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(picture alliance) "Freiheit und Demokratie für Russland" forderten Demonstranten vor der russischen Botschaft in Berlin. Doch wie viel Demokratie verträgt Russland?

Demokratie in Russland - Der Westen ist nicht das Maß der Dinge

Während der Westen den Stab über Russlands gelenkte Demokratie bricht, stimmen hierzulande Parlamentarier im Eiltempo über Rettungsschirme ab, die sie nicht verstehen. Hören wir auf, unsere Maßstäbe zum Maßstab aller Dinge zu machen – und blicken auf uns, um unsere Demokratie zu retten. Ein Kommentar

„Demokratie ist das schlechteste System, das sich die Menschen ausgedacht haben – außer allen anderen.“ Dieser Ausspruch wird Winston Churchill zugeschrieben. Auf jeden Fall ist Demokratie das Zauberwort, die Eintrittskarte in die Weltgemeinschaft. Es gibt Ausnahmen, China ist so eine.

Wie viel Ehrlichkeit und wie viel Heuchelei sind im Spiel, wenn über die Qualität demokratischer Systeme diskutiert wird. Demokratie in Reinkultur gibt es nicht. Wie sollte das in bevölkerungsreichen komplexen Systemen funktionieren? Die einen fahren mit mehr direktdemokratischen Elementen recht gut, wie etwa die Schweiz, die anderen vertrauen auf die Vorzüge repräsentativer Demokratien mit möglichst wenig direktdemokratischer Beteiligung des Volkes, wie etwa Deutschland.

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Mehrheiten gilt es zu respektieren und Minderheiten zu schützen – so soll Demokratie sein. Jeder weiß, dass es oftmals die lautstarken gut organisierten Minderheiten sind, die sich durchsetzen und Mehrheiten gar nicht gehört werden. Interessengruppen machen Lobbyarbeit. Das ist ihr gutes Recht. Doch was bleibt vom Geist der Demokratie, wenn Parteien und Verbände die Marschrichtung vorgeben, in unheiliger Allianz mit Massenmedien, die eine politische Idee – aus welchen Gründen auch immer -  so lange loben oder niedermachen, bis die allgemeine Stimmungslage passt; die einzelne Personen so lange glorifizieren oder gnadenlos hinrichten, bis die Meinungsumfragen ihnen recht geben. Es ist auch müßig darüber zu spekulieren, wie viel „echtes“ Europa herausgekommen wäre, wenn die auf der Hand liegenden Geburtsfehler des Euro offen hätten diskutiert werden können, statt alle Mahner und Warner mit dem Totschlagargument Europafeinde zu sein, mundtot zu machen. Und all das hat sich in Demokratien ereignet, nicht in Diktaturen.

Ich bin nicht so naiv anzunehmen, dass alle wichtigen und heiklen Richtungsentscheidungen in der Politik eines Landes von jedem einzelnen Bürger verstanden und durchschaut werden kann. Aber von denen, die darüber abstimmen, sollte man es erwarten können. Wenn Parlamentarier nicht mal die Summe des gerade beschlossenen Rettungsschirms präsent haben und dennoch dafür stimmen, weil die Parteiführung und die Fraktion das so will, wo ist dann der Unterschied zum Politbüro?

Was ist mit Streitkultur, ohne die die Demokratie zur Farce wird? All das vor Augen maßen wir uns an, überall auf der Welt Demokratie einzufordern? Unterstützen in arabischen Ländern „die“ Opposition – wer soll das sein? – die schnell gelernt hat, dass man nur oft genug das Wort Demokratie in den Mund nehmen muss, um vom Westen Unterstützung jeder Art zu bekommen, moralisch, finanziell etc. Und brechen den Stab über das größte Land der Welt, Russland, das – historisch betrachtet - erst vor kurzem die Weichen Richtung Demokratie gestellt hat und mit seiner „gelenkten“ Demokratie einen mutigen und nicht ungefährlichen Schritt gegangen ist.

Sicher, anfangs war das Tempo höher. Die immer wieder eingelegten Pausen erscheinen manchen zu lang oder komplett unnötig. Aber „Demokratie entsteht nicht über Nacht.“ Dieser Satz wird nicht dadurch falsch, dass er von Wladimir Putin gesagt wurde, dem alten und neuen Präsidenten Russlands. Politischer Wettbewerb auf Knopfdruck? Wie soll das gehen in einem Land, in dem über Jahrzehnte der Führungsanspruch einer einzigen Partei, nämlich der Kommunistischen, in der Verfassung festgeschrieben war. Das ist die Stunde von Pragmatikern, von Realpolitikern, die sehen, was in und mit einer Gesellschaft machbar ist. Wenn man Glück hat – im Sinne von Demokratie – dann geht es diesen Pragmatikern in erster Linie um ihr Land, um das Wohlergehen der Menschen und nicht nur um ihren Machterhalt.

Ich wage eine steile These: wenn die westliche Welt Russland auf seinem Weg unter Führung von Wladmir Putin in dessen erster Amtszeit entschlossener unterstützt und den russischen Präsidenten als hoch motivierten Realpolitiker ernst genommen hätte, statt in ihm nur den KGB Mann zu sehen, dem man nichts glauben kann, dann gäbe es vermutlich keine dritte Amtszeit Putins, weil sich die russische Gesellschaft anders hätte entwickeln können. Eine Gesellschaft, die sich eingebettet fühlt und nicht umzingelt, kann sich viel freier und unbeschwerter entfalten. Wenn man Angst hat, dass der Rest der Welt nur darauf wartet, Schwächen auszunutzen, um eigene Interessen verfolgen zu können, dann hält sich demokratische Experimentierfreude in Grenzen und man geht auf Nummer sicher. Vertrauensvolle Zusammenarbeit ist keine Einbahnstraße.

„Bei allem Respekt für die parlamentarische Form der Demokratie, das Auftauchen einer parlamentarischen Demokratie auf dem Territorium der Russischen Föderation würde den Tod bedeuten für Russland als Land. Russland muss auf Jahrzehnte oder vielleicht auf Jahrhunderte hinaus eine präsidentielle Republik bleiben, um als einheitlicher Staat zu überleben.“  Das hat der damalige russische Präsident Medwedew Anfang Juli 2008, kurz nach seinem Amtsantritt, gesagt.

Das Recht auf einen eigenen Weg sollte schon sein. Ein Weg, den die Mehrheit der Menschen, die in diesem Land leben, mitgehen kann und will. Längst haben Wissenschaftler bewiesen, dass die organisatorischen Prinzipien des Westens nicht dazu angetan sind, weltweit Probleme zu lösen. Dafür genügt ein Blick nach Afghanistan oder in den Irak. Unsere Maßstäbe zum Maßstab aller Dinge auf diesem Planeten zu machen – das ist nicht nur unangemessen, sondern auch dumm. Wir könnten ebenso gut versuchen, das Wettergeschehen in den Tropen mit den Regeln erklären zu wollen, die für Mitteleuropa gelten.

Könnte es nicht sein, dass Menschen, die in verschiedenen Weltgegenden leben und aus unterschiedlichen Traditionen kommen, auch ganz verschiedene Vorstellungen davon haben, wie eine lebenswerte Gesellschaft beschaffen sein soll?  Es ist viel über Wahlfälschungen in Russland gesprochen und geschrieben worden und es hat sie gegeben. Das ist wahr. Aber genauso wahr ist, dass immer noch die Mehrheit der Russen für Putin als Präsident gestimmt hat. Das räumt sogar die kremlkritische Wählergemeinschaft „Golos“ ein. Hat der Westen das Recht, darüber die Nase zu rümpfen?

Warum gehen in westlichen Demokratien immer weniger Menschen zur Wahl? Nach dem Motto: „die da oben“ machen ja doch was sie wollen? Es hat mich zutiefst erschreckt, als in einer Diskussion mit Jugendlichen ein nachdenklicher junger Mann sich etwa folgendermaßen äußerte: am liebsten hätte ich eine Gruppe unbestechlicher weiser Menschen an der Spitze, die Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen, damit dieses parteitaktische Geplänkel endlich aufhört und nicht alles und jedes mit Konsenssoße übergossen wird, damit überhaupt etwas in Gang kommt.

Es ist Zeit zur Rettung der Demokratie. Unserer Demokratie. Die Basis dafür sind gut informierte interessierte Menschen, der sogenannt mündige Bürger, der Fragen stellt und Antworten möchte, der Verantwortung übernimmt, für sich und sein Land, der in der Lage ist, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, wenn es um richtungsweisende Weichenstellungen geht, weil sich die Welt ändert. Ist so einer überhaupt gewollt? Fakt ist: Demokratie ist nicht die bequemste Regierungsform.

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