- Hausbesuch bei einem zeitlosen Erzähler
Siegfried Lenz ist tot. Er starb am Dienstag im Alter von 88 Jahren. Der Journalist Michael Jürgs hatte den Schriftsteller zu Lebzeiten in dessen Haus in Hamburg besucht. Es war eine Begegnung mit einem Mann, der den Ruhm nutzte, um Ruhe zu finden
In seiner »Mutmaßung über die Zukunft der Literatur« hat er mal geschrieben, dass Bücher die Existenz der Welt belegen. In ihnen seien die Erfahrungen der Menschheit gesammelt, in ihnen würden die Fragen nach dem Sinn des Lebens beantwortet. So ungefähr hatte ich die Passage aus diesem Essay in Erinnerung, und die schien mir ein guter Einstieg zu sein für das, was ich damals vorhatte – ihn zu befragen nach einem bestimmten Tag in seinem Leben, der für ihn existenziell war.Der Satz fiel mir auf, als ich vor dem Treffen mit ihm am Tag zuvor ein paar seiner Aufsätze las, ein paar seiner Texte für Vorlesungen an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität oder an einer der renommierten Universitäten der Vereinigten Staaten. Nur deshalb konnte ich mich fast wortgetreu daran erinnern.
Noch ein ziemlich guter Satz fiel mir ein, während ich durch den graunieseligen Vormittag fuhr, an dem der Nebel so tief hing, dass ich das andere Ufer der Elbe nicht sehen konnte. Die Schreibmaschine sei sein Psychiater, weil sie den ersetze. Ein Bekenntnis, das viele unterschreiben würden, die schreiben. Ich bekenne mich dazu, Mitglied dieses Clubs zu sein.
Es stammt allerdings nicht von Lenz, sondern von einem seiner frühen Säulenheiligen, von Ernest Hemingway. »Als ich selbst versuchte, ein Schriftsteller zu werden, bewunderte ich ihn fast widerstandslos.« Auch der wird eine Rolle spielen, als mir Lenz von einem Tag erzählte, der ihm unvergesslich geblieben ist. Ein höchst merkwürdiger Tag, doch für einen Dichter gar nicht merkwürdig, nur eben denkwürdig. Sonst hätte er ihn ja längst vergessen. Ein Tag, der so gar nichts zu tun hat mit einem Tag, wie er für andere Menschen wegen eines Falles von Liebe, Tod, Machtverlust unvergesslich geworden ist.
Es ist der Tag eines Dichters, und mit dem ihm eigenen Sinn für Ironie, fern jeder eben auch Dichtern eigenen Koketterie, hat ihn Siegfried Lenz als Tag ausgesucht, der sein Leben veränderte. Zugegeben: sein Dichterleben. Aber eben deshalb wird er eine Geschichte erzählen, die ihm an diesem Tag passierte, wie sie nur einem Dichter einfallen kann.
Hausbesuch bei Familie Lenz
Die Seitenstraße, in der er und seine Frau wohnen, versteckt sich neben einer lauten Hauptstraße. Einfamilienhäuser und große Gärten mit hohen Bäumen verschlucken deren Autogeräusche, bevor sie sich ausbreiten können. Ab und an dringen Nebelhörner durch die Luft. Der Strom, den er oft beschrieben hat, ist von hier aus nie sichtbar, auch an klaren Tagen nicht, aber immer sind seine Schiffe zu hören, tuckernd, dröhnend, tutend. Dieser Stadtteil, der zwischen dem nicht so feinen Altona und dem besonders feinen Blankenese liegt, gilt in Hamburg als eine bessere Gegend. Nachbarn kennen sich vom Grüßen, manche vom Reden über den Zaun. Man begegnet sich auf Augenhöhe, egal wie berühmt einer sein mag oder wie reich.
»Seit vierzig Jahren wohnen wir jetzt hier und sind immer noch zufrieden«, sagt Siegfried Lenz, nimmt mir den Mantel ab und wehrt Fragen nach Schmerzen in der Bandscheibe, die ihn schon lange plagen, gelassen ab. Darüber spricht man nicht, das erträgt man. Wenn er »Über den Schmerz« schreibt, geht es um einen anderen, um dessen Ausdruck in der Kunst, in der Literatur, auch um den des Schriftstellers, der immer wieder darauf hofft, auch von seinen Kritikern verstanden zu werden.
Das Haus hat Lenz 1964 gekauft vom selbst Verdienten, vom selbst Erschriebenen, unter anderen durch die Romane »Der Mann im Strom«, »Das Feuerschiff« und den Erzählband »So zärtlich war Suleyken«, eine luftige Hymne auf seine Heimat Ostpreußen, die damals für immer in einem unerreichbar fernen Land zu liegen schien. Was mit einer der Gründe war, dass er sich dieses Haus kaufte. Lenz wollte endlich wieder eine Heimat haben. Der Tag, an dem er den Kaufvertrag unterschrieb, ist aber nicht so wichtig, ein anderer Tag während des Umzugs war dagegen viel wichtiger.
Den Tag hat er sich gemerkt.
Er könnte sich heute nach vielen Romanen, insbesondere nach der »Deutschstunde«, die sich millionenfach verkaufte und in fünfundzwanzig Sprachen übersetzt wurde, hier eine große Villa leisten und da noch eine große und dort eine noch größere, aber Siegfried Lenz ist da glücklich, wo er ist. In diesem Haus, das unter den anderen in der Straße nicht weiter auffällt, nichts von sich hermacht, ähnlich wie sein Besitzer.
Eine Zeitung ohne Lügen
Vor allem ist der Dichter hier zufrieden, weil im ersten Stock seine Freunde wohnen. Im Sommer verlässt er sie regelmäßig für zwei, drei Monate. Dann fährt er hoch in den Norden, nach Schleswig-Holstein in sein Feriendomizil bei Rendsburg nahe der dänischen Grenze.
Nicht weit davon entfernt – im Land zwischen Nordsee und Ostsee ist allerdings kein Ort vom anderen weit entfernt – hat er am 8. Mai 1945 das Kriegsende erlebt. »Auf einer grünen Wiese in einem Dorf namens Witzwort bei Husum.« Dass es wirklich vorbei war mit dem Naziterror, erfuhr er aus einer englischen Zeitung. »Diesen Moment werde ich nicht vergessen, ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben eine Zeitung ohne Lügen in den Händen.« Gespickt außerdem mit Fotos, die bewiesen, dass Deutschland tatsächlich in Trümmern lag.
Er und seine Frau sitzen in ihrem nüchtern ausgestatteten Wohnzimmer, reden über die Zeiten, denen sie entronnen sind, und über die Zeiten, die sie zusammen verbrachten. Der Dichter stopft seine Pfeife, auf der Terrasse landet trotz Nebel ein Spatz, Liselotte Lenz dringt darauf, dass die Kekse aufgegessen werden.
Sie sind seit über fünfundfünfzig Jahren verheiratet. Es gibt außer ihrer Ehe noch ein weiteres gemeinsames Werk, ein kleines Buch mit Farbstiftzeichnungen von ihr und einem Text von ihm, Titel »Waldboden«, das ihre Freundin Loki, selbstständige Gattin des eisernen Kanzlers Helmut Schmidt, in der »Zeit« als ein Buch lobte, das »uns weit weg bringt von der Hektik des Alltags, weg von Lärm und Staub«.
Siegfried Lenz, im Frühjahr 1945 gerade mal neunzehn Jahre alt, beherrschte die Sprache der Sieger nicht nur leidlich, sondern gut. Die Lehrerin, die ihm sein gutes Englisch beigebracht hatte, traf er 1984 wieder. Sie war da schon älter als er heute, wollte aber unbedingt nach Lübeck fahren, als dort ihr ehemaliger Schüler den Thomas-Mann-Preis bekam.
Weil er dank ihrer Schulung besser Englisch sprach als andere, verdiente sich der Junge als Dolmetscher eine zusätzliche Essensration bei den Verhören im Camp der prisoners of war. Schlief aber wie die anderen auf der grünen Wiese unter freiem Himmel, der im Norden unendlich ist wie das Meer, in dem er sich bricht. Das Lager bei Husum war ein Sammellager. Obwohl seit der Nazizeit jede Assoziation mit Lager ganz andere Bilder wachruft, bezeichnet das Wort die tatsächliche Lage damals.
Es lagerten dort auf dem Gras und hinter Stacheldraht rund achtzigtausend deutsche Soldaten, die von den Engländern entwaffnet und hierher gebracht worden waren. Die Truppen, die auf Befehl ihres Führers Dänemark und Norwegen überfallen hatten, mussten nach der Kapitulation auf dem Rückmarsch über die deutsch-dänische Grenze kommen. Da wurden sie erwartet. Truppentransporter über die Ostsee in den Hafen von Kiel gab es keine mehr. Zumindest keine unter der Flagge mit dem Hakenkreuz.
Tag und Nacht umkreisten Panzerspähwagen den Zaun. Wer versucht hätte zu fliehen, wäre erschossen worden. Siegfried Lenz will nicht fliehen. Er hat gerade eine Flucht hinter sich und ist froh, die überlebt zu haben. Geflohen war er vor den Häschern der SS, weil er kurz vor Kriegsende den Befehl verweigerte, einen gleichaltrigen Kameraden zu erschießen, der sich als aufsässig gezeigt habe. Beide desertierten und versteckten sich in dänischen Wäldern, bis sie sich denen ergeben konnten, die sie nicht aufhängen wollten am nächsten Baum, den Engländern.
Der Neinsager
Das alles passierte kurz nach seinem neunzehnten Geburtstag im März. Da hatte er bereits zwei Jahre als Marinesoldat hinter sich, eingezogen nach dem bestandenen Notabitur. Kontakt mit seinen Eltern in Lyck, seiner Geburtstadt in Ostpreußen, gab es nicht mehr, aber dieses Zuhause in den Masuren gibt es schon lange nicht mehr.
Was er im Mai 1945 nicht weiß. Woher auch hätte er wissen sollen, dass Ostpreußen von den sowjetischen Truppen erobert worden war und Millionen Deutsche vertrieben wurden? Er erfährt es im Laufe des Frühjahrs aus einer Zeitung, wieder einer englischen, und nun weiß er zumindest, dass er auf sich allein gestellt ist, weil niemand in Lyck auf ihn wartet und er eh keine Chance hätte, sich auf den Weg dorthin zu machen. Er bittet auf Grund seiner Vergangenheit als Neinsager dennoch um baldige Entlassung und bekommt zum Abschied aus dem Lager ein offizielles release document, was wichtig war, denn »ohne dieses Dokument hätte ich wiederum keine Lebensmittelkarten bekommen können«. Die Stadt, in die es ihn jetzt zieht, heißt Hamburg, und die wird er nicht mehr verlassen, bis heute.
Er passt in die Stadt. Zu den Eigenschaften des Siegfried Lenz gehören Bescheidenheit, Höflichkeit, Verlässlichkeit, Understatement. Er hat sich stets lieber unters Volk gemischt als unter die, die es regierten. Er hat von seinem Ruhm nicht viel hergemacht, sondern ihn benutzt, um seine Ruhe zu genießen. Selbst dann, wenn er wem auch immer deutlich widerspricht, ist er stets leise. Anders als sein Freund Günter Grass, dem er treu verbunden ist seit gemeinsamen Wahlreden für die Es-Pe-De. Der andere, geboren nicht weit von Lenz in Danzig, wo man an klaren Tagen Königsberg sehen konnte, die Perle Ostpreußens, liebt mehr die lauten Töne.
Vor allem aber ist Lenz ein friedlicher Mensch. Er glaubt unverdrossen an diese Utopie, die Utopie von Frieden. Setzt diese Überzeugung von Leben und leben lassen nicht nur in politischen Reden ein. Mit einer verblüffenden Konsequenz: Vor Jahren schon hat er aufgehört, im Teich bei seinem Ferienhaus Karpfen zu fangen. Die werden seitdem nicht gefuttert, sondern gefüttert, und weil sie das Friedensangebot angenommen haben, schwimmen die klugen Fische inzwischen auf den ersten Pfiff hin offenen Maules Richtung Ufer.
Man kann sich einen solchen Menschen nicht recht vorstellen als Schwarzmarkthändler nach dem Krieg, als eine jener Schattengestalten im gesetzlosen Niemandsland, aber Lenz war so einer, denn von irgendwas habe man ja leben müssen. Kaum gibt es den ersten echten Schritt zur Überwindung der selbst verschuldeten Katastrophe, nach der Währungsreform die Deutsche Mark, beginnt Lenz mit dem Studium der Anglistik, der Literaturgeschichte und der Philosophie. Dabei trifft er zum ersten Mal einen der Freunde, die ihn fortan sein Leben lang begleiten, die über uns auf unseren Besuch warten.
Drei sind es eigentlich, die er in einem Atemzug nennt. Ernest Hemingway, der Journalist, der zum Schriftsteller wurde, der lakonische Sprachkünstler, der sich auf das Erzählen des Wesentlichen beschränkte und unverwechselbar wurde. Dann William Faulkner, der zwischen Raum und Zeit schwebte und die Menschen und Orte im amerikanischen Süden in seinen Romanen und Erzählungen beschrieb wie später Siegfried Lenz die in seinem deutschen Norden. Und John Dos Passos mit seinem »Manhattan Transfer«, der seinen filmischen Stil mit Schnitten und Blenden dem Rhythmus der beschriebenen Stadt anpasste, in dessen Roman alles gleichzeitig passiert und alles gleichermaßen ausweglos ist.
Die erste Anstellung im Feuilleton
Natürlich kann er sich die gebundenen Ausgaben der Bücher als Student nicht leisten, wovon auch, aber da gibt es ja diese geniale Erfindung des Verlegers Rowohlt — bisher unter den Nazis verbotene Literatur gedruckt auf billigem Papier, nicht fürs Regal gedacht, sondern ausschließlich für die endlich erlaubten Abenteuer im Kopf. In den Rowohlt Rotations-Romanen (rororo) entdeckt Lenz die Welt, die ihm fremd war und die ihm seitdem die verlorene Welt der Masuren ersetzt.
Er trifft seine Liselotte, die er 1949 heiratet, und das bestärkt ihn in dem Entschluss, das Studium nur noch nebenbei zu betreiben, schließlich ganz aufzugeben. Er braucht einen Beruf, mit dem Geld zu verdienen ist. Lenz folgt dem Vorbild Hemingways und will wie der Journalist werden. Er bewirbt sich um ein Volontariat bei der »Welt«, die unter der Obhut der Engländer in Hamburg erscheint, noch nicht zum Springer-Verlag gehört, bekommt es auch und wird danach als Jungredakteur im Feuilleton angestellt. Der Dienst beginnt nachmittags, da beugt er sich über Texte und Kurzmeldungen, vormittags schreibt er, in ein leeres Kontorbuch, liniert, an seinem ersten Roman. Sein Handschriftliches wird von Liselotte Lenz in eine Schreibmaschine gehackt, die aus den Beständen der untergegangenen deutschen Kriegsmarine stammt. Am Ende werden es dreihundert Seiten sein.
Das junge Paar wohnt in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Dort kochen sie, dort leben sie, dort empfangen sie Freunde, dort schreibt er »Es waren Habichte in der Luft«. Noch heute bewundert der alte die Konzentrationsfähigkeit des jungen Siegfried Lenz, die so weit ging, dass er nie in die Versuchung kam, »das auf dem Korridor trommelnde Kind unschädlich zu machen«.
Schauplatz der Handlung ist Finnland. Hauptperson ist ein Lehrer, der nach einem Machtwechsel vor den neuen Herren fliehen muss. Die Erlebnisse des jungen Siegfried Lenz auf der eigenen Flucht prägen die Stimmungen des im Roman Fliehenden, Angst und Depression, Erschöpfung und Lähmung. Doch er lässt die Geschichte im Ersten Weltkrieg spielen, entzieht sie so der eigenen Zeit und macht sie zeitlos. Die Nähe zu Hemingway ist erkennbar, aber Lenz ist erkennbar eigen. Sein erstes Werk wird in der »Welt« als Fortsetzungsroman abgedruckt. Es ist zwar ein Buch, aber doch kein Buch, denn einen Verlag hat der Debütant noch nicht.
Er weiß natürlich den Tag, an dem die Vorankündigung in der Zeitung erschien, verbunden mit einem Foto des dichtenden Jungredakteurs, es war ein Samstag und er saß im Zug von Frankfurt nach Hamburg.
Vom Zeitungshonorar, das »waren unbegreiflich hohe 3000 Mark, haben wir uns eine Schiffsreise auf einem Bananendampfer nach Afrika geleistet, danach war die Hälfte weg, und von der anderen Hälfte haben wir uns Möbel gekauft.« Darunter eine Bettcouch, die das bisherige Hauptmöbel, eine Munitionskiste, ersetzte. Die steht dann in einer anderen kleinen Wohnung, für den ersten Umzug hatte noch eine Schubkarre gereicht.
Liselotte Lenz hört ihm zu, während er erzählt, muss aber nicht darauf achten, dass er aus Versehen etwas durcheinander bringt, denn nach jedem zweiten Satz fragt er sie eh liebevoll, ob es so gewesen sei, und dann nickt sie.
Der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe bringt den Erstling mit einer Startauflage von 3000 Exemplaren zum Preis von 9,80 DM zu Ostern 1951 heraus. Als er sein erstes Buch in den Händen hielt, entkorkte »ich eine Flasche Samos, schweren Süßwein, den der Gemüsehändler schon für einsachtzig verkaufte. Wenn nicht das zweite, das dritte Glas wirkte wie ein verlässlicher Hammerschlag«, beschrieb Siegfried Lenz mal in einem Artikel für die FAZ diesen Moment des Glücks. In sechs Wochen werden 1600 Exemplare verkauft. Bei dem Verlag ist Lenz bis heute geblieben. Auch Treue gehört zu seinen Eigenschaften.
Wurzeln schlagen
Zum Leben reichte es jetzt, der freie Schriftsteller Siegfried Lenz, bald gerühmt als eine literarische Nachwuchshoffnung, kündigte seine feste Stellung, schrieb Hörspiele und Bücher, hatte viel zu lesen und wenig zu klagen, und die Wohnungen, in denen sie zur Miete wohnten, wurden größer.
Aber der durch den Krieg entwurzelte Ostpreuße brauchte nicht nur eine gefühlte Heimat, die er in Hamburg ja gefunden hatte, er wollte Wurzeln schlagen. Liselotte und Siegfried Lenz suchten ein Haus für immer, und sie fanden es in jenem Vorort, in dem ich durch den Nebel gefahren bin.
Über den Kaufpreis war schnell Einigkeit erzielt. Für die Differenz zwischen dem, was er hatte, und dem, was fehlte, bürgte sein Verleger Kurt Ganske. War dem keiner großen Rede wert, nur eine selbstverständliche Geste unter Freunden.
Das Haus ist nicht renoviert worden vor ihrem Einzug, ja: es war ihnen nicht mal besenrein übergeben worden. Auf den Böden lagen noch verblichene Erinnerungen des Vorbesitzers, Familienfotos aus zwei Generationen, braunstichig, verwelkt, mit Füßen getreten.
Vor allem die Umzugsleute traten drauf, denn sie hatten keine Zeit, mit den schweren Bücherkisten auch noch Ballett zu üben, um keinem ins Gesicht zu treten. Die Bücher sollten nach oben in den ersten Stock gebracht werden, dort wollte sie der Hausbesitzer in Regale ordnen. Er freute sich darauf.
Halt, sagte da der Architekt, der auch ein Statiker war, diese Last hält das Haus nicht aus, diese niedergeschriebene Existenz der Welt. Der Mann hieß doch Schultz?, fragt Siegfried Lenz und Liselotte Lenz nickt.
Eine unruhige Nacht ist die Folge.
Am Tag danach, es war der 17. September 1964, wacht Siegfried Lenz auf und weiß, was zu tun ist: »Ich ließ T-Träger einbauen als Stütze für die Bibliothek im ersten Stock.« Noch etwas wusste er an diesem Morgen: »Die Bücher werden geographisch geordnet. Erst meine amerikanischen Freunde, dann die westeuropäischen, dann die alte deutsche Literatur, dann die deutsche Gegenwartsliteratur, dann meine Freunde aus Russland und dann die aus Polen und so weiter.«
Kein Wunder, dass ein Dichter einen solchen Tag nie vergisst. Der war wichtiger als viele andere. Den Tag, an dem man ein Buchregal bekommt, zu einem existentiellen Tag zu erklären, ist nur einem Dichter erlaubt. Er ist nie allein, wenn er oben sitzt und schreibt. Er ist stets umgeben von vertrauten Freunden. Wir gehen die Treppe hinauf nach oben, und Siegfried Lenz, der mit vielen eigenen Büchern unter ihnen steht, stellt sie mir vor.
Dann bringt er mich zum Gartentor, winkt mir zum Abschied freundlich zu und geht langsam zurück ins Haus. Er wird schon erwartet.
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Der Tag danach: Wenn das Leben über Nacht nicht mehr ist, wie es gestern noch war – von Michael Jürgs, Taschenbuch, 13. November 2006, 368 Seiten, Goldmann Verlag. Ron Sommer, Peter Scholl-Latour, Rudolf Scharping, Katrin Krabbe, Friede Springer, Herbert Grönemeyer u.v.a. geben zum Teil erstmals Einblick in ihren „Tag danach“.
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