- „Männer gehören heutzutage öfter geohrfeigt“
Wim Wenders ist einer der wichtigsten deutschen Autorenfilmer. Anlässlich seines 75. Geburtstags veröffentlichen wir ein Interview, das er dem „Cicero“ 2015 gegeben hat. Ein Gespräch über Krisen, Männer und die Freiheit im Alter.
Geht Wim Wenders eigentlich noch ins Kino?
Oh ja. Aber als Mitglied der Europäischen Filmakademie, der amerikanischen Academy, der deutschen, französischen und der englischen Institution bekomme ich jedes Jahr jeweils zwischen 50 und 100 Filmen zugeschickt. Und das will alles gesichtet werden! Deswegen habe ich oft das Kino zuhause. Nicht auf einem Monitor, sondern immerhin auf einer ordentlichen Leinwand. Ich gehe aber auch in meinem Berliner Kiez in die Kinos. Ich sitze durchaus lieber zwischen Leuten als alleine zuhause.
Was war denn der letzte deutsche Film, den Sie im Kino gesehen haben?
Im Kino …deutscher Film …mmh (lange Pause). „Stromberg“, glaube ich. Ist auch schon eine Weile her... „Die Geliebten Schwestern“ auch. Was ist denn zuletzt rausgekommen?
Vermutlich war es eine Komödie. Warum werden die deutschen Kinos eigentlich gerade so inflationär mit Schweiger- und Schweighöfer-Klamauk geflutet? Was ist los mit dem deutschen Kino?
Das muss man gar nicht so negativ sehen. Das ist überall so. In Frankreich oder den USA gibt es auch diese Komödien, die riesig Kasse machen. Eigentlich ist die Tatsache, dass es die Komödie wieder gibt, ein gutes Zeichen für eine funktionierende Industrie. Ich gehe auch manchmal ruchlos einfach nur auf Verdacht in Sachen, weil es um die Ecke läuft. Aber ich habe dabei auch etwas gelernt. Von meiner Frau.
Nämlich?
Ich hab gelernt, Filme nicht unbedingt zu Ende zu gucken...
Sie gehen dann raus.
Früher war das undenkbar. Selbst bei dem größten Scheiß bin ich sitzengeblieben. Ich dachte immer, im Kino muss man bis zum Schlusstitel sitzen bleiben! Ich habe mich früher sogar beim Filmvorführer beschwert, wenn vor den Schlusstiteln abgeblendet wurde. Aber dank meiner Frau weiß ich jetzt, dass man flüchten darf, wenn man merkt, es wird einem die Zeit gestohlen.
Bei welchem Film haben Sie das letzte Mal mit den Füßen abgestimmt?
Ach, das passiert sehr häufig. Ich gehe vor allem aus Filmen raus, bei denen ich nach zehn Minuten weiß, wie der Hase läuft. Dann langweile ich mich. Und ich mag es auch nicht, wenn zu viel rumgeballert wird. Irgendwie habe ich es nicht mehr mit den Filmen, in denen dauernd gestorben wird, ohne dass es um den Tod geht.
Sie sagten einmal, dass heutiges Kino die alte Filmsprache regelrecht in Grund und Boden stampfe. Vieles würde heute so geschnitten, dass ein Cutter und gar ein Publikum aus der klassischen Zeit des Kinos schreiend den Saal verlassen würden.
Die Filmsprache hat sich gewandelt. Bis in die 70er waren Filme absolut stilbildend und standen an vorderster Front, was Geschmack und Bildersprache anging. Dann wurde es allmählich die Werbung, dann über MTV immer mehr das Fernsehen und jetzt schließlich die Internet-Plattformen. Heute ist es oft so, dass sich die Filmsprache bemüht, alle diese neuen Sprachen zu imitieren. Kino wird dann oft zum YouTube-Kanal, damit die, die sich da auskennen, das Gefühl haben: heh, das spricht mich an! Die heutige Filmsprache ist nicht mehr Hochkultur, sondern bemüht sich nach Kräften, die anderen Kulturen abzukupfern, oder davon zu lernen, oder sich eben verhunzen zu lassen.
Für Sie war ja in frühen Jahren eher die Malerei stilbildend. Dann die Musik. Sie haben bei einer Pfandleihe Ihr Saxophon gegen Ihre erste Filmkamera getauscht – die eine Kunst quasi gegen eine andere getauscht…
Tja, so war das. Mir war irgendwann klar, dass ich nur eines machen konnte. Ich wusste, wenn ich das Filmemachen ernsthaft in Angriff nehmen wollte, mussten die Musik und die Malerei auf der Strecke bleiben. Also musste das schöne silberne Tenor-Saxophon dran glauben. Und dann wurde die Filmerei erst mal so teuer, dass sie alles aufgefressen hat, was ich hatte. Aber wieder später ist das Filmemachen dann Gott sei dank so vielschichtig geworden, dass sich die anderen Wünsche, nach der Malerei, dem Schreiben oder dem Musikmachen, dort wiederfinden konnten.
Ihren aktuellen Film „Every Thing Will Be Fine“ haben Sie in 3D gedreht. Ziemlich ungewöhnlich für einen ruhigen Erzählfilm. 3D kennt man eher aus dem Action oder Animation Genre.
So war das aber vor 20 Jahren mit dem digitalen Bild auch. Die digitale Technik kam im Filmbereich zunächst nur bei Spezialeffekten zum Einsatz. Was lange Zeit aussah, als könne man damit nur Actionkino bedienen, verhalf aber dann dem Dokumentarfilm zur Wiederauferstehung. Ich dachte, so was passiert auch mit 3D. Gut, auch diese Technik ist erst einmal mit dem falschen Fuß aufgestanden, und wurde auf Effekte reduziert, aber irgendwann wird sie dann als Sprache entdeckt und wahrgenommen, eben als eine Erweiterung des Filmemachens. Entweder habe ich mich da komplett getäuscht oder es ist einfach noch nicht die Zeit dafür. Als wir begannen „Every Thing Will Be Fine“ in 3D zu denken, war ich mir sicher, dass es bereits 20 andere Filme gibt, die sich auf diesem Gelände ausgetobt haben, wenn unser Film herauskommt. Aber die gibt es nicht, weder in Deutschland noch anderswo. 3D hängt nach wie vor im Actiongenre fest. Das ist wie eine Art Todsünde.
Verstehe ich Sie richtig? Sie machen 3D, ohne 3D machen zu wollen, ohne Effekte. Klingt wie die Frau, die sich die Brüste operieren lässt und auf ein natürliches Ergebnis hofft.
Das denken Sie nur, weil Sie von einer falschen Voraussetzung ausgehen. Wer sagt denn, dass 3D effekthascherisch sein muss? Ich rede von einem dreidimensionalen Sehen, das idealerweise wie zwei Augen funktioniert. Und das sind zwei fantastische Instrumente des räumlichen Sehens, mit denen die meisten von uns im Leben super zurechtkommen. Nur von diesem natürlichen Sehen gehen wir aus, von dem echten Busen, nicht von dem operierten. Das Verfahren heißt „Natural Depth”, das haben wir bereits bei PINA angewandt. Es hat als Maxime, dass man möglichst schnell vergessen soll, dass man 3D guckt, bzw. dass das eben nicht etwas Grundsätzlich anderes ist als unser natürliches Sehen. 3D hat aber tatsächlich die eingebaute Gefahr, dass man tatsächlich immer auch aufs andere Ufer springen kann und beginnt, vom Effekt her zu denken. So hat sich das auch ins allgemeine Bewusstsein eingeschlichen. Das ist schade. Oder finden sie all die Kunstbusen gut?
„Every Thing Will Be Fine“ ist alles andere als laut und knallig. Der Film zeigt zunächst den erfolglosen Schriftsteller, Tomas, der nur mit sich selbst beschäftigt ist und zwei Probleme hat: Ehefrau und Schreibblockade. Dann überfährt er unverschuldet einen Jungen. Diese Katastrophe macht aus ihm letztlich den besseren Schriftsteller.
…vielleicht letzten Endes auch den besseren Menschen.
Brauchen wir denn immer erst die Katastrophe? Die Krise als Teil bzw. Voraussetzung des kreativen Prozesses?
Aufs Große und Ganze gesehen würde ich sagen, ja. Lernfähig ist der Großteil der Menschheit nur durch den Ernstfall. Umdenken im Kleinen und im Großen ist ein Prozess, der auch im Ökologischen und Sozialen eigentlich eher durch Katastrophen passiert. Es hätte in Deutschland nie jemand den Ausstieg aus der Atomkraft hinbekommen, ohne die Katastrophe in Fukushima. Leider ist die Katastrophe oft die einzig mögliche Katharsis. Das sage ich nicht gern, aber de facto kann man sich dem nicht entziehen.
Welche Krise hat Sie zu einem besseren Regisseur gemacht?
Da gehörten sicherlich auch zwei Unfälle dazu. Autounfälle. Ähnlich wie Tomas hatte ich keine Schuld, sondern war versehentlich Beteiligter. Dazu gehörten durchaus aber auch private Katastrophen. Todesfälle. Das ist ja die Megakatastrophe schlechthin im Leben, wenn jemand stirbt, der einem nahe stand.
Im Film geht es auch um das Thema Schuld. Tomas geht anders damit um als Sara, die Mutter des verstorbenen Kindes. Sie sucht die Schuld bei sich, symbolisch sogar bei William Faulkner, weil sie Faulkner liest, als ihr Kind den Unfall vor dem Haus hat.
Die Mutter verbrennt das Buch von Faulkner. Eigentlich macht sie das nur, um mit Tomas, dem Mann, der ihr Kind überfahren hat, etwas zu teilen, um ihm klar zu machen: du bist nicht der Einzige, der sich hier Vorwürfe macht. Für mich ist Sara (gespielt von Charlotte Gainsbourg) die große Heldin von „Every Thing Will Be Fine“, wegen ihrer Großzügigkeit, oder Selbstlosigkeit. Tomas hingegen ist der absolute Gegenpart, jemand, der alles in sich hineinfrisst. Er versteht nicht mal dieses Zeichen, das Sara ihm sendet, richtig. Erst viel später beginnt er zu begreifen, dass er mit ihr und ihrer Familie für immer verbunden sein wird. Erst als er das akzeptiert, beginnt für ihn ein anderes Leben. Erst dann wird auch für ihn „alles gut werden.“ Im Grunde beginnt das für ihn aber erst in der letzten Szene des Films.
Tomas begreift Leid zunächst eher als Selbstmitleid. Vor dem Unfall war Tomas doch im Grunde eine ziemliche Heulsuse, ein Dandy mit Schreibblockade, der nichts zu schätzen weiß und zu allem Überfluss auch noch eine bezaubernde Frau an seiner Seite hat. Und plötzlich, durch den Unfall, hat er einen echten Grund zu leiden.
Er macht das, was unsere Kultur anbietet und was vor allem Männer immer zuerst versuchen: Er sublimiert. Frauen sind da anders gestrickt, gehen anders mit Trauer um. Sie sind oftmals viel bereiter, sich zu öffnen. Tomas macht alles mit sich selbst aus. Bei dieser Art der Verarbeitung ist ihm dann tatsächlich erst einmal das wichtig, was er daraus machen kann, nämlich Literatur, und weniger die tatsächlichen Menschen, denen das Unglück geschehen ist.
Inwiefern ist dieses Verhalten typisch männlich?
Er schüttet das Kind mit dem Bade aus. Tomas will sein Leben austauschen, ein anderer werden. Das funktioniert natürlich nicht. Die Frauen im Film müssen ihn mitunter ganz schön schütteln und sogar eine knallen, bis er auf den Trichter kommt. Ich würde sagen, das ist durchaus typisch. Männer gehören heutzutage öfter geohrfeigt als jemals zuvor. Ganz im Ernst. Die Lernfähigkeit der Männer braucht doch oftmals drastische Nachhilfe.
Wann wurden Sie das letzte Mal geohrfeigt?
Physischer Art ist das länger her. Die symbolische Ohrfeige nicht so lange.
Sie haben einmal gesagt: „Ein Film muss auf einer Erfahrung beruhen, sonst wird er eine pure Behauptung.“ Sie werden bald 70. An Erfahrung herrscht also kein Mangel. Im Grunde müssten Sie jetzt alles drehen können. Was können Sie heute machen, was Sie in jüngeren Jahren vielleicht nicht hätten machen können?
Eine Komödie. Das sage ich jetzt mal so leicht. Nachher wird es noch eingefordert... Aber die Voraussetzungen sind vielleicht nicht schlecht, wenn man sich vor Augen hält, dass die echt guten Komödien meist von eher ernsthaften Zeitgenossen gemacht wurden: Buster Keaton zum Beispiel. Mit dem hätte man nicht ausgehen wollen. Auch Woody Allen oder Tati waren keine Stimmungskanonen. Die Freiheit, etwas tun zu können, was man vorher nicht konnte oder sich nicht zutraute, die muss man sich tatsächlich erarbeiten. Nehmen Sie Clint Eastwood: Wie lange hat der Actionfilme gemacht, nach Formeln gestrickt. Ich hätte nie gedacht, dass der ein großer Regisseur werden würde. Und auf einmal legt der Mann los und macht Filme, bei denen man denkt: Wow! Der traut sich was! Ich sage nicht unbedingt, dass man im Alter alles darf. Aber manchmal muss man ganz schön schaufeln, bis man etwas freigelegt hat, was sich dann zu zeigen lohnt.
Das Interview führte Timo Stein
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muss man(n) auch nicht. Für mich oft bestes Einschlafmittel, die seichte Handlung in vielen Neuverfilmungen. Wenn nach kurzer Zeit keine Spannung mehr in der Handlung ist.
Aber es hat was, das Krisen den kreativen Teil aus dem Menschen herauskitzelt. Ist logisch untersetzt. Weil er hier gezwungen wird zu improvisieren bzw. auf ein Ziel selbst hinzuarbeiten.
»Die Leute bei dir«, sagte der kleine Prinz, »züchten fünftausend Rosen in einem Garten … und dennoch finden sie nicht, was sie suchen.« »Und doch könnten sie es in einer einzigen Rose oder in einem einzigen Schluck Wasser entdecken …« (Antoine de Saint-Exupéry/Der kleine Prinz)