- „Diese Freiheit wird nie wieder zurückkehren“
In den 80er-Jahren stand Karl-Marx-Stadt für eine experimentelle Subkultur. Wo andere DDR-Städte mit Akademien aufwarten konnten, blühten hier Avantgarde und Underground. Einer der wichtigsten Protagonisten war damals der Künstler Carsten Nicolai. Chemnitz Capital traf den heute 58-Jährigen zu einem Gespräch über industrielle Wurzeln und kreative Anfänge.
Carsten Nicolai wurde 1965 in Karl-Marx-Stadt geboren und lebt heute als Künstler und Musiker in Berlin. Er studierte von 1985 bis 1990 Landschaftsarchitektur in Dresden und war 1992 Mitbegründer des Kulturzentrums Voxxx in Chemnitz. Seit 2015 ist er Professor für Kunst mit dem Schwerpunkt auf digitalen und zeitbasierten Medien an der Hochschule für Bildende Künste Dresden.
Herr Nicolai, schon als Jugendlicher haben Sie Anfang der 80er-Jahre in der Kreuzkirche und in der Galerie Herrmannstraße im damaligen Karl-Marx-Stadt ausgestellt. Wie sind Sie so jung mit der Kunstszene in Berührung gekommen?
Carsten Nicolai: Über die Malerin Gitte Hähner-Springmühl. Ich hatte bei ihr Unterricht in klassischer Konzertgitarre. Sie merkte, dass mein Interesse nachließ, und ich erzählte, dass ich angefangen hatte, zu zeichnen und bildnerisch zu arbeiten. Sie hat mich in diese Szene gebracht. Was ich damals nicht wusste: Sie war und ist bildende Künstlerin und extrem gut in der Stadt vernetzt. Sie hatte eine eigene Free-Jazz-Band und eine Künstlergruppe. Sie war kurz mit Klaus Hähner-Springmühl verheiratet, mit dem ich später eng befreundet war. Karl-Marx-Stadt hatte damals rund 320.000 Einwohner, über 80.000 mehr als heute. Die Stadt war voller junger Menschen. Trotzdem haben sich alle, die in irgendeiner Form kreativ gearbeitet haben, gekannt. Das war ein sehr eng verwobener Organismus.
Wie prägend war die Tatsache, dass Karl-Marx-Stadt bzw. Chemnitz bis heute anders als Dresden und Leipzig keine eigene Kunst- und Musikhochschule hat?
Das war sehr wichtig! Weil in Karl-Marx-Stadt keine akademischen Aussagen zu Stil und Funktion von Kunst propagiert wurden, gab es mehr Freiräume. Der Verband Bildender Künstler hat viele Autodidakten aufgenommen. Das lag quer zur offiziellen Kulturpolitik und zum ästhetischen Kanon. Und die Szene war stark von einzelnen Biografien geprägt. Es gab in der bildenden Kunst einen festen Kern. Dazu zählte die Gruppe „Clara Mosch“ mit Carlfriedrich Claus, Thomas Ranft, Dagmar Ranft-Schinke, Michael Morgner und Gregor-Torsten Kozik, die eine selbst verwaltete Produzentengalerie hatten.
Und dann gab es die Genossenschaftsgalerie Galerie Oben, eine auch finanziell autonome Einrichtung der Genossenschaft bildender Künstler. Das war quasi mein Kinderzimmer. Wir waren oft bei den sogenannten Mittwochsveranstaltungen. Da gab es Künstlergespräche, Vorträge, kleine Konzerte und Theateraufführungen. Wir waren die nächste Generation. Wir hörten keinen Free Jazz mehr, sondern elektronische Musik und Industrial.
Wo waren Ihre Orte?
Kleinere Gruppen haben sich im „Klub der Intelligenz Pablo Neruda“ in der Stadthalle getroffen oder in der „KKB“, in „Künstlers kleiner Bar“. Es gab das Studiokino in Siegmar, die Galerie Herrmannstraße und kleine Clubs. Auch im Theaterfoyer fanden Ausstellungen statt. Musik, Ausstellungen, Tanzen, Theater, das war alles eng vermischt. Später gab es noch den Künstlerclub „Marta“. Heute würde man das als Szene-Treffpunkt bezeichnen. Für DDR-Verhältnisse war der unglaublich avantgardistisch: Die Künstler haben den Club selbst betrieben. Da konnte man nur mit einem Ausweis rein. Der wurde im Siebdruckverfahren hergestellt und war einfach zu fälschen. Irgendwann hatte ich auch so einen Ausweis. Das war genial.
Sie haben von 1985 bis 1990 Landschaftsarchitektur in Dresden studiert. Haben Sie je überlegt, Kunst zu studieren?
Akademien waren damals nicht die Orte, wo man hin wollte oder konnte. Ich habe mich gar nicht erst an einer beworben. Die Situationen, die wir uns selbst geschaffen haben, waren viel spannender. Die Galerieszene mit Wohnungsausstellungen in Dresden, Berlin und Leipzig. Dann gab es wichtige Künstler wie Thomas Florschuetz oder Wolfram Adalbert Scheffler, die Karl-Marx-Stadt in den 80er-Jahren gen Westen verlassen hatten. Wir blieben da und haben unsere eigenen Sachen gegründet, die zum Teil auch erst nach der Wende sichtbar wurden. Für mich sind die frühen 90er-Jahre heute auch viel wichtiger als die 80er.
Inwiefern?
Mir war damals absolut bewusst, dass diese Nachwendezeit ganz wichtig für den Ort ist. Ich wollte nicht so schnell weg. Ich ahnte, dass das eine Art von Freiheit ist, die nie wieder zurückkehren würde! Als wir ab 1990 Räume mieten konnten, haben wir angefangen, unsere eigenen Dinge zu machen. Ich habe mit Freunden die Produzentengalerie Oscar gegründet. 1992 haben wir uns mit Freunden, die ein alternatives Kino betrieben haben, zusammengeschlossen und auf einem alten Brauereigelände auf dem Kaßberg das Kunst- und Kulturzentrum VOXXX eröffnet. Da wurde es zum ersten Mal so, wie wir uns das immer gewünscht hatten: Es war öffentlich! Es war groß! Es strahlte weit über Karl-Marx-Stadt hinaus!
Wie sah das Programm aus?
Da verschmolz alles: Wir haben internationale Künstler ausgestellt, Konzerte gemacht, DJs eingeladen, es gab Ballettabende und experimentelles Theater. Michael Thalheimer hat dort sein erstes Stück gezeigt. Es gab Biergarten und Freilichtkino. Da kamen Menschen aus Gera, Weimar und dem Erzgebirge. Wir haben das von jemandem gemietet, der es gar nicht besessen hat. Aber das haben wir erst später erfahren. Ohne dieses Vakuum der Wendezeit hätten wir das nicht machen können. So ist ja auch Berlin entstanden. Der kreative Aufbruch in Deutschland wäre ohne die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten nicht denkbar. Da wären alle immer noch in Köln oder in Düsseldorf.
Warum gibt es das Voxxx nicht mehr?
Da gab es politische und auch immobilienwirtschaftliche Interessen, uns aus dem Viertel zu verdrängen. Viele dachten, das sei das Filetstück des Jugendstilviertels vom Kaßberg. Das hat sich nicht bewahrheitet. In einem Gebäude sind heute Eigentumswohnungen. In einem anderen war mein Atelier, mit vielen Wandmalereien. Das ist dann kurz danach abgebrannt. Heute erkennt man in einem der eingestürzten Gebäude an der Decke noch eine Arbeit von Olaf Nicolai. Wir haben das 13 Jahre lang gemacht. Ich war dann natürlich schon viel unterwegs, aber ich habe das emotional mitgetragen. Ich bin nach wie vor extrem sauer, dass die Stadt diese Chance hat ziehen lassen. Auch viele andere Projekte, die ähnlich wie wir gestartet waren, existieren heute nicht mehr.
Chemnitz würde heute anders aussehen, wenn es diese Orte noch geben würde. Aus dem Voxxx hervorgegangen ist zumindest der Verein „Weltecho“.
Es gab kurz den Konsens, dass das alles erhalten werden sollte, und dann kippte es. Ich habe eine künstlerische Arbeit zum Voxxx gemacht. Die heißt: „Input und Output“. Das ist eine Liste von allen Künstlern, Musikern und Schauspielern, die im Voxxx agiert und ausgestellt haben. Es gibt auch ein futuristisches Architekturmodell, wie das Voxxx einmal hätte aussehen können. Wahrscheinlich ist das inzwischen vermodert. Jetzt gibt es den Wirkbau, der von den Besitzern des Leipziger Spinnereigeländes betrieben wird. Das ist aber zu spät, viel zu spät. Wir sind irgendwann alle nach Berlin gegangen. Nicht umsonst hat die Chemnitzer Band Kraftklub den berühmten Song „Wir gehen nicht nach Berlin!“ geschrieben.
Wie oft sind Sie heute noch in Chemnitz?
Sehr selten. Die letzten emotionalen Verbindungen sind mit dem Tod meines Vaters weggefallen. Ich habe mein Lager aufgelöst, ein paar Reste stehen noch in Chemnitz. Aber meine Geschichte bleibt. Viele Leute, die ich aus der Zeit kenne, sind immer noch sehr enge Freunde. Und ich treffe ständig Chemnitzer auf Reisen, ob im Dschungel in Kambodscha, in Japan oder in der Wüste in den USA. Die Sachsen sind ja für ihre Reiselust bekannt.
Fühlen Sie sich heute als Ostdeutscher?
Nein! Ich habe mich noch nie als Ostdeutscher gefühlt. Auch nicht zu DDR-Zeiten. Ich habe mich immer als Europäer gefühlt. Wenn wir Lust hatten, wegzufahren, sind wir nach Prag gefahren. Das war näher als Berlin. Osteuropäische Kultur hatte einen extremen Einfluss auf uns.
Wie blicken Sie jetzt auf die Kulturhauptstadt?
Chemnitz hatte es schon immer schwer, zwischen Leipzig, Dresden und Weimar als Kulturort wahrgenommen zu werden. Ich habe mich total gefreut, dass die Stadt sich mit einem sehr ehrlichen Konzept durchgesetzt hat, das auf den Spannungen vor Ort aufbaut. Viele Menschen, die am sogenannten Bid Book mitgeschrieben haben, kenne ich noch.
Sind Sie in irgendeiner Form involviert?
Nein. Ich bin auch nicht gefragt worden. In der Bewerbung waren wir Nicolais noch mehrfach erwähnt. Meine große Angst ist, dass es wieder einen Kulturimport gibt, statt dass es wirklich um die Region geht. Dieser Kulturraum hat mir etwas gegeben. Ich möchte gern etwas zurückgeben. Das war für mich der Grund, an der Kunsthochschule in Dresden eine Professur anzunehmen. Ich fahre mit meinen Studenten jedes Jahr ins Erzgebirge. In Sachsen gibt es nicht nur Kunst und Kultur, sondern auch Technologiegeschichte. In Markneukirchen steht das drittgrößte Musikinstrumentenmuseum der Welt. Da gibt es viele Superlative! Vielleicht hilft die Kulturhauptstadt, diese bekannter zu machen
Dies ist ein Artikel aus dem Sonderheft „Chemnitz Capital“ von Cicero und Monopol.
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