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Küchenkabinett - Eis für Oldies

Kindliche Rituale halten jung: Neue Geschmackssorten wie Chilimango oder Grüntee-Kokos richten sich an ältere Konsumenten  

Autoreninfo

Julius Grützke ist Autor und Gastronomiekritiker. Er lebt in Berlin

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Der Klimawandel kennt nicht nur Verlierer. Es ist eine Binsenweisheit, dass manch einer auch Vorteile aus einem Temperaturanstieg ziehen könnte. Zum Beispiel die Eishersteller profitieren durchaus von langen, heißen Sommern. Selbst wer den Ergebnissen der Klimaforschung und ihren Voraussagen mit Skepsis begegnet, wird konzedieren müssen, dass sich das Angebot an Verkaufsstellen und Eisdielen erheblich verbreitert hat – auch in traditionell sonnenarmen norddeutschen Gefilden. Das hat erfreuliche Konsequenzen. Die schärfere Konkurrenz unter den Gelatiers hat bereits die Zahl der angebotenen Geschmacksrichtungen beträchtlich erhöht. Wo früher der Grundakkord von Fürst Pückler aus Vanille, Schokolade und Erdbeere die Musik machte, spielt man heute auf einer Klaviatur von Aromen und Kombinationen. Täglich kommen neue Kreationen wie Salzkaramell, Chilimango oder Erdbeer-Balsamico dazu.
 
Doch allein aus einem Umschwung des Wetters oder seiner Erwartung lässt sich die neue Vielfalt nicht erklären. Speiseeis ist nicht umsonst bislang zuvörderst eine Leckerei für Kinder gewesen, die sich an den überdeutlichen Aromen erfreuen und die Überwindung des thermischen Gefälles im eigenen Mund als spielerische Erfahrung erleben. Erwachsene hingegen sahen bislang eher die Nachteile dieser schnell schmelzenden und kleckernden Süßigkeit und versagten sich einen Genuss, den man sich höchstens als Kindheitserinnerung erlaubte. Aber das hat sich gründlich geändert. Die neue Variationsbreite des Angebots richtet sich deutlich an ältere Konsumenten. Dass ein Knirps seine Eltern um Geld für ein Grüntee-Kokos-Eis anbettelt, erscheint unwahrscheinlich. Tatsächlich ist es vielmehr die Generation der Väter und Mütter, wenn nicht sogar der Großeltern, die solche Innovationen begeistert aufnimmt. Das Alter scheint kein Hinderungsgrund mehr zu sein, Jugendliches zu genießen – diese Entwicklung ist ein Zeichen eines größeren gesellschaftlichen Trends. Während das deutsche Volk rapide altert und Sorgen um seine Zukunftsfähigkeit weckt, gerieren sich seine angejahrten Bürger immer jugendlicher und verwandeln den Herbst ihres Lebens in einen ständigen Sommer, in dem das Speiseeis nicht nur kulinarische Kühlung verspricht, sondern auch quasi als Jungbrunnen zum Schlecken der Vergreisung Einhalt gebieten soll. 
 
Auch die feine Küche folgt diesem Trend und entwickelt einen Hang zum Gefrorenen, das nicht mehr bloß zur Betäubung und Reinigung dient wie das saure Sorbet, das in der traditionellen Haute Cuisine vor dem Fleischgang gereicht wurde. Das Eis wird heutzutage vielmehr zum Bestandteil der Kompositionen auf dem Teller und ergänzt das Spiel der Texturen durch das der Temperatur. Ein gefrorenes Parfait von der Stopfleber kontrastiert dann etwa mit einer Crème Brûlée aus dem gleichen Stoff und einem „Espuma“, einer Schaumgeburt aus der Innerei. Natürlich verdankt sich dieser Variantenreichtum ganz maßgeblich den technischen Möglichkeiten des neuzeitlichen Küchenequipments, im Fall des Eises vor allem der Frostfräse Pacojet, mit der selbst aus den herzhaftesten Zutaten eine eisige Version zubereitet werden kann. So kommt es zu Kreationen wie Wasabisorbet, Wildkräutercassata oder halbgefrorener Sauce Hollandaise, die den Zahnschmelz auf die Probe stellen und den mit dem Dessert beschäftigten Patissiers Konkurrenz machen.
 
Die Verbreitung des Gefrorenen in alle Essensbereiche emanzipiert es auch von der Sommerhitze. Das Eis wird als ein Aggregatzustand im kulinarischen Kanon wahrgenommen, für den die Außentemperaturen keine Rolle spielen. Damit ähnelt diese neue Eiszeit auf dem Teller dem Diskurs um die globale Erwärmung – auch dort verliert die Wetterlage an Aussagekraft: Selbst ein verhagelter Sommer vermag es nicht, die Klimaprognosen abzukühlen. Sie werden nur noch hitziger. Vielleicht wird auch deshalb mehr Eis gegessen.

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