- Die betörende Sachlichkeit des Chronisten
Sechs Wochen vor seinem Tod reiste der große Erzähler und Essayist Gustaw Herling noch einmal in seine polnische Heimat von Jan Bürger
Kodak ergo sum: Nach der
Lesung im Café des Warschauer Verlags Czytelnik flackern die
Blitzlichter. Vor dem alten Mann, der sich sogar im Sitzen an
seinem Spazierstock festhält, hat sich eine lange Schlange
gebildet. Eigentlich ist es keine öffentliche Veranstaltung, aber
es hat sich herumgesprochen, dass er hier ist. Auf der Buchmesse
vor zwei Tagen sollen über 1000 Menschen gekommen sein, um ihn
lesen zu hören. Gustaw Herling signiert, scherzt, lässt sich mit
einer jungen Frau fotografieren. Die Zeitungen berichten über
seinen Polenbesuch auf den Titelseiten, und er genießt die Rolle
des Großschriftstellers.
Am späten Vormittag des 23. Mai ist in Warschau plötzlich der
Sommer ausgebrochen. Alle Verkehrsadern sind verstopft, die Luft
ist stickig und staubig. Eine Legende besagt, die Sowjets wollten
der polnischen Hauptstadt einst eine Untergrundbahn schenken, so
prunkvoll wie jene in Moskau. In letzter Minute hat man sich im
Kreml dann doch noch anders entschieden und den gigantischen
Kulturpalast bauen lassen: ein Empire State Building für Arme, mit
dem niemand etwas Vernünftiges anfangen konnte. Mittlerweile
konkurrieren mit «Stalins Phallus» postmoderne Bürotürme, die
zwischen den Plattenbauten hochgezogen wurden.
Wir sind mit Gustaw Herling im Gästehaus der Französischen
Botschaft verabredet: Im riesigen Garten blühen die ersten
Rhododendren. Ein Diener öffnet die Tür, begrüßt uns förmlich auf
Französisch und geleitet uns in die Empfangshalle, wo der alte Mann
schon auf uns wartet.
Auf den ersten Blick wirkt er abgespannt, in den Polstern des
großen Sofas scheint er fast zu versinken. Die dunklen Tränensäcke
reichen bis an die unteren Ränder seiner altmodischen Hornbrille.
Doch sobald er zu reden anfängt, wird sein Gesundheitszustand zur
Nebensache. Natürlich, sagt er mit einem Lächeln, sei eine solche
Reise in seinem Alter ein Risiko, aber für die Ehrendoktorwürde der
Jagiellonen-Universität habe es sich schon gelohnt, noch einmal
nach Krakau und Warschau zu kommen. Schließlich sei er der zweite
große Pole in Italien. 1919 wurde Herling in Kielce geboren, ein
Jahr vor Karol Wojtyla.
Ein Pole in Neapel
«Mich besuchte neulich ein Waffenbruder aus der Zeit des
Italienfeldzuges», notierte Herling im August 1986 in seinem
«Tagebuch bei Nacht geschrieben», das in den Warschauer
Buchhandlungen stapelweise ausliegt. «Ein halber Tag genügte ihm,
um Neapel zu besichtigen; wie sagte doch Joseph Brodsky so
treffend: Kodak ergo sum.» Seit dem Ende des Zweiten
Weltkriegs lebt Herling in der Emigration, zunächst in Rom, wo er
an der Gründung der wichtigsten polnischen Exilzeitschrift
«Kultura» beteiligt war, dann einige trostlose Jahre in London, die
mit dem Selbstmord seiner ersten Frau endeten. Es folgte ein
Zwischenspiel in München als Literaturkritiker der polnischen
Redaktion von «Radio Free Europe», bis er 1955 Lidia Croce
heiratete, die Tochter des italienischen Philosophen Benedetto
Croce, und zu ihr nach Neapel zog.
Ein halbes Jahrhundert genügte Herling nicht, um die Geheimnisse dieser Stadt zu ergründen, die für ihn die Rettung bedeutete – auch wenn es ihm anfangs schwer fiel, mit den Neapolitanern zurechtzukommen: «Es hat lange gedauert, bis ich gesellschaftlich integriert war. Besonders problematisch war für mich die Tatsache, dass viele italienische Intellektuelle den Kommunismus damals sehr wohlwollend betrachteten.» Ein Großteil seiner Erzählungen spielt in Neapel; hier sind auch die meisten Aufzeichnungen des für die Öffentlichkeit geschriebenen «Tagebuchs» entstanden, das zwischen 1971 und 1995 in der «Kultura» erschien und mit dem Herling sich souverän über traditionelle Gattungsgrenzen hinwegsetzt: eine Mischung aus politischen und ästhetischen Kommentaren, persönlichen Erinnerungen und Fiktionen.
Anderthalb Jahre Arbeitslager
In Polen gehörte er über Jahrzehnte hinweg zu den prominentesten Autoren des illegalen «zweiten Umlaufs» für Bücher und Zeitschriften. Die Ausgaben der «Kultura» wurden regelmäßig über die Grenze geschmuggelt und von Leser zu Leser weitergereicht. Herling galt als moralische Instanz, aber als radikaler Antikommunist durfte er offiziell nicht in Erscheinung treten. Wie hat sich sein Leben durch das Ende des Realsozialismus verändert? Was hat es für ihn bedeutet, auf einmal kein politischer Emigrant mehr zu sein?
«‹Welt ohne Erbarmen› hat mich sehr beeindruckt. Ihr Buch verdient es, in allen Ländern veröffentlicht und gelesen zu werden – um seiner selbst willen und all dessen, was es enthüllt.»
Albert Camus, 1956
«Du hast dich, um ehrlich zu sein, durch die Erinnerung an Gustaw Herling an das Kino von Buchenwald erinnert. Das heißt, dieser kann sich in ‹Welt ohne Erbarmen› nicht an Buchenwald erinnern, er erinnert sich an die Baracke der ‹selbstverwalteten schöpferischen Aktivitäten› des sowjetischen Lagers Jercewo.»
Jorge Semprun, 1980
«Zusammen mit Jerzy
Giedroyc, dem Herausgeber der ‹Kultura›, war ich mir immer sicher,
dass sich dieses System nicht ewig halten würde. Ich bin allerdings
auch davon ausgegangen, dass ich nach dem Ende des Kommunismus
aufhören könnte, mit politischen Äußerungen hervorzutreten. Ich
wollte mich dann nur noch auf die schriftstellerische Arbeit
konzentrieren. Das war ganz einfach eine Fehleinschätzung.
Bestimmte politische Fragen fordern mich auch nach dem
Systemwechsel heraus. Doch bei aller Kritik, trotz der vielen
Zugeständnisse an die früheren Kommunisten, die in den letzten zehn
Jahren gemacht wurden, scheint mir die Entwicklung insgesamt sehr
positiv zu sein. Zur Demokratie gibt es in Polen keine
Alternative.» Im übrigen sei der Umstand, im Exil zu leben, für ihn
eher unbedeutend gewesen; verglichen mit den achtzehn Monaten, die
er zwischen 1940 und 1942 im stalinistischen Arbeitslager Jercewo
in der Nähe von Archangelsk verbracht hat.
«A World Apart» nannte er seinen Lagerbericht, den er 1951 – viele
Jahre vor Solschenizyns «Archipel Gulag» – in London erstmals
veröffentlichte und dessen deutsche Übersetzung jetzt unter dem
etwas reißerischen Titel «Welt ohne Erbarmen» neu herausgegeben
wurde. Als Herling im März 1940 vor den Deutschen fliehen wollte,
wurde er von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD festgenommen. Der
gerade mal zwanzigjährige Polonistikstudent hatte die besetzte
Heimat wegen seiner Kontakte zum antifaschistischen Untergrund
verlassen; nun verdächtigten ihn die Sowjets, für die Nazis
spioniert zu haben.
Bildungsroman im Zeichen der Grausamkeit
«Welt ohne Erbarmen» ist ein Versuch über die allmählichen
geistigen und körperlichen Veränderungen des Menschen unter dem
Einfluss von Hunger und extremer Kälte. Zunächst wird Herling im
Untersuchungsgefängnis von Witebsk interniert. Die Gefangenen
verbringen ihre Tage damit, die Abstände zwischen den Mahlzeiten
möglichst glimpflich zu überstehen. Sie schlafen, beten, erzählen
sich ihre Träume. Bis der Stiefel des Wächters gegen die Zellentür
donnert: «Halbnackt erhoben wir uns von dem Zementfußboden – mit
diesem Klopfen war der Nachmittagsschlaf beendet. Während wir mit
den Tonschüsseln in den Händen auf den heißen, wässrigen Brei
warteten, der unser Abendbrot darstellte, nutzten wir die Zeit, um
uns von der dünnen Suppe, die unser Mittagessen gewesen war, zu
befreien.» Nach sieben Monaten teilt man dem Studenten mit, dass er
ohne Gerichtsverhandlung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren
verurteilt worden ist. Wenig später wird er ins Arbeitslager
gebracht.
Herlings Bericht gleicht einem Bildungsroman im Zeichen der
Grausamkeit. Er beschreibt seine Gefangenschaft nüchtern, ganz ohne
Pathos und verzichtet darauf, diejenigen explizit anzuklagen, die
Millionen erniedrigt und zu Tode gefoltert haben. Im Gespräch
erinnert er sich, worauf es ihm Ende der vierziger Jahre beim
Schreiben ankam: «Es ging mir weniger darum, mein Dasein als Opfer
darzustellen. Vielmehr wollte ich das wiedergeben, was wir, die wir
auf engstem Raum eingesperrt waren, über das Wesen des Menschen
erfahren haben. Als Schriftsteller bin ich im Lager zur Welt
gekommen. Nicht nur deshalb, weil das für mich persönlich eine
existenzielle Erfahrung war, sondern auch, weil mir dort bestimmte
menschliche Verhaltensweisen und Probleme wie durch ein Brennglas
bewusst wurden.»
Er wollte von Menschen erzählen, die ihm in der
sowjetischen Gefangenschaft begegnet sind – so zeichnete er die
Geschichte eines höheren Beamten auf, der verurteilt wurde, weil er
im Zuge einer Wette dem Stalinbild in seinem Büro mit einem
gekonnten Revolverschuss ein Auge entfernt hatte; oder das
Schicksal einer jungen Selbstmörderin, die über der Lektüre von
Dostojewskis «Aufzeichnungen aus einem Totenhaus» verzweifelte,
weil ihr bewusst wurde, wie sehr die sowjetischen Lager den
zaristischen ähnelten. Wenigstens in der Literatur wollte Herling
dem kollektiven Gedächtnisschwund entgegenwirken und an diejenigen
erinnern, die spurlos in Massengräbern verschwinden mussten.
Wenigstens den bescheidenen Sinn eines Erkenntnisgewinns für
nachfolgende Generationen sollten ihre Leiden haben.
Mit unerbittlicher Genauigkeit schildert Herling in «Welt ohne
Erbarmen», wie das menschliche Dasein im Gulag systematisch auf die
fundamentalen körperlichen Funktionen reduziert wird. Im Schatten
der Todesangst scheint es vor allem darauf anzukommen, den ewigen
Hunger zu bekämpfen und den Sexualtrieb zu befriedigen: «Ein
Hungernder überlegt nicht lange; er ist für einen zusätzlichen
Löffel Suppe zu jeder Arbeit bereit. Für die Norm begeisterten sich
deshalb nicht allein die Herren, die sie auferlegten, sondern auch
aus einem schlichten Lebensinstinkt heraus die Sklaven, die sie zu
erfüllen trachteten.»
Wird Onanie für
viele zur quasi-mechanischen Verrichtung, so gehören auch
Vergewaltigungen und vergleichsweise subtile Formen von sexueller
Nötigung zur Tagesordnung. Und an ihnen beteiligen sich sowohl die
Spitzen der Gefangenenhierarchie als auch die Lagerleitung. Auf
Dauer habe sich dabei erwiesen, dass Frauen unter «physischem und
sexuellem Hunger» noch schwerer leiden als Männer: «Die primitive
Lagermoral gebot es, dass ein Mann, der die Macht hatte, den
Widerstand einer Frau dadurch zu brechen, dass er ihr das Essen
entzog, ihre beiden elementaren Bedürfnisse befriedigte, wenn sie
dann schließlich nachgab. Ich erwähne das ohne jeglichen
Zynismus.»
Im Juli 1941 wird eine allgemeine Amnestie für polnische Gefangene
erlassen. Aus unerfindlichen Gründen bleibt Herlings Lage
allerdings auch weiterhin unverändert. Nach Monaten des Wartens
tritt er in den Hungerstreik. Die Lagerleitung zeigt sich davon
unbeeindruckt, klagt ihn lediglich an, die Arbeit zu verweigern,
und sperrt ihn in eine winzige Gefängniszelle. Als er alle Hoffnung
auf Rettung schon aufgegeben hat, wird er im Januar 1942 doch noch
freigelassen. Er schließt sich der polnischen Armee an und gelangt
mit ihr nach Italien, wo er an der Schlacht am Monte Cassino gegen
die Deutschen teilnimmt.
Die Frage nach Kafkas Religiosität
Was der junge Herling in anderthalb Jahren erleben musste, lässt
die schwärzesten Phantasien der Geistesgeschichte verblassen.
Dantes Inferno wirkt heute so bedrohlich wie ein Computerspiel, die
Offenbarung des Johannes wie ein Katastrophenfilm. In seinem
nächtlichen Tagebuch greift Herling immer wieder auf Kafkas
Parabeln zurück; vielleicht taugen sie noch für zeitgemäße Aussagen
über Gott und die Welt: «Wenn ein Schriftsteller die Situation des
Menschen in der Welt so radikal und schonungslos bloßlegt, was
bleibt
ihm dann noch? Wir betreten hier das schwankende, nebulöse Terrain
der Spekulationen über Kafkas Religiosität. Möglicherweise
existiert eine Religiosität durch Reduktion bis zum Nichts; eine
Religiosität als Form verborgener, aber stets lebendiger Sehnsucht
nach etwas außerhalb des Nichts oder über dem Nichts.»
Mit seinen poetischen Werken verweigert sich Herling der
landläufigen Tendenz, auf die politischen Katastrophen des 20.
Jahrhunderts mit einer Auflösung der festen künstlerischen Formen
zu reagieren. Sein Stil besticht weniger durch Originalität als
durch schlichte Präzision – man könnte auch Eleganz sagen, wäre das
Wort nicht so abgenutzt. Herlings betörende Sachlichkeit zielt auf
Verunsicherung. Mit den Mitteln der Vernunft dringt er bis an die
Grenzen des Sagbaren vor: Die sogenannte Wahrheit ist immer nur
eine Illusion, und die Übergänge zwischen Dokumentation und Fiktion
sind fließend. Seine namenlosen Erzähler könnten fast alle Gustaw
heißen, und doch sind sie Spielfiguren, mit denen das Authentische
jederzeit ins Phantastische überführt werden kann. Herlings Prosa
ist hochreflektiert wie jene Antonio Tabucchis oder Italo Calvinos,
und zugleich wendet er sich geradezu störrisch gegen die
Selbstbezogenheit und den Relativismus der Postmoderne.
Keine Demarkationslinie zwischen Leben und Tod
Die Erzählung «Der Friedhof des Südens» kreist um ein Zitat von
Vladimir Nabokov, das als Motto über Herlings Gesamtwerk stehen
könnte: «Ich weiß über Gott mehr, als ich in Worte fassen kann, und
das wenige, was ich auszudrücken vermag, hätte ich niemals
aussprechen können, wenn ich nicht mehr wüsste.» Kunst, die
ethische und metaphysische Aspekte ausklammert, hält er im Grunde
für überflüssig: «Für viele wird Literatur heute immer mehr zu
einem bloßen Spiel mit ungewöhnlichen Formen ohne
Verantwortungsbewusstsein. Dass sich die Literaturkritik – vor
allem im Westen – so sehr auf die rein ästhetischen Fragen
konzentriert, ist ein Problem, das nicht unterschätzt werden
sollte. Manchmal habe ich den Eindruck, ich bin einer der Letzten,
die für eine Kultur des gesellschaftlichen Interesses kämpfen.
Deshalb ist mir auch Günter Grass sympathisch, bei allen
Meinungsunterschieden, weil für ihn Literatur und Engagement noch
zusammengehören.» Nach und nach haben sich für Herling alle
Versuche, die Lagererfahrung zu verdrängen, als sinnlos erwiesen.
Im Mittelpunkt seines Denkens steht die Frage nach den
Erscheinungsformen menschlicher Gewalt. Eine Demarkationslinie
zwischen Leben und Tod, zwischen Gut und Böse gebe es nicht, hat er
einmal geschrieben, hier herrsche das Gesetz der Osmose. Aber was
bedeutet das?
In der autobiographisch gefärbten Novelle «Das venezianische
Porträt» erzählt Herling von einem polnischen Soldaten, der im
Frühjahr 1946 einige Aufträge in Venedig ausführen muss. Die Reise
wird für ihn zur rauschhaften Begegnung mit der italienischen
Baukunst und Malerei. Die verarmte Contessa, bei der er
einquartiert wird, ist nicht nur außerordentlich attraktiv und eine
hervorragende Restauratorin alter Gemälde – seit ihr einziger Sohn
aus dem Krieg nicht zurückgekehrt ist, gilt sie auch als verrückt.
Schon nach zwei Tagen hat der Ich-Erzähler seine Geschäfte
erledigt, doch er beschließt, so lange wie möglich in Venedig zu
bleiben. Die Schönheit der Stadt ist für ihn überwältigend, und
allmählich wird ihm klar, dass er sich in seine geheimnisvolle
Wirtin verliebt hat. Eines Tages entdeckt er in ihrem Atelier ein
Portrait ihres Sohnes in Gestalt eines Cherub, das den Gemälden des
Renaissancemalers Lorenzo Lotto verblüffend ähnlich sieht. Als der
Vermisste schließlich doch wieder auftaucht, hat sich sein
engelhaftes Antlitz allerdings in eine furchterregende Fratze
verwandelt.
Kurz nachdem der Erzähler Venedig verlassen hat, erfährt er aus der
Zeitung, dass der Spätheimkehrer einer berüchtigten faschistischen
Terroreinheit angehörte und vor dem Haus seiner Mutter auf offener
Straße erschossen wurde. Neun Jahre später wird im Dogenpalast eine
große Lorenzo-Lotto-Ausstellung eröffnet. Besonderes Aufsehen
erregt ein wiederentdecktes Doppelportrait des venezianischen
Meisters: Es zeigt den Sohn der Contessa nach seiner Rückkehr, doch
die liebende Mutter hat die grausamen Züge aus seinem Gesicht
entfernt. Das Gemälde ist so überzeugend, dass die geniale
Betrügerin erst 1975 überführt wird: «Der Contessa ist es in ihrer
Fälschung gelungen, zwei edle, unbeugsame, faszinierend schöne
Gesichter des Bösen zu malen.»
Kodak ergo sum: Herling wurde nicht müde, das Zeitalter
der technischen Reproduzierbarkeit und technokratischen Vernichtung
in Frage zu stellen. Gegen Ende unseres Gesprächs in der
Französischen Botschaft zitiert er einen Satz, den seine Kollegin
Hanna Krall über ihn gesagt haben soll: «Herling ist der letzte
große polnische Schriftsteller des 19. Jahrhunderts.» Plötzlich
hebt er seinen Spazierstock wie einen riesigen Zeigefinger in die
Luft. «Einerseits ist diese Aussage Unsinn, weil ich mich mit
heutigen Problemen beschäftige und gegenwärtige Prozesse
beschreibe. Andererseits verstehe ich sie aber auch als ein
Kompliment. Denn sie weist darauf hin, dass ich ein bestimmtes
Ethos des Schriftstellers aufrecht erhalte, das nicht nur in Polen
immer mehr verschwindet.»
Herlings Werk wurzelt in den fürchterlichsten Verfehlungen des
Jahrhunderts. Am 4. Juli 2000 ist er in Neapel an den Folgen eines
Schlaganfalls gestorben.
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