetzt, die in der Praxis nicht gegeben ist. In der Wirtschaft wie in der Gesellschaft gibt es eben Mächtigere und Schwächere – der Arbeitgeber ist seinem Angestellten überlegen, der Unternehmer in der Regel dem Konsumenten, weil die Informationen nicht gleich verteilt sind.
Das Thema Verantwortung ausgeklammert
Das Problem ist: Gauck malt das Bild von Wirtschaft und Gesellschaft mit zu groben Pinselstrichen. Es geht nicht um ein Entweder-oder – hier Lenkung durch den Staat, dort die Freiheit – sondern um ein Zusammenführen von vermeintlichen und ein differenziertes Abwägen von tatsächlichen Gegensätzen. Fragen und vor allem die Antworten sind schwieriger als Gauck suggeriert: Welche Unterschiede in den Einkommen sind einerseits unverzichtbar, um Innovation, Leistung und Wohlstand zu fördern, welche Differenzen sind andererseits für die Gesellschaft verkraftbar? Wie viele und für welche Dauer sind prekäre Arbeitsverhältnisse akzeptabel? Welche soziale Sicherheit ist notwendig? Auch soziale Sicherheit bedeutet Freiheit für die Gestaltung des eigenen Lebens. Und wann wird die Freiheit des einen zur Unfreiheit des anderen? Wie müssen diese Grenzen justiert werden?
Was aber völlig fehlte in Gaucks Rede vor den Eucken-Jüngern in Freiburg, ist das Thema Verantwortung. Ohne die Verantwortung für die Folgen des eigenen Tuns in der Gesellschaft kann es keine Freiheit geben. Zwar ist Ethik-Lehre in der Wirtschaft längst zu einem florierenden Geschäft geworden. Aber von Max Webers Verantwortungsethik ist nur bei Wenigen, bei zu Wenigen etwas zu erkennen. Der Philosoph Hans Jonas hat für sein „Prinzip Verantwortung“ den Kantschen Imperativ für die Ökologie abgewandelt: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ Es hätte doch Gauck leicht fallen müssen, einen ähnlichen Satz auch für die Marktwirtschaft, die soziale Marktwirtschaft zu formulieren.
Klar, Verantwortungsgefühl kann der Staat, der Gesetzgeber nicht dekretieren. Aber dafür ein Klima in der Wirtschaft zu bereiten, hätte der Bundespräsident seine Rede nutzen können. Diese Chance hat er leider verpasst.
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