- Bundesrepublik im Schleudergang
Deutschland braucht ein neues Wahlrecht. Das hat das Bundesverfassungsgericht entschieden. Was hat Bestand – und was muss neu geregelt werden?
In Teilen verfassungswidrig – mit diesem Stempel hat das Bundesverfassungsgericht am Mittwoch die schwarz-gelbe Wahlrechtsreform von 2011 versehen. Allerdings wurde der Kern der Reform bestätigt – die Abschaffung der seit 1957 üblichen Verbindung der Landeslisten der Parteien.
Wie sah das Wahlrecht seit 2011 aus?
Das Wahlrecht seit 2011 sieht, wie bei den ersten beiden Bundestagswahlen, ein Auszählungsverfahren vor, bei dem die Landeslisten getrennt bleiben. Stimmen werden so nicht über die Länder hinweg verrechnet. Dadurch wird das negative Stimmgewicht (siehe Kasten) vermieden. Auch die Entscheidung von Schwarz-Gelb, die Fünfprozentklausel nicht landes-, sondern weiterhin bundesweit anzuwenden, trägt das Gericht mit.
Bei drei Aspekten muss der Bundestag nun allerdings nachbessern: bei der Verteilung der Sitze auf die Länder nach Wahlbeteiligung, bei der sogenannten Reststimmenverwertung und bei den Überhangmandaten. Schwarz-Gelb will die Opposition dafür ins Boot holen. Union und FDP müssen das aber nicht. Das Wahlrecht lässt sich mit einfacher Mehrheit ändern. Die Vorstellungen der Parteien driften auseinander. Neben dem schwarz-gelben Gesetz lagen damals jeweils eigene Entwürfe von SPD, Grünen und Linken vor.
Wie kam es zur Karlsruher Entscheidung?
2008 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Bundeswahlgesetz nicht mit der Verfassung vereinbar sei, weil das negative Stimmgewicht zu paradoxen Ergebnissen führen könne. Es machte einige Vorschläge für eine Reform, darunter die von Schwarz-Gelb umgesetzte Trennung der Landeslisten. Allerdings ging die Regierungskoalition einige Schritte weiter. So sah sie vor, die Sitzkontingente den einzelnen Ländern nicht nach der Bevölkerungszahl, sondern nach der tatsächlichen Wählerzahl zuzuteilen. Dadurch sollte der Effekt vermieden werden, dass in einem Land mit geringerer Wahlbeteiligung für die Erringung eines Mandats weniger Wählerstimmen nötig sind als in einem Land mit höherer Wahlbeteiligung. Dieser Verzerrung der – gerade von Karlsruhe stets sehr hoch bewerteten – Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen sollte entgegengewirkt werden. Dadurch aber wurde eine neue Möglichkeit für das negative Stimmgewicht geschaffen.
Zudem wurde eine „Reststimmenverwertung“ eingeführt, um die Sitzverteilung im Bundestag näher an die tatsächliche Stimmverteilung der Parteien heranzuführen, als das bei der getrennten Auszählung nach Ländern möglich ist. Reststimmen sind jene, die nicht mehr für die Zuteilung eines Sitzes an eine Partei reichen. Durch die bundesweite Addition werden Zusatzmandate geschaffen, die später auf die Länder verteilt werden.
Gegen diese beiden Neuerungen wandten sich die Klagen in Karlsruhe. Zudem wollten die Kläger – SPD, Grüne und 3057 Bürger (hinter denen der Verein Mehr Demokratie stand) – erreichen, dass Überhangmandate (siehe Kasten) ausgeglichen werden müssen.
Was hat Karlsruhe konkret entschieden?
Was hat Karlsruhe konkret entschieden?
Die Zuteilung der Bundestagssitze auf die Länder nach der jeweiligen Wahlbeteiligung im Land hat das Gericht gekippt. Dadurch könne es wieder zum Phänomen des negativen Stimmgewichts kommen. Stattdessen soll der Gesetzgeber die Zuteilung entweder nach der Zahl der Wahlberechtigten oder der Bevölkerung vornehmen. Karlsruhe gewichtet somit den konkret gar nicht messbaren Effekt des negativen Stimmgewichts höher als die messbare Verzerrung der Stimmwertgleichheit.
Der Zweite Senat rügte auch die Regelung der Reststimmenverwertung, weil sie die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien verletze. Zwar gestehen die Richter der Koalition zu, es gut gemeint zu haben, indem sie ihr Ziel – mehr Erfolgswertgleichheit und eine höhere Proportionalität der Sitzverteilung – anerkennen. Da aber bei der Verwertung von Reststimmen nur die Abrundungsverluste einer Partei in den Ländern herangezogen würden und diese nicht mit den Aufrundungsgewinnen verrechnet würden, sei die Regelung nicht verfassungskonform. Grundsätzlich sind Reststimmenverwertung und Zusatzmandate aber weiterhin möglich.
Drittens hat das Gericht moniert, dass das neue Wahlgesetz „ausgleichslose“ Überhangmandate in einem Umfang zulasse, der den „Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl“ aufheben könne. Die kritische Grenze sehen die Richter bei 15 Überhangmandaten, weil dies die Hälfte der vom Bundestag vorgesehenen Mindeststärke für eine Fraktion ist. Die Zahl ist allerdings etwas willkürlich gegriffen und wird dem Bundestag auch nicht vorgeschrieben. Auch macht das Gericht keine konkreten Vorgaben, wie das Problem zu lösen sei. Es sei Sache des Bundestags, eine Grenze festzulegen und zu entscheiden, wie mit den „die gesetzliche Grenze überschreitenden Überhangmandaten zu verfahren ist“. Sollte eine derartige Regelung nicht gefunden werden, müsse der Bundestag „Alternativen zum geltenden Wahlsystem ins Auge fassen“. Damit hält Karlsruhe Überhangmandate grundsätzlich für verfassungskonform, weil sie das Ergebnis der Verbindung von Mehrheits- und Verhältniswahl sind. Zu viele davon aber darf es „ausgleichslos“ nicht geben.
Welche Lösungen könnte es bei den Überhangmandaten geben?
Überhangmandate können über Ausgleichsmandate quasi neutralisiert werden. Das ist das Ziel der SPD, auch Schwarz-Gelb sprach am Mittwoch von einer Ausgleichspflicht ab 15 Überhangmandaten. Allerdings bläht das ein Parlament unter Umständen deutlich auf – siehe Nordrhein-Westfalen, wo bei der letzten Landtagswahl zu den 181 regulären Sitzen 50 Überhang- und Ausgleichsmandate anfielen. Auch eine Verrechnung mit Listenmandaten ist möglich, das wollen die Grünen. Man kann aber auch beim Entstehen von Überhangmandaten ansetzen, etwa indem man von dem 1957 eingeführten Zweistimmensystem (Erst- und Zweitstimme) wieder abrückt und das damit verbundene Stimmensplitting unmöglich macht. Die Karlsruher Richter deuten diese Möglichkeit in ihrer Entscheidung zumindest an.
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