Der Gartenzwerg beim deutschen Nachbarn
Auch ein Gartenzwerg im Gemeinschaftsgarten kann Nachbarn entzweien / picture alliance

Unser deutscher Nachbar - Der Fremde hinter der Rigipswand

Wo der Deutsche auf seinen Nachbarn trifft, da wird der Alltagskampf einsam – und existentiell. Da geht es Mann gegen Mann, am Jägerzaun und an der Garagentür. Die Beleidigung, die AfD-Vize Gauland dem Fußballstar Boateng entgegenschleuderte, ist für unseren Autor Anlass, das häusliche Miteinander einmal genauer zu betrachten

Autoreninfo

Reinhard Mohr (*1955) ist Publizist und lebt in Berlin. Vor Kurzem erschien sein Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, München).

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Der Deutsche ist, ganz wie bei Hegels Dialektik von Herr und Knecht, nicht ohne seinen Nachbarn zu denken. These, Antithese, Synthese (die allerdings meistens ausfällt). Der Nachbar ist immer der andere, ein geduldeter Mitmensch zwar, sogar ein Individuum, aber eben auch Gegner, Feind und Todfeind. Er ist ein Mensch wie Du und ich, aber er kann Dir das Leben, frei nach Jean-Paul Sartre, auch zur Hölle machen.

Deshalb kommt gleich nach dem Nachbarn der deutsche Nachbarschaftsstreit, wenn es sein muss, bis zur letzten Instanz, der Kampf Mann gegen Mann am Jägerzaun und an der Garagentür. Konfliktsoziologisch betrachtet verhält sich der Nachbar wie sein Gegenüber, Nebenan oder Obendrüber. Er mäht den Rasen, hört Radio Paradiso, trampelt unentwegt über Dir herum, telefoniert stundenlang laut auf dem Balkon und raucht Kette, hat Ehekrach oder Sex und brüllt seinen Sohn an. In seiner „Enzyklopädie der Alltagsqualen“ (Berlin, 2006) hat der Autor Hannes Stein vier Sorten von Nachbarn herauspräpariert: „Kleinliche Spießer, peinliche Barbaren, gefährliche Irre und stille Selbstmörder“.

Wir fügen hinzu: Es gibt auch den rätselhaften Störer, die lurchhafte Nervensäge, die eigentlich gar nichts Böses will, aber durch ihr bloßes Dasein als Sosein in der Lage ist, Mordgedanken auszulösen. Der Historiker Sebastian Haffner schilderte den Charaktertypus des „Zimmernachbarn“, der „Rätsel aufgibt“, vor vielen Jahren einmal so: „Wenn man etwa nachts davon erwacht, dass in seinem Zimmer gerollt wird. Ja, es ist ganz deutlich, nebenan ist das Geräusch einer kleinen Wäscherolle oder Druckerpresse zu hören. Man sieht nach der Uhr, es ist halb drei. Eine halbe Stunde geht das, dann hört es auf. Und in der nächsten Nacht wiederholt es sich. Falschmünzerei? Gymnastik? Neuartiger Hosenbügler? Spuk?“

Es kann natürlich auch, siehe Höxter, ein jahrelanges Folter- und Mordgefängnis sein, das da betrieben wird. Wenn die Sache herauskommt, sind die Nachbarn stets perplex und zutiefst erschüttert, wundern sich aber im Nachhinein schon, dass die Fensterläden fast immer geschlossen waren.

Hausordnung und Hausmeister
 

Um all dies zu verhindern, hat der deutsche Genius vor langer Zeit schon das Institut der „Hausordnung“ erfunden, ein ausgeklügeltes System von Regeln, dessen Einhaltung den ewigen Hausfrieden garantieren soll. Im gleichen historischen Atemzug entstand der deutsche Hausmeister, meist im grauen Kittel, mit schwerem Gang und einem ebenso gewichtigen Schlüsselbund, der noch aus den vierziger Jahren zu stammen schien, als auch noch Luftschutzbunker auf- und zugeschlossen werden mussten.

Damals freilich herrschte der Nazi-„Blockwart“ über halbe Straßenzüge, um Recht und Ordnung auch im Endkampf gegen den Russen aufrechtzuerhalten. Nach 1945 hatte er es verständlicherweise schwer. So musste sich der Blockwart wieder in die zivile Rolle des einfachen Hausmeisters einfinden, der sich nicht mehr auf Führerbefehle berufen konnte.

In der DDR arbeitete der Hausmeister mit der Stasi zusammen
 

In der DDR hatte sich derweil eine neue Berufsbezeichnung für die offizielle Beaufsichtigung des gutnachbarlichen Zusammenlebens durchgesetzt: Der „Abschnittsbevollmächtigte“, eine Art Hilfssheriff in allen Lebensfragen des real existierenden Sozialismus. Der „ABVler“ arbeitete auch mit der Nachbarschaftshilfe namens Staatssicherheit zusammen, denn klar, Wissen ist Macht. Soviel wusste die Arbeiterklasse schon immer, und Kontrolle muss sein. Das Blinzeln durchs Guckloch genügt da nicht mehr, auch nicht amateurhafter Klatsch und Tratsch auf dem Treppenabsatz.

Nach der Wende war dann guter Rat teuer. Da die „ABVler“ nicht unbedingt Sympathieträger gewesen waren, wurde ihre spezielle Qualifikation nicht mehr wirklich nachgefragt. Der eine oder andere fand sich dann als Sicherheitsmitarbeiter einer privaten Firma am Bauzaun eines Kraftwerks wieder, vor dem Demonstranten standen und unverständliche Parolen riefen.

Im Westen hatte, in der Folge von 1968, auch das Renommee des Hausmeister gelitten – hier und da taugte er nur noch als „reaktionäre“ Kabarettfigur mit Schnauzer und schwarzer Augenklappe –, so dass nun nicht einmal mehr im härtesten Winter Schnee geschippt und Eis gehackt wurde. Die postmoderne Gesellschaft kippt einfach einen Latte Macchiato drauf und zieht sich Spikes unter die Stöckelschuh, eine coole Vorgehensweise, die Berlins Partyobermeister Klaus Wowereit angeregt hat.

Im Nachbarschaftsstreit geht es eins gegen eins
 

Heute ist der Nachbar ganz auf sich gestellt. Die durchschlagende Liberalisierung der multikulturellen Gesellschaft hat dazu geführt, dass oft nicht einmal mehr die Polizei die Autorität besitzt, einen Nachbarschaftsstreit zu schlichten, zumal dann, wenn an ihm bis zu hundert Menschen beteiligt sind. Zwar steht der Gerichtsweg immer offen, doch im Alltagskampf, und nichts anderes ist Nachbarschaft zu weiten Teilen, ist man allein und verlassen in der existentiellen Auseinandersetzung mit dem Anderen, Fremden hinter der Rigipswand.

Wohl dem, der einen wirklich netten, klugen, angenehmen, hilfsbereiten und sympathischen Nachbarn hat – einen wie Alexander Gauland. Ein echter Ratgeber in schwieriger Zeit, ein Fels in der Brandung. Er bietet uns Orientierung und Halt. Er sagt uns, wer unser Nachbar ist und wer es vielleicht lieber nicht sein sollte – jedenfalls nach Meinung anderer Nachbarn, die er selbst gar nicht kennt, von denen er aber ahnt, dass es sie gibt.

Das ist zwar ein bisschen kompliziert, aber die Richtung stimmt. Misstrauen geht vor. Das aber ist die Maxime, die den deutschen Nachbarn im Wandel der Zeiten immer schon ausgezeichnet hat: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Zurück zur Fensterbank.

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