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Maurice Weiss

Sahra Wagenknecht - Das Ende in Südtirol verbringen

Für die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht ist der Abschied eine alpine Angelegenheit. In Südtirol schmeckt die Natur nach Ewigkeit. Und dann schlägt in der allerletzten Hoffnung die große Stunde

Autoreninfo

Sarah Maria Deckert ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Sie schreibt u.a. für Cicero, Tagesspiegel und Emma.

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Ginge es mir gesundheitlich gut an meinem letzten Tag, dann würde mich mein Weg in die italienischen Alpen führen, vielleicht nach Südtirol. Ich habe es immer geliebt zu wandern, ich habe den weiten Blick genossen, wenn man auf dem Gipfel steht. Dieses wunderbare Bergmassiv in seiner stolzen Schönheit hat etwas Befreiendes, auch das Wissen darum, dass diese Schönheit im Unterschied zu unserem Leben nicht vergänglich ist. Auch wenn der Mensch sie beschädigt und Gletscher zum Schmelzen bringt – die Alpen vermitteln ein Gefühl von Ewigkeit.

Bestimmt würde ich meine letzten 24 Stunden nicht im Bundestag verbringen wollen. Ohne Politik lässt sich eine Gesellschaft nicht verändern, aber Politik ist kleinteilig und oft kleinkariert, vieles hat keine Wirkung oder allenfalls eine kurzfristige. Für die wirklich großen Veränderungen braucht man einen langen Atem.

An meinem letzten Tag würde ich deshalb lieber noch einmal einen Dreitausender bezwingen, um ein letztes Mal das traumhafte Naturgefühl zu genießen, die Geräusche, die Landschaft. Wenn man in den Alpen aufsteigt, sind unten die Wiesen, die Blumen, die Bäche und Vögel. Weiter oben wird es dann karger, dafür bekommt man einen fantastischen Blick. Sicher würde ich an diesem Tag nicht allein wandern, sondern zu zweit.

Die große Liebeslyrik als Kontrastprogramm zum kalten Nutzenmaximierer


Oft habe ich beim Wandern ein Buch im Gepäck. Ich liebe Goethes Liebesgedichte, und an meinem letzten Tag würde ich sie bestimmt noch einmal zur Hand nehmen. Sie sind eine Hommage an die Menschheit und leben von der Überzeugung, dass der armselige, rein materiell ausgerichtete Egoist, den die heutige Ökonomie kultiviert, nicht der wirkliche Mensch ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das lieben und sich für andere Menschen begeistern kann. Die große Liebeslyrik ist das Kontrastprogramm zur traurigen Reduktion des Menschen auf einen berechnenden Prozessor, der allein seinen Nutzen maximiert. Sie formuliert damit auch den Anspruch auf eine Gesellschaft, in der der Mensch dem anderen Menschen nahe sein kann, weil er die Sicherheit hat, auch ohne Einsatz seiner Ellenbogen nicht abzustürzen, weil er sich Muße und Entspannung leisten kann, ohne die soziale Beziehungen nicht leben können. Die Verbindung aus Natur und Lyrik ist das Schönste, das es für mich im Leben gibt. Sich lesend zu verabschieden – der beste Rahmen, wenn man schon gehen muss.

Ich hoffe, dass ich dann auf ein Leben zurückblicken kann, in dem ich etwas bewegt habe. Es wäre schön, mit der Zuversicht zu gehen, dass die Menschen einer Gesellschaft näher gekommen sind, die ihnen gerecht wird. Eine Gesellschaft, die die Menschen nicht mehr zu Konkurrenten herabwürdigt, die nicht ihre schlechtesten Eigenschaften – Habgier, Geiz, Selbstbezogenheit – kultiviert, sondern das, was den Menschen menschlich macht: Liebesfähigkeit, soziale Bindungen, ein Gefühl für die eigene Würde und die der anderen. Eine Gesellschaft, in der Menschen Sinn für das Schöne haben, für Literatur, für Kunst – und die Zeit dazu.

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